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Sechstes Kapitel

Salve Regina und die Brüder der Mutter Gottes

Ich erinnere mich noch meines ersten Kirchganges mit der Mutter an einem Samstagnachmittag zu einer Marienandacht. Am Schluß intonierte der Priester laut: Salve Regina, und das Volk betete: Gegrüßet seist du Königin, Mutter der Barmherzigkeit. Auf dem Heimweg sagte ich zu meiner Mutter: Warum hat dich der Pfarrer angeredet, als wir beten sollten?

Später hörte ich die Worte Salve Regina viele hundert Male in der Kirche anstimmen, und ein unbeschreibliches Gefühl durchrieselte mich jedesmal: es war etwas wie Hochmut in mir, daß ein Gebet der Kirche mit dem Namen meiner Mutter anfing. Aber an seinem Glauben, daß es in der Welt kein schöneres Antlitz geben könne als das der Mutter Regine, wurde der kleine Alexander eines Tages irregemacht.

Beim Nachbar Rotermund war's, dem Korbmacher und Dorfmusikus, in dieser Stube, wo ich ein- und ausging, seitdem ich überhaupt meine Beine gebrauchte, wo ich dem Handwerk zusah und an den abfallenden weißen Rutenspitzen mich selber spielend in der Kunst versuchte, während der kahlköpfige Meister mit der hochrückigen und seltsam geradeausstehenden Nase und einem Mund, der immer wie zum Blasen oder Pfeifen gespitzt schien, eine Rute nach der andern ins Gitter flocht.

Hier gewahrte ich einmal an der Wand, im vergoldeten Rahmen, zwei Frauenbildnisse, Photographien, die neu aufgehängt waren und im höchsten Grade meine Aufmerksamkeit erregten. Sie hingen für den sechsjährigen Knirps zu hoch; ich erkletterte deshalb mit Hilfe eines herbeigeschafften Stuhls den Tisch und gelangte so in unmittelbare Nähe der fremdartigen lockenden Erscheinungen. Lange saß ich in stummem Betrachten. Dann trat die vierjährige Olga an den Tisch heran, zu dessen Höhe sie kaum emporragte, und das kleine Ding erklärte mir mit noch kindlich unbeholfener Sprache, das sei ihre Göte.

»Welche?« fragte ich.

Die Kleine spreizte an ihrem molligen Händchen den Zeigefinger aus und deutete nach einer von den beiden Tafeln. Meine Augen folgten.

»Du hast aber eine schöne Göte,« versetzte ich voll staunender Bewunderung; »und wer ist denn die andere Frau?«

Das Mädchen antwortete mit seinem eigenen Namen.

»Du bist nicht gescheit«, entgegnete ich lachend.

Doch das vierjährige Korbmachertöchterlein sah mich mit den großen Kinderaugen ernst an und sagte ruhig:

»Sie heißt auch Olga, sie ist aber schon groß; und sie ist eine Königin, meine Göte ist bei ihr, und wenn ich größer werde und meine Göte besuche, darf ich sie sehen. Da werde ich ihr sagen, daß ich auch Königin sein will.«

Diese Rede machte mich nachdenklich. Ich sah die kleine Olga auf einmal mit anderen Augen an; ich zweifelte nicht, daß sie eines Tages eine Königin sein werde.

Zu Hause erzählte ich mein neues Erlebnis. Ich hätte die Göte der Olga gesehen, und die sei so schön, und auch die Königin hätte ich gesehen, von der die Olga den Namen habe.

»Ist es wahr, wohnt die Göte in einem Schloß?« fragte ich.

»Freilich, im Schloß der Königin«, antwortete die Mutter.

Ich wußte nun genug, ich ging zur Hintertüre hinaus über den Rasen, und am Rande des Haselbachs, wo die Weidenröschen blühten und die hohe Wasserminze, setzte ich mich auf meinen Lieblingssitz, auf den morschen Stumpf eines abgefaulten Weidenbaumes, und suchte mir vorzustellen, was ein Schloß sei und eine Königin darin und eine Göte bei ihr. Und ich wünschte mir, die schöne Göte bei der Königin möchte auch meine Göte sein, daß ich sie auch besuchen könnte wie die Olga.

Als der kleine Alexander die Stube verließ, sagte der Schneidermeister Jakob Schmälzle zur Mutter Regine: »Der Sinn des Buben steht nach dem Hohen und Vornehmen, der ist in seinem Herzen kein Hinterwinkler, das freut mich.«

Aber derartige Reden ihres Mannes mißfielen der Mutter und erfüllten sie oftmals mit stiller Bekümmernis. Sie klagte: »So kannst du denn gar nicht von deinen Narrenspossen lassen und mußt auch dem Kinde deine Mucken in den Kopf setzen?«

Die »Göte«, wie Olga sie nannte, stellte einigemal ihren Besuch in Aussicht, und die kleine Olga lebte dann wochenlang in freudiger Aufregung, die sich auch auf mich übertrug, so daß wir zusammen von nichts anderem redeten als von der Ankunft der Göte, die bei der Königin wohnte und die auf diese Weise in unserer gemeinschaftlichen Kindheit so etwas wie die Rolle einer unsichtbaren gütigen Fee spielte, mit der wir einen um so innigeren Kult trieben, je mehr sie in nebelhafter Ferne für uns blieb, deren Realität aber doch durch die Geschenke, die sie ihrem Patenkind von Zeit zu Zeit schickte, genügend verbürgt war.

Während aber nun unsere Hoffnung, die Unsichtbare einmal von Angesicht zu Angesicht schauen zu dürfen, sich nie erfüllte, kam eines Tages ein anderer Besuch, ein ganz unerwarteter, der unseren Phantasiespielen für einige Zeit eine neue Richtung gab.

Es war ein Tag im September, die kleine Olga Rotermund und ich vergnügten uns am Bach hinter dem Hause, wo wir uns einer höchst angenehmen Beschäftigung hingaben, der wir um diese Zeit öfter oblagen.

Einige Schritte oberhalb der Mündung des Mühlenkanals in den freien Bach bildete dieser an dem entgegengesetzten Ufer eine stattliche Ausbuchtung in die Wiesen hinein, wo das Wasser sich staute und mit dem Wasser tausend Dinge, die darin schwammen. In der Regel waren dies dürre Reiser und abgewelkte Laubblätter, wie sie von den Bäumen ins Wasser fielen. Solche Blätter, in gelben, roten und braunen Farben, schoben sich oft in großer Menge hier zusammen, eins hart ans andere gerückt, daß sie wie ein über den Wasserspiegel hingebreiteter scheckiger Teppich aussahen.

Heute aber waren nun gar köstliche Edelsteine in den Teppich gewoben, nämlich blutrote Himbeeräpfel, die weiter oben von des Müllers Baum fielen und hierher schwammen wie in einen sicheren Hafen. Mit leichten Bohnenstangen bewaffnet, bemühten wir uns, das verlockende Strandgut an unsere Küste herüberzulotsen.

Wir gaben uns der löblichen Sache mit solchem Eifer hin, daß wir das Rufen meiner Mutter überhörten, die in den Grasgarten herauskommen mußte, um sich mir vernehmbar zu machen.

Ein fremder Vetter sei da, ich solle sogleich hineinkommen.

Herzklopfend warf ich meine Bohnenstange beiseite, und die ganze Lotserei im Stiche lassend, lief ich gegen das Haus. Doch nur ein paar Schritte, dann fiel mir Olga ein, und ich sprang zurück und führte das Mädchen an der Hand mit mir.

So traten wir beide zusammen in die Stube mit benetzten Kleidern, mit von Wind und Wasser geröteten Händen. Die erbeuteten Himbeeräpfel hatten wir draußen im Gras liegenlassen. Nur Olga hielt einen angebissenen in der Hand.

Unter der Türe hielten wir uns scheu und ängstlich zurück. Der Vater war auswärts, bei der Mutter aber, mitten im Zimmer, standen zwei Männer in langen schwarzen Röcken und hielten hohe röhrenförmige Hüte vor sich in der Hand. Beide waren bartlos, der eine hager, hoch aufgewachsen, mit abgemagertem spitzigen Gesicht, der andere von untersetzter Gestalt, breitschultrig, mit vollen Backen. Auf diesen deutete meine Mutter.

»Das ist der Herr Vetter Pankraz,« sagte sie, »komm, Alexander, und küß ihm die Hand.«

Ich küßte statt dessen meine eigene sprüngige Pfote und legte sie mit verlegenem Gesicht in die schwammig feuchtwarme Hand des fremden Mannes.

Er mußte lachen. Dann sagte er etwas zu seinem schwarzen Genossen, der ihm mit längeren Worten erwiderte, die mir aber keine Worte schienen, sondern sinnlose Silben, mit großer Schnelligkeit hervorgesprudelt, daß ich erschrak und den Mann ansah. Wir Kinder hatten das auch schon geübt, wenn wir im Spiel Franzosen vorstellten, von denen wir wußten, daß man sie nicht verstehen könne. Wir nannten das »welschen«. Nun welschten da ernste Männer. Mir dünkte es unbegreiflich, wie man so etwas verstehen möchte.

Der fremde Mann fragte mich darauf, ob ich auch schon beten könne, und ließ mich ein Gebet hersagen. Dann zog er ein dickes Buch aus seiner hinteren Rocktasche; darin lagen viele farbige Bildchen, und er gab mir eines davon. Dies sei mein Patron, der heilige Alexander, sagte er freundlich.

Ich betrachtete meinen Heiligen mit strahlenden Augen, und er gefiel mir sehr. Er war auch recht phantastisch aufgeputzt. An den Füßen trug er Schuhe aus Eisenringen mit gewaltigen Sporen, und daneben lag ein zu Boden gefallener Helm mit mächtigem bunten Federbusch. Um die Schultern hing ihm ein weiter Mantel mit goldigen Spangen, gleich dem blumigen Chormantel, womit unser Pfarrer bei der festtäglichen Vesper bekleidet erschien. Sein Haupt aber überragte hoch eine goldige zweispaltige Mütze, und in Händen hielt er, in der Rechten ein Schwert, in der Linken einen hohen krummgebogenen Stab.

Wie der fremde Vetter meine Freude an dem Bild gewahrte, sagte er: »Du scheinst ein frommes Kind zu sein, darum sollst du noch ein Andenken von mir haben.«

Und er nahm aus seiner Westentasche ein schmutziges Papier mit einem kleinen runden Gegenstand darin und drückte mir's in die Hand. Dann nahmen die schwarzen Fremdlinge Abschied, wobei ich ihnen wieder meine wetterrauhe Hand reichte, die ich vorher geküßt hatte.

Ich aber zerriß die schmutzige Papierhülle, und ein großes blitzendes Goldstück kam daraus zum Vorschein.

So meinte ich. Es war aber ein funkelnagelneues Doppelsoustück mit dem Bildnis des ebenfalls noch funkelnagelneuen Franzosenkaisers.

Mein Glück war unbeschreiblich. Aber nun erinnerte ich mich an Olga. Niemand hatte ihr etwas gegeben oder auch nur das Wort an sie gerichtet. Meine Mutter, von dem unverhofften ehrenvollen Besuch auch ein wenig aus ihrer sonstigen Besonnenheit herausgerissen, war diesmal dem naturgesetzlichen mütterlichen Egoismus vollständig erlegen und hatte wie ich die Freundin – über dem eigenen das fremde Kind vergessen.

So stand Olga halb abgekehrt an der Türe und zupfte an ihrem Schürzchen. Und eben, als mein glückstrahlender Blick auf sie fiel, wollte sie mit verhaltenen Tränen heimlich hinwegschleichen. Ich lief auf sie zu und rief: »Da, Olga, du darfst auch sehen, was ich bekommen habe.«

Mit einem Tone kamen meine Worte heraus, als ob ich damit ein Königreich verschenkt hätte.

»Ich muß jetzt heim«, wollte das Mädchen, sich abkehrend, antworten, aber der Satz blieb ihr in der Kehle stecken. Sie konnte sich nicht mehr halten und fing laut zu schluchzen an.

Die Gute mochte denken, daß ihre Göte, die bei der Königin wohnte, wenn sie zu Besuch gekommen wäre, sich anders gegen mich benommen haben würde als dieser Vetter Pankraz gegen sie.

Wir hatten oft genug von jenem Besuch gesprochen und immer nur in dem Sinne, daß wir beide dabei reichlich beschenkt würden; anders konnten wir's uns nicht denken. Mir dämmerte deshalb ein Verständnis auf für Olgas Schmerz, ich stand erschrocken, aber ratlos.

»Warum hat die Olga nichts bekommen?« fragte ich die Mutter, die wenig darauf zu sagen wußte.

Ich aber betrachtete prüfend meine Herrlichkeiten, indem ich sie, den bunten Heiligen in der Linken, den blinkenden Imperator in der Rechten, vor mich hinhielt, dann reichte ich mit raschem Entschluß der betrübten Freundin den bischöflich-ritterlichen heiligen Alexander hin und sagte stolz: »Da, ich gebe dir mein Bild.«

Ein freudiger Strahl brach aus Olgas Augen. »Nein, Alexander,« rief die Mutter, »du hast deinen heiligen Namenspatron erhalten, daß du zu ihm betest, den darfst du nicht weggeben.«

Dieses Verbot tat mir aufrichtig leid, und die Mutter mochte mir das ansehen.

»So gib halt der Olga deinen Gulden«, sagte sie leichthin.

Wehmütig betrachtete ich den blitzenden Napoleon und murmelte so etwa wie: »Ich gebe aber den goldenen Kreuzer nicht gern her.«

Meine Mutter blickte mich ernst an.

»Kind,« sprach sie, »nicht alles ist Gold, was glänzt.«

Das verstand ich nun nicht, und zum erstenmal in meinem Leben wurde ich meiner Mutter ungehorsam. Ich bestand darauf, der Olga meinen Heiligen zu geben. Dabei blieb es, trotz des heimlichen Kummers, den ich meiner Mutter von den Augen ablas; denn mit innerem Schrecken glaubte die Gute zu erkennen, daß ihr Kind doch nicht so fromm sei, wie sie immer gemeint, und sie sah es im Geiste schon kommen, wie ich einst die höheren geistigen Güter verachten und mein Herz an das Gold und den sonstigen Flitterkram der Welt verlieren werde.

Über den unerwarteten Besuch aber hatte ich an jenem Tage meine Mutter viel zu fragen. Ihre Antworten machten mich jedoch nicht viel klüger. Ich erfuhr, daß der Vetter aus Eschelbrunn stamme, wo meiner Mutter weitläufige Verwandte lebten, zu denen auch der Herr Pankraz Schmälzle gehörte. Der sei aber jetzt weit draußen in der Welt, in einem Kloster, mit vielen anderen heiligen Männern zusammen. Man hieße sie Marienbrüder, Brüder der Mutter Gottes.

Und ich dachte, wenn mein Vetter ein Bruder der Mutter Gottes sei, da müsse ich mit dieser himmlischen Frau gleichfalls verwandt sein, was ich mir gern gefallen ließ.

Meinen »goldenen Kreuzer« betrachtete ich täglich mit viel Wohlgefallen, drehte und wendete ihn in meinen roten Händchen und zeigte ihn jedermann und machte mich groß damit. Und dann wickelte ich ihn wieder in sein Papierchen und versteckte ihn in der Truhe meiner Mutter in der hintersten Ecke zwischen schadhaft gewordenen gehäkelten Handschuhen, alten Rosenkränzen, verschiedenen Bündeln von Stoffabfällen und anderem Geschnipsel.

Eines Tages jedoch erschrak ich. Der Kreuzer war gar nicht mehr goldig. Er leuchtete und glitzerte nicht mehr, sondern war trüb und braun angelaufen. Und wieder eines Tages, ich mußte ihn wohl naß gemacht haben, war er ganz mit graulich grünen garstigen Flecken bedeckt, die nicht mehr weggehen wollten. Mir stand das Weinen nahe.

»So geht es mit der Herrlichkeit dieser Welt«, sagte meine Mutter, fast mit einem Ton von Schadenfreude, mich so bestraft zu sehen dafür, daß ich das geweihte Bild meines großen Namensheiligen für ein elendes Ding hergegeben, allein wegen seines eitlen Glitzern und Glänzens.

Da ahnte ich aber noch nicht, daß auch der Herr Vetter, als ich ihn später wiedersehen sollte, ebenfalls wie sein schäbiger »Napoleon« schimmelig geworden sein würde in meinen Augen.


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