Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Ein Erntetag und sein Abschluß

Die nächste Zeit verging mir sehr angenehm. Ich lebte in dem Hochgefühl meiner großen Erlebnisse. Ich sonnte mich in dem Nimbus, den die Fama um mich wob.

Leider sollte ich bald erfahren, daß ein Nimbus aus sehr wenig haltbarem Stoff gewoben sein kann.

Die Ernte war in vollem Gange, die Weltgeschichte stand still, wenigstens in Hinterwinkel. Die Politik schwieg.

Die Leute wollten noch ebensowenig preußisch werden wie vor sechs Wochen; aber sie wiederholten es nicht mehr so oft. Sie lebten wegen dieser Sache zwar in der größten Ungewißheit, die sie sehr ängstigte, trotz ihrer unerschütterlichen Hoffnung auf Napoleons Einschreiten, dem man als Preis dafür »das Strumpfbändelländle da drübe«, nämlich das Großherzogtum Baden, gern gegönnt hätte; die Ernte aber konnte man deswegen nicht im Stich lassen. Man war ohnehin spät daran.

Da gab es keinen Arm in Hinterwinkel, der nicht in Anspruch genommen worden wäre.

Sogar meiner schwachen Kraft wurde nachgefragt. Der Füllentoni wollte Dinkel heimfahren, und ich sollte beim Garbenbinden die Strohbänder legen. Das war eine Tätigkeit, die man sonst Kindern übertrug, wenn sie zur Hand waren. Als ein Kind wurde ich betrachtet, trotz meines neugebackenen Ruhms.

Bei dem Füllentoni mußte man sich tüchtig rühren und flink und fleißig zugreifen.

Ich glaubte aber mein Geschäft in aller Behaglichkeit verrichten zu können. Gemütlich schleppte ich meinen Strohseilerbund hinter mir her, zog Strohseil um Strohseil gemächlich heraus und breitete die Bänder über den Stoppelboden, eins ans andere in fortlaufender Linie, immer Strohband an Strohband. Zwei Mädchen rafften mit ihren Sicheln das Getreide zusammen und häuften es, je drei Arme voll, quer über die vorgelegten Bänder. Der Bauer kam dahinter her und band. Er nahm die Enden der Strohseile vom Boden, er drehte zuerst das eine und klemmte es zwischen die Knie; dann drehte er das andere, dann zog er beide übers Kreuz an, indem er das Getreide mit dem Knie festdrückte; endlich wickelte er die beiden Enden um sich selbst und klemmte sie mit einem hölzernen Nagel unter das angezogene Seil.

So band er Garbe um Garbe, so schnell die Mägde zusammenrafften.

Dasselbe geschah in einiger Entfernung, wo andere Mägde zutrugen und der Knecht die Garben band. Dort legte der elfjährige Sohn des Füllentoni, der Kilian, die Strohseile.

An diesem jungen Füllentoni zappelte alles. Jedesmal, wenn er ein Seil legte, bückte er sich bis auf den Boden, um es schön »kerzengrade« auszustrecken. Er tat das auf eine Art, als ob er das Strohband dabei streicheln und liebkosen wollte.

Ich verhielt mich viel kälter gegen die störrigen Strohzöpfe. Das Bücken erachtete ich für höchst überflüssig. Ich ergriff mein Seil an dem einen Ende, warf mit einem zierlichen Schwung das andere Ende vor mir hinaus auf den Boden und ließ den festgehaltenen Teil zu meinen Füßen niedergleiten. Das Strohband kam so nicht immer in eine mathematisch gerade Streckung. Es bildete vielmehr, zur Abwechslung, bald eine Kurve, bald einen mehr oder weniger stumpfen Winkel. Ich sah darin kein Unglück.

Der Füllentoni sagte lange nichts. Aber er warf mir wütende Blicke zu. Endlich konnte er's nicht mehr verbeißen. »Kerl, dir kann man nicht zusehen!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Rühr' dich besser oder ich jag' dich zum Kuckuck.«

Ich konnte den Zorn des Bauern nicht begreifen. Wenn ein Band bereit lag, so oft die Mägde dessen bedurften, mehr konnte er doch nicht verlangen. Und es konnte ihm gleich sein, ob ich mich dabei mehr oder weniger rührte.

Ich ließ mich deshalb nicht aus meiner Art bringen.

Ich hatte noch anderes zu tun als Strohseile zu legen. Die Lerchen schmetterten über mir im wolkenlos blauen Himmel, ich mußte von Zeit zu Zeit auf sie hören. Sie waren ja meine Kolleginnen. Ich dachte, wenn ich es nur auf meiner Klarinette so gut könnte. Oder gar auf der Geige. Wegen meiner Vielseitigkeit erhielt ich aber in Hinterwinkel mehr Tadel als Lob. Man hielt das alles für höchst unnötig, »was doch zu nichts führe«. In Hinterwinkel galt nur die bäuerliche Tätigkeit für Arbeit. Alles übrige war Allotria.

Ich beneidete darum die Lerchen. Sie waren glücklicher. Sie durften musizieren wie sie wollten; ihnen sprach niemand von brotloser Kunst. Sie brauchten auch keine Strohbänder zu legen.

Und weiter drüben im Felde, inmitten noch unberührter Saaten von silbergrauem Spelz und dunkel goldbraunem Stachelweizen, lag eine sogenannte Steinmauer von hoher Hecke umschlossen, von einem alten Nußbaum überschattet. Und auf dem Nußbaum saß ein Hähervogel, einer mit dem himmelblauen Spiegel in den Flügeln, und er rief in einem fort: »Komm her, komm her!« Ich konnte jedoch nicht hinkommen.

Aber ich mußte oft zu ihm hinübersehen. Es half nichts, daß der Füllentoni mir immer grimmigere Blicke zuwarf.

Ich sehe den Bauern noch heute vor mir, ich sehe ihn die Zähne fletschen, indem er auf die Garbe kniet und das Strohband anzieht; ich sehe ihn seine Augen starr auf mich richten, während er anhält und eine Prise nimmt.

Eigentlich gab er mir kein gutes Beispiel. Denn er schnupfte ein wenig zu oft. Fast aller drei Garben. Und aus der Westentasche schnupfte er wie der Alte Fritz.

Inzwischen rief der Nußhäher drüben immerfort: »Komm her, komm her!« Und ich dachte, wie schön es sein müßte, wirklich hinzukommen.

Aber ich dachte auch noch anderes. Ich dachte sogar an Dinge, die mir bis zu dieser Stunde noch niemals eingefallen waren.

Von den zwei Dirnen, denen ich die Strohbänder vorlegte, hieß die eine Cölestine Bächle. Sie war ein hübsches Mädchen und strotzend von Gesundheit und Kraft. Der Hitze wegen hatte sie ihre Jacke abgelegt, und ihr rotes Mieder hatte sich mit seinen Achselhaltern ausgehenkt und hing ihr über die Hüften herunter. Das grobleinene Hemd ging zwar bis zum Hals empor und war dort mit Bändern zugeknüpft; aber durch den klaffenden Spalt schimmerten Formen, auf die ich zum erstenmal in meinem Leben aufmerksam wurde.

Hübsche Mädchen hatte ich schon lange gern gesehen. Aber ich sah an ihnen nur das Gesicht. Nie war mein Blick bis unter das Kinn gegangen. Einmal zwar, mit acht oder neun Jahren, hatte ich eine Bauerntochter gefragt, die bei meinem Vater nähte, warum ihre Brust so bausche. Sie lachte. Sie hätte sich Lumpen vorgestopft, um nicht zu frieren. Es war aber im Juli und ein heißer Tag. Sie solle mich doch einmal die Lumpen sehen lassen. Und ich wollte mit der Hand zugreifen, um selber zu untersuchen. Aber die Dirne lachte noch mehr und klopfte mir mit der Schere auf die Finger.

Damit war meine Neugierde in dieser Richtung auf lange geheilt.

Es klingt fast unglaublich, wie lange ich dumm blieb in diesem Punkt – und dem andern. Ich erinnere mich noch wie heute eines merkwürdigen Vorfalls von ungefähr einem Jahr früher. Und just drüben bei der genannten »Steinmauer« unter dem uralten Nußbaum war es. Und war Sonntag zur Zeit Johannis und der Rosenblüte. Über die Felder her, zwischen rotblühendem Esparsetteklee, kam ich an die Steinmauer, um mir dort aus den hohen Hecken für die Fensterblumen meiner Mutter einige Stöcke zu schneiden. Und nicht nur schneiden wollte ich sie, ich wollte sie auch gleich kunstreich herrichten. Denn da jetzt alles in üppigem Saft stand, alles Gesträuch und Gewächs, machte man das so: Man zog mit dem Messer spiralige Linien die Stöcke entlang, worauf man je zwischen zwei Linien die Rinde entfernte und zwischen zwei andern sie stehen ließ, wodurch dann die Ruten wie gemalte Fahnenstangen in braunen und weißen Spiralen prangten.

Die altbemoosten Steine unter dem Nußbaum deuchten mir ein lieblicher Ort und Sitz zu sein für diese kunstreiche Verrichtung. Aber ich sollte für diesmal nicht dazu gelangen. Ich fand den Platz schon eingenommen von einem halben Dutzend Buben aus dem Dorf, lauter ehemalige Schulkameraden, mit denen ich die Ostern zuvor zum ersten heiligen Abendmahl gegangen oder konfirmiert worden war, wie die Evangelischen sagen. Nur einer war darunter, der um ein Jahr oder zwei älter sein mochte. Um ihn saßen die andern im Halbkreis. Aber so verdutzte und verlegene Gesichter, womit diese Knaben dreinschauten, als ich plötzlich unvermerkt in einer Lücke der blühenden Hecke auftauchte wie eine Erscheinung, hatte ich im Leben nicht gesehen. Besonders einer wurde, indem er flüchtig etwas an seinen Kleidern ordnete, wie ein gesottener Krebs rot im ganzen Gesicht.

Eine peinliche Stille war entstanden, und ich fühlte instinktiv, daß es das beste wäre, mich ohne weiteres zurückzuziehen. Der Zuruf eines Gutmütigen hielt mich davon ab.. »Komm nur heran, Lexel,« rief er, »wir beißen dich nicht.«

»Darf der Lexel zuhören?« fragte ein anderer, und die Frage war an den Großen gerichtet, um den sie alle herumsaßen.

»Dieser Lexel? Nein, nein. Er soll machen, daß er wegkommt.«

»So laß ihn doch, Lenz, was macht's denn«, bat der Gutmütige.

Und der Große hingegen: »Der Schneiderbub soll machen, daß er fortkommt«, sag' ich.

»Du wirst dich doch vor dem dummen Lexel nicht genieren?« meinte ein Dritter.

»Genieren her, genieren hin,« rief der Große; »ich will's einfach nicht. Dieser Maulaff weiß ja von nichts und nichts. Das ist das reinste Wickelkind. Wenn das was in die Windeln macht, gibt's ein Gestank. Hast gehört, Lexel; mach', daß du fortkommst, allahopp!«

Ich ließ mich nicht zweimal auffordern, ich trottete mich. Und nun sagt doch, ob dieser verwahrloste, rohe Dorfbursche nicht besser beraten war und wahrlich mehr gesundes Gefühl, ja Feingefühl offenbarte, als mir die närrischen Leutchen von heute zu haben scheinen, Philanthropen und Philanthropinnen mit ihrem schleimigen Gerede von der sogenannten sexuellen Aufklärung.

Jedoch, ich kann mich irren. Ich gehöre eben, scheint es, in mancher Hinsicht auch heut noch nicht zu den Aufgeklärten.

Aber auf dem Acker des Füllentoni damals, wo ich der drallen Cölestine Bächle die Strohbänder vorlegte, da kam doch so etwas wie Erkenntnis über mich. Und wie mit einem Schreck fiel's mich an. Denn so oft Cölestine sich zu Boden bückte, um mit der Sichel das in Schwaden gelegte Getreide aufzuraffen, klaffte immer der Spalt ihres groben Hemdes weit auseinander.

Wirklich, es war ein Erschrecken, was mich überkam. Erschrecken und Scham. Ich schlug die Augen nieder. Das Blut stieg mir zu Kopf. Wie Schwindel überfiel mich's, meine Gedanken verwirrten sich ...

Ich hatte das Weib entdeckt, ich schämte mich.

Das hübsche Mädchen aber, das sich vor mir bewegte, warf mir bisweilen einen Blick zu, wovor sich der meinige zu Boden senkte. Sie schien meinen Zustand zu erraten und ihre Freude daran zu haben. Das brachte mich noch mehr in Verwirrung.

Über der neuen Entdeckung vergaß ich ganz den Füllentoni. Meine Strohseile legten sich immer spitzwinkliger, bildeten immer kühnere Kurven.

»Mich hat der Teufel g'ritte, den turmeligen Schneider da anzustellen,« rief der Füllentoni plötzlich; »der Lausbub will mich zu Tod ärgern, aber nun hab ich's satt.«

Er sprang auf mich los, und mit ein paar tüchtigen Püffen jagte er den Helden von Tauberbischofsheim, jagte er den Entdecker des Weibes von seinem Acker.

*

Einen andern hätte ein solches Schicksal vielleicht unglücklich gemacht, zumal da das Vesperbrot bevorstand. Denn schon richtete die Cölestine die Dickmilch an und bestrich die Brote mit dicken Lagen von Rahm und süßem, weißem Käse.

Aber drüben vom alten Nußbaum, hinter der geheimnisvollen Hecke, rief der blauschillernde Häher: »Komm her, komm her!«

Und ich folgte dem Ruf. Ich schüttelte die Erde des Füllentoni von meinen Füßen und trollte mich dahin, wo mich der blaue Vogel lockte.

Nur eins ärgerte mich: daß die schöne Cölestine Zeuge meiner schnöden Vertreibung war. Bei diesem Gedanken loderte ein heftiger Zorn in mir auf. Und ich fühlte eine Scham ganz anderer Art als vorhin.

Doch das verflog schnell. Ich hatte bald alles vergessen. Wie ein Kind schlenderte ich in den Grenzfurchen der Getreideäcker hin und pflückte Blumen zu einem Strauß, rote Kornradenelken, blaue Zyanen und die grauen Kätzchen des Hasenklees.

Nach dem Füllentoni und seinen Leuten sah ich mich nicht einmal um; sie waren für mich nicht mehr auf der Welt.

Als ich bei der grünumfriedeten Steinmauer ankam, ergriff leider der blaue Häher schleunigst die Flucht. Er ließ dazu ein höhnisches Lachen erschallen, als ob er mich mit Bewußtsein zum besten gehabt habe ...

Ich fand den Vogel albern.

Was man in Hinterwinkel eine Steinmauer nennt, sind eigentlich aufgeschüttete Steinhügel. Sie könnten an Grabmäler der Vorzeit erinnern. Wenigstens sind sie kaum jünger, sie stammen aus der ersten Urbarmachung des Landes. Die Urbewohner, die zum erstenmal den steinigen Boden umgruben, haben auch zuerst die hinderlichen Steine an den Ackergrenzen aufgehäuft. Und jedes Jahr wuchsen die Hügel. Jede neue Umgrabung lieferte neue Steine. Das ging so seit Jahrhunderten und Jahrhunderten.

Mit ihrer dichten Hecke um sich her und dem uralten Nußbaum, dem einzigen Baum in der weiten Flur, bildete die »Steinmauer« ein wundervolles Versteck. Wie eine vergessene grause Wildnis lag sie mitten in der goldenen Saat.

Am Fuße des Nußbaums, auf dem schwarz-grünen Moos des einsamen Steinhügels, legte ich mich auf den Rücken. Und meine Augen sahen dem Spiel zweier rotgelber Schmetterlinge zu, die, sich haschend und fliehend, große weiße Blütendolden umgaukelten.

Und noch ein Schauspiel genoß ich. Ein blaugrauer, schwarzköpfiger Vogel kam von Zeit zu Zeit auf einen Schlehdorn meiner Dornröschenlaube geflogen, und jedesmal trug er etwas Lebendiges in seinem Schnabel. Er fraß aber seine Beute nicht, er drehte sie in einen Dorn des Schlehenstrauchs, wo dann der arme Karabus, oder was es sonst für ein Käfer oder Insekt war, noch lange schmerzlich die Beine bewegte und mit den Fühlern zuckte.

Das war der Neuntöter, ein alter Bekannter von mir. Einmal reckte ich die Hand aus, einen Stein nach dem Raubvogel zu werfen. Aber ich unterließ es. Es war zu schön, so ruhig dazuliegen und zu denken, wie sie da drüben beim Füllentoni sich plagten; zu schön, so die weite, sonnige Welt umher anzuschauen und auf die geheimen Stimmen der Einsamkeit zu lauschen.

Einmal glaubte ich gar zu träumen. Ich hörte eine fernher klingende Musik, eine Musik, so reich, so schön, so sanft und einschmeichelnd und doch so kühn. Und es war mehr als ein Traum. Ich raffte mich empor, ich hörte die aufregenden Klänge lauter und deutlicher, sie kamen immer näher, sie klangen immer mehr nach Wirklichkeit.

Und bald gewahrte ich auch den Ursprung der berauschenden Töne. Drüben, auf der andern Seite des Haselbachtals, von der Schillingsberger Höhe, vom Sindelwald klangen sie herüber. Ein langer Zug Soldaten, ein Bataillon oder Regiment, zog dort die Steige gegen Hinterwinkel hinunter.

Da hielt mich's keinen Augenblick mehr an meinem Platz. In kaum einem halben Viertelstündchen, noch vor den Soldaten, war ich drunten im Dorf.

Schon unterwegs erhielt ich die Erklärung der überraschenden Erscheinung: Hinterwinkel bekam Einquartierung.


 << zurück weiter >>