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Achtes Kapitel

Die Metamorphose der weißen Katze

Am nächsten Sonntag saß Alexander, von einem einsamen Gang am Fluß zurückgekehrt, im Speisesaal der »Drei schwarzen Maulesel« und erwartete seine Tischgesellschaft, die Herren Tissot, Vater und Sohn. Dieser letztere hieß Monsieur Urbain und hatte sich schon vom zweiten Tage an ebenso freundlich gegen Alexander gezeigt wie der Vater. Die beiden erschienen endlich und mit ihnen die Unbekannte vom ersten Abend.

Die Dame gab sich den Anschein, Alexander gar nicht zu bemerken, sie warf ihm kaum einen hastigen Blick zu.

Sie hatte heute statt des langen Mantels einen leichten schwarzen Schal um die Schultern geschlagen, dagegen erschien ihr übriges Kostüm, den Hut mit inbegriffen, das gleiche wie am ersten Abend.

Das Kleid war aus schwarzer Seide, nach der Mode in spitziger Herzform tief ausgeschnitten, ließ den ganzen Hals frei, den eine Fülle dunkler Locken umringelten, und die Ränder des Ausschnittes, mit seinen Goldspitzen besetzt, folgten den Atembewegungen der vollen Brust, wobei sie, in reizvollem Spiel, sich bald näherten, bald voneinander entfernten.

»Fräulein von Montmerle schenkt uns Sonntags hie und da die Ehre«, erklärte Tissot. »Und wissen Sie auch,« wandte er sich an die Dame, »daß unser Freund Sie für eine Herzogin gehalten hat?«

Bei diesen Worten kräuselten sich die dünnen Lippen der Französin in einer Art, daß ein sehr eigentümliches Lächeln herauskam. Da sie gerade ihr Glas zum Munde führte, wurde sie am Antworten verhindert.

Aber von diesem Augenblicke an existierte auch Alexander für sie. Und er erfuhr, das Fräulein von Montmerle sei wohl keine große Virtuosin auf dem Klavier, aber einige Fertigkeit habe sie erworben und nur seit längerer Zeit diese Kunst ganz vernachlässigt. Dies wieder gutzumachen, habe sie für ihren hiesigen Aufenthalt ein Pianino gemietet und hoffe, Alexander werde ihr bei ihren Stümpereien hie und da zur Hand gehen ...

Nun war eine gewisse Tür am Ende eines gewissen Ganges für einen gewissen jungen »Professeur de musique« kein Rätsel mehr, so wenig wie die dahinterliegende Welt.

Und das war zunächst eine einfache Stube, ein Zimmer wie hundert andere, worin das gemietete Pianino aus Ebenholz den größten Staat ausmachte. Die Wand schmückten zwei Madonnenbilder, ein halbes Dutzend dunkelblauer Samtstühle und ein ähnliches Sofa mit einem ovalen Tisch davor bildeten fast die ganze Einrichtung. Ein spitzenbesetzter, einseitig aufgeknöpfter Vorhang schien einen Alkoven abzuschließen ... Man konnte sich keinen gewöhnlicheren Wohnraum denken.

In dieser alltäglichen Umgebung aber schien eines dem fremden Kunstjünger märchenhafter und zaubergewaltiger als alle Tausendundeine-Nacht-Herrlichkeit, mochte dieses eine stumm zwei dunkle Augen auf ihn richten, oder ihm von kirschroten Lippen Worte und Atem zuhauchen, oder gar eine schlanke weiße Hand in die seinige legen ...

Und bald dünkten ihn die Stunden, wo er von diesem Heiligtum getrennt sein mußte, wie Pausen eines Musikstückes, die, wenn auch zur Komposition gehörig, doch keine Musik sind.

Das Fräulein von Montmerle machte jeden Abend in Begleitung des jungen Tissot einen Gang nach den Anlagen von Saint-Amour – den Gärten der heiligen Liebe, wie Alexander übersetzte. Dazu wurde der schüchterne Schwabe bald jeden Tag eingeladen. Und zuletzt machten Theodosie und Alexander auch unter Tags, wenn Monsieur Urbain seine Zeit zu wichtigeren Dingen brauchte, größere Spaziergänge. Fräulein Theodosie schien sich um niemand zu kümmern in der Stadt, von niemandem gekannt zu sein.

Da konnte Alexander keine andere Empfindung haben, als daß er durch die glücklichste Fügung in ganz bedeutende Verhältnisse geraten sei, die in jedem Sinn fördernd auf ihn wirken mußten. Er war dem waltenden Schicksal im tiefsten Herzen dankbar und faßte den ernsten Vorsatz, sich seine Lage im besten Sinne zunutze zu machen.

Außer den Söhnen des Marquis von Auberoche hatte er durch den allzeit liebenswürdigen Herrn Tissot noch zwei Schüler, vielmehr Schülerinnen bekommen, Musikbeflissene diesmal, und so brauchte es ihm um seine Subsistenzmittel wenigstens nicht mehr bange zu sein.

Und noch viel wichtiger war für ihn, daß er, und zwar abermals durch Vermittlung seines philosophierenden Freundes, die Bekanntschaft des Organisten von St. Paul machte, derjenigen Kirche, in deren Pfarrei die Wohnung des Herrn Tissot lag.

Dieser Organist nannte sich Herr Metschär, wie er es aussprach, d. h. Metzger auf deutsch; und wirklich war er, heimlicherweise, gleichfalls ein Deutscher. Er erwies sich aber landsmännischer gegen Alexander als dessen Vetter Pankraz. Er sprach zwar ungern von seinem Deutschtum, aber er gab dem quasi Landsmann unentgeltlich Unterricht im Generalbaß und im Kontrapunkt, wofür ihm Alexander gelegentlich den Organistendienst besorgte. Auch einen Schüler auf der Violine erhielt Alexander durch den Herrn Metschär. Er konnte wohl selber nicht viel, aber docendo discitur, lehrend lernte er.

Der Herr Metzger war ein kleines rundliches Männlein mit stets glattrasiertem, glänzendem Gesicht, dem man es ansah, daß er die feinen Bissen und einen guten Tropfen dazu nicht weniger liebte als die Musik. Man hätte ihn nach seinem Äußern für einen besseren Küster halten können, besonders da man ihn in Haus und Kirche nie anders sah als mit dem schwarzen Pfaffenkäpplein auf dem Hinterkopf mit den spärlichen weißen Härchen. Hätte er noch eine Soutane getragen statt des kurzen schwarzen Rocks, würde ihm zu dem Habitus eines behäbigen Priesters nichts gefehlt haben.

In seiner Seele war er ein echter Künstler, wenn er auch von seinen eigenen Kompositionen mit wegwerfender Verachtung sprach. Es war ihm damit sogar bitterer Ernst. Ein seltener Fall. Er dachte zu groß von der großen Kunst. Seine vornehmsten Heiligen der Musik waren Bach und Gluck, und da es ihm in seiner Umgebung selten vergönnt sein mochte, den Mund überfließen zu lassen von so hohen Dingen, die ihm das Herz erfüllten, war er dem armen Alexander unaussprechlich dankbar, der auf seine Reden lauschte wie auf göttliche Offenbarungen.

Er nahm ihn oft an Nachmittagen mit auf den Orgelchor von St. Paul und spielte ihm Präludien vor und Fugen von Bach und Ouvertüren von Gluck, die er selber für die Orgel bearbeitet hatte. Und wenn Alexander dann dastand in sprachlosem Staunen:

»Ja,« sagte er mit glücklichem Schmunzeln, »dieses Organ! Es ist eines der berühmtesten in ganz Frankreich. Dieser Orgel habe ich aber auch meine Seele vermählt. Ohne sie, was wäre hier mein Leben. Sie ist meine Geliebte, mein alles.« Er stockte.

»Ich errate Sie, Freund Alexander,« fuhr er dann fort, »Sie denken an Frau Lisbeth. O ja, sie ist eine liebe Frau, wenn sie mir auch keine Kinder geschenkt hat, was vielleicht ein Glück heißen muß in meiner Lage. Sie ist auch gar nicht eifersüchtig auf die Orgel, obwohl sie weiß, was diese mir bedeutet und daß ich nur in ihrer Berührung produktiv werde, und meine Zeugungskraft wie tot ist außer im Kontakt mit ihr, mit der allein meine Phantasie hie und da wunderbare Kinder zeugt und nur, wenn ich mich allein mit ihr weiß in der verschwiegenen Stille des verlassenen Heiligtums ... Freilich zeichne ich nie etwas davon auf.«

Zum erstenmal in seinem Leben sprach zu Alexander ein Künstler. Er fühlte es, der noch gar nichts war, und er wurde davon nicht klein, er spürte es wie eine Kraft in sich wachsen.

Einmal fand er sogar den Mut, dem Organisten eine recht gewagte Bemerkung zu machen. Herr Metzger ließ bei seinem offiziellen Dienst nur selten seine höhere musikalische Religion mitsprechen. Er orgelte in der Regel unglaublich leichtes und leichtfertiges Zeug, als ob er keine Ahnung von etwas Besserem habe. Ja, er ging hierin bis zum Zynismus, und es konnte ihm einfallen, zum Offertorium ein »O du lieber Augustin« oder nach der heiligen Kommunion das

O du liebe Lene,
Du mußt dich dran gewöhne

oder sonst einen verruchten Gassenhauer zu variieren. Alexander hatte sich oft geradezu entsetzt über diese Impietät des Meisters, er mußte dies einmal aussprechen.

Der Organist sah ihn erst finster, dann belustigt an.

»Nicht wahr, das begreifst du nicht, mein Sohn«, sprach er. »Nein, du vermagst nicht zu begreifen, wie der Künstler sich prostituieren kann. Und doch fällt es dem gar nicht so schwer, der es erleben mußte, daß das Heiligste, vor dem er einmal angebetet, sich dann sozusagen vor seinen Augen prostituiert hat. Da mag einer zum Zyniker werden, der es zuvor nie von sich geglaubt hätte, da er doch zum Mörder zu feig ist. Ja, mein sentimentaler Herr, so ist es.«

Alexander hörte ohne Verständnis. Er ahnte wohl, Herr Metzger deute auf ein trauriges oder gar tragisches Erlebnis seiner Jugend hin, doch er vermochte sich nichts dabei zu denken.

Einen Augenblick schwirrte ihm, wie ein Irrlicht, die Erinnerung an Olga Rotermund durch das Gehirn, obwohl er von einem gewissen Brief seiner Mutter, der schon geschrieben war oder vielleicht gerade in diesem Augenblick geschrieben wurde, nichts wissen konnte; aber er erschrak über seine eigenen Gedanken.

Der Organist bemerkte seine Begriffsstutzigkeit.

»Verzeihen Sie,« unterbrach er sich, »das ist's nicht, wovon ich reden wollte. Die Sache ist einfach. Mein Publikum, das priesterliche mit eingerechnet, reicht mit seinem Verständnis nicht über das Gewöhnliche hinaus. Das Gewöhnliche und zugleich Heitere, das ist's, was sie wollen. Da muß ein armer Organist schon Konzessionen machen. Und ich, sehen Sie, um mich nicht zu tot zu ärgern, ich gebe ihnen dann gleich das Gemeine. So räche ich mich, so mache ich mir ein gutes Gewissen.«

Ein Ausdruck von Verachtung lag in der Miene des Sprechers.

»Ja, das Hundsgemeine«, fuhr er fort. »Und die Luder merken es nicht einmal. Diese Franzosen sind in allen Musikfragen dumm wie Kühe.«

Er war ein seltsamer Kauz, der Herr Metschär. Er haßte und verachtete in seinem Innern die Franzosen, und äußerlich verleugnete er sein Deutschtum, das ihm doch damals, vor dem Krieg, keine Seele verübelt hätte, das auch für niemand ein Geheimnis bildete.

Doch mochte er einen besonderen Grund haben dafür, daß niemand seine engere Heimat erfuhr noch die Veranlassung, die ihn aus dem Vaterland getrieben hatte.

Alexander aber, wenn er später an den Herrn Metzger zurückdachte, mußte sich gestehen, daß dieser es war, der zuerst das Tor vor ihm aufgetan, das ihn aus dem Kerker der Unwissenheit und dörflichen Dumpfheit hinausführte in freiere Weiten: dieser Organist mit dem etwas zweideutigen Charakter und der andere, der kriegsparteiliche Chauvinist, der Marquis von Auberoche, jeder auf seine Weise. Dann gar Herr Tissot mit seiner unglaublichen Philosophie ...

Der Marquis von Auberoche-Lescar bewohnte das sogenannte Palais Granvelle, das, obwohl mitten in der engen Stadt gelegen, mit seiner Rückseite auf einen großen schönen Garten hinausging. Seine Straßenfront, in älterer italienischer Renaissance, gehört zu den architektonischen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Ein berühmter Mann und Sohn dieser Provinz hatte es einst für sich gebaut, jener Nikolas Perrenot, Herr von Granvelle (Granvella), der Großsiegelbewahrer von Neapel und Sizilien, Minister der Niederlande und des Heiligen Deutschen Reiches Kanzler unter dem großen Kaiser Karl.

Der grandiosen äußeren Architektur des Palastes entsprach seine innere Ausgestaltung, und Alexander von Hinterwinkel sah hier zum erstenmal vornehme, ja königliche Räume.

In diesem Palast ging er nun fast täglich ein und aus, denn den Söhnen des Marquis widmete er mehrere Stunden wöchentlich.

Der älteste, Joseph Stanislaf, mit dem Titel eines Grafen von Lescar, war von seinem Vater für die Diplomatie bestimmt und sollte darum auch etwas Deutsch lernen, und der jüngere, Charles-Maurice, mochte sich denn die Lektionen ebenfalls zu Nutzen machen.

Weder der eine noch der andere zeigte einen übermäßigen Enthusiasmus für das Erlernen der deutschen Sprache. Sie fanden sie unsäglich barbarisch, und sie konnten, wenn es sich um die Aussprache gewisser Lautverbindungen handelte, die ganze Stunde damit hinbringen, die fremdartigen zungenbrecherischen Geräusche, wie sie's nannten, mit schrecklichen Mundverrenkungen ins Unendliche zu karikieren und zu variieren.

Aber dabei waren es ein paar wohlgeratene herzige Buben, die trotz all ihrem Schabernack immer von bezaubernder Liebenswürdigkeit blieben gegen ihren Lehrer und ihn auf jede Weise zu versöhnen suchten, wenn ihr Mutwillen ihn einmal verdroß, was ihnen auch immer wieder gelang.

Je mehr Alexander die innerlich liebenswürdige Natur seiner Schüler kennenlernte, desto mehr Spaß machte es ihm, sie gewähren zu lassen. Er war jetzt kein kleiner Egoist. Er sagte sich: Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, so kommt der Prophet zum Berg, und wenn meine Schüler nicht Deutsch lernen, so lerne ich dabei Französisch, und das auf die lustigste Art von der Welt.

So ungefähr meinte auch der Abbé Desmoulins, der Hofmeister der Knaben, der manchmal den Lektionen beiwohnte, immer bereit, jede Tollheit seiner Schüler mitzumachen.

Ihn nahm sich Alexander zum Vorbild, das heißt soweit eben sein Talent reichte. Seine Stärke war im Grund seine Harmlosigkeit und gänzliche Wehrlosigkeit: so hätten es diese Knaben für feig erachtet und sich geschämt, an dem großen Kind aus Hinterwinkel ihre Überlegenheit auszulassen. Und so schien, trotz Ungebändigtheit, dennoch in ihrer Natur nichts von dem zu sein, was man sonst die Grausamkeit dieses Alters nennt.

Auch merkte Alexander bald, daß sie ihn noch lieber zum Kameraden als zum Lehrer hätten, nicht etwa um ihren Spaß mit ihm zu haben, diese Roheit lag ihnen gänzlich fern, sondern weil sie bald entdeckt hatten, daß dieser Alexander, der Regel zum Trotz, gar kein gewöhnlicher Mensch war. Und weil sie das Kindliche in ihm liebten. Also ließ er es sich gefallen und nahm gern an allem teil, wozu sie ihn aufforderten, an ihren Schießübungen am Scheibenstand im Garten und an ihren Fechtstunden in der großen Halle des Erdgeschosses, an ihren Spaziergängen und Exkursionen. Sogar in die Manege mußte er mitkommen; er mußte sogar reiten.

Sehr toll ging's zu bei all dem; viel Mutwillen ließ sich aus, nie aber in kränkender oder gar hämischer Art.

Alexander dachte oft: sind diese Franzosen andere Menschen? Er wurde immer familiärer in dem Hause des Marquis, und er fühlte wohl, was sein Glück bedingte: daß er mit den Arglosen ohne Arg und mit Kindsköpfen ein Kindskopf sein konnte.

Oft erschien Alexander etwas zu früh und fand dann den lateinischen Unterricht des Abbé Desmoulins noch in vollem Gang. Wartend hörte er zu. Und da konnte er nicht genug darüber erstaunen, daß diese Franzosen das lateinische »u« wie ein »ü« aussprachen oder auch wieder »om« sagten statt »um« und statt »cogito« sogar »koschito«.

Diese gescheiten Gallier, dachte er, tun sich noch etwas darauf zugute, für unser liebes Deutsch keine Zunge zu haben, sie haben aber auch keine für das heilige Latein, wie die Hinterwinkler Meßbuben, sie sind wirklich ein wenig allzu eingebildet.

Eines Tages ließ ihn die Frau Marquise zu sich bitten.

»Sie kennen den Herrn Metzger«, redete sie ihn an. »Er hat mich seither wöchentlich zweimal zu meinem Gesang begleitet, nun schreibt er mir heute, er sei überarbeitet, wisse nicht, wo er die Zeit zu allem hernehmen solle, ich möchte doch Sie darum bitten, Sie könnten es so gut wie er. Würden Sie nun wirklich die Güte haben, Herr Alexander?«

Auf diese unvorhergesehene Frage benahm sich der Herr Alexander zwar zunächst wieder ganz und gar hinterwinklerisch und wußte als Antwort kaum ein verständliches Wort hervorzustottern, aber aus der Sache selbst (die von ihm verlangt wurde), und das war das einzige Wichtige, zog er sich gut heraus. Die Marquise war sehr mit ihm zufrieden.

Wie stolz war Alexander einst gewesen, ganz übermäßig stolz, die kleine Hilda zu Hopfingen, im Vierhändigen begleiten zu dürfen, wofür er dann manchmal zum Abendessen geladen wurde, zu kaltem Aufschnitt von Schwarzwurst und Stuttgarter Schwartenmagen nebst Bier aus der Vaihinger Brauerei. Und wie war er dann brutal beschämt worden für seine dummen Gedanken mit dem sozusagen Ritterfräulein ...

Um diese Zeit erhielt Alexander einen kuriosen Brief von der Mutter.

»Was mit dem Finzer vorgefallen ist,« lautete eine Stelle, »wird Dich vielleicht interessieren. Der macht seinen Eltern weder Freude noch Ehre. Von wegen seines vielen Herumlungerns bei Rotermund in den Ferien, wenn auch das Olga zu Hause ist, habe ich Dir schon früher einmal nach Hopfingen geschrieben, und was das alles schon für ein Gered und Geschmuhl im Dorf gemacht hat, daß es mir leid tat um das Olga, weil ich glaubte, das junge Ding habe sich von dem großen Lappel das Köpfchen verdrehen lassen und es könnte ein Unglück daraus wenden, welches ich dem Olga nicht gönnen möchte, das trotz seiner Jugend und seinem schönen Gesichtchen, auch trotzdem es in jeder Vakanz gebildeter nach Hause kommt, doch nicht stolz ist gegen arme Leute und ein gutes Herz hat. Nun hab' ich aber auch schon lange gemerkt, daß es von dem Finzer gar nichts wissen will und oft zu uns herüberkam, um ihm auszuweichen. Es sagte aber nie etwas über ihn aus. Nur einmal, als der Jörgmichels Anton und der Klingesteffens Andres bei uns waren und das Olga mit dem Finzer aufzogen, ward es bös und rief: ›Der Finzer ist ein –‹ Es machte seinen Satz nicht fertig und schwieg wieder. Das war um Weihnachten. Am andern Tag ist das Olga abgereist und erst vor drei Wochen, am Pfingstsonntag, ist es zum erstenmal wieder auf Besuch gekommen, im gleichen Bahnzuge wie der Finzer. Nun hatten wir am Dienstag darauf Wäsche, und ich stand mit meinem Zuber vor der Haustür; der Rotermund saß in seinem Gärtchen und las Weiden aus. Auf einmal bemerkte ich, wie er auf etwas horchte, dann den Kopf in die Höhe reckte, um durchs Fenster sehen zu können. Und dann plötzlich lief er nach der Hintertür und eine halbe Vaterunserslänge später hörte ich drüben lautes Geschrei und Schimpfen und dann flog der Finzer ohne Kappe mit zerzaustem Haar aus der Haustür, worauf er sich eilig davonmachte. Er ist am darauffolgenden Tage abgereist, das Olga einen Tag später. Das war vor drei Wochen, und nun kam am letzten Dienstag ein Schreiben vom bischöflichen Seminardirektor, daß der Finzer von der Anstalt ausgewiesen sei, was dann auch gleich im Dorf herum erzählt wurde, nur warum, konnte man nicht erfahren, aber es wird allerlei gesprochen und nichts Schönes. Da ist der Blessenbauer stantepede in die Stadt gereist, hat aber den Finzer nicht gefunden. Der hatte sich aus dem Staub gemacht, der Blessenbauer konnte keine Spur von ihm entdecken, und bis heute ist er verschollen ...«

Leider mußte die gute Mutter gestehen, daß man in Hinterwinkel von ihrem Alexander nicht viel Besseres erzähle als von dem Finzer.

»Man hat sogar«, hieß es, »weniger Mitleid und Nachsicht mit Dir als mit dem Finzer. Die Leute sagen, Du wärest doch früher immer so brav gewesen, um so unverzeihlicher sei Dein jetziger Leichtsinn. Wenn Du wenigstens noch Dein Handwerk ordentlich könntest.«

»Die werden Augen machen,« rief Alexander innerlich aus, »wenn sie hören, wie mir's geht.«

»Dem Olga«, fuhr der Brief fort, »geht Dein Schicksal sehr nahe; es war schon wieder drei Tage hier, weil – das hatte ich nun fast vergessen – weil die Tante Theres sterben wollte wegen eines Geschwürs im Hals, das aber wieder geheilt ist. Und da hat es gestern abend recht aufrichtig mit mir geweint. Zuletzt da meinte ich, um uns beide zu trösten: Nun, wenn er beim Vetter Pankraz ist und am Ende Klosterbruder wird, wollte ich ihn zur Ehre Gottes und der heiligen Jungfrau gern entbehren und in der Fremde wissen. Aber da merkte ich, wie das Mädchen doch viel mehr Weltsinn hat als ich geglaubt hatte; denn das Wort mit dem ›Klosterbruder‹ gefiel ihr nicht, und es schwätzte allerlei scheckiges Zeug ...«

Alexander hatte den Brief gelesen; nachdenklich stand er auf seiner Dachzinne und sah auf die Giebel, Schornsteinbündel und Türme der Großstadt hinaus.

Er mochte sich gestehen, daß die Gestaltung seines neuen Lebens bereits seine kühnsten Träume von ehedem übertreffe.

Und es kann also nicht wundernehmen, wenn er in der Beantwortung des mütterlichen Briefes, um sich für seine Gleichstellung mit dem Finzer zu rächen, den Mund ein wenig voll nahm und seine Zustände in so vergrößerndem Lichte schilderte, daß das ganze Dorf Hinterwinkel darüber in eine gelinde Aufregung geriet, und daß der Meister Jakob den Ring an seinem Finger von diesem Tage an wieder häufiger und mit zuversichtlicheren Blicken betrachtete.

Es war um Johannis, eine laue, zauberhafte Sommernacht. Auf der hohen Dachterrasse vor seinem Zimmer stand ein junger Mann. Ihm dünkte, als sei er seither in Fieberträumen gewandelt oder in Blindheit. Er fragte sich, ob die Welt immer so schön und so groß gewesen war, ob nur er allein nichts davon gesehen hatte. Um so mehr, um so gewaltiger, um so brennender lag ihm nun auf einmal die volle Empfindung der unendlichen Weltschönheit in der jungen Seele, die darüber in ihrer Alleinheit und Kleinheit fast vergehen zu müssen meinte. Er empfand sie nicht nur zum ersten Male, diese Welt und ihre Schönheit und Größe; sie war ihm in diesem Augenblicke wie geschenkt worden und es war ihm zumute, als müßte er und dürfte er, schönheitstrunken, in taumelnder Seligkeit, von Stern zu Stern durch die Unendlichkeit schreiten –

Tissots philosophische Bibliothek hatte Alexander noch wenig benutzt; aber er war dennoch in der höheren Weltweisheit nicht ohne Fortschritte geblieben. Wie anders begriff er nun den Apostel Fouriers, der bei den täglichen Symposien in den »drei schwarzen Mauleseln« mit schwärmerischer Beredsamkeit vom Weltalter der Glückseligkeit sprach, das da nahe sein sollte, gleich wie Jesus der Nazarener vom Himmelreich gesagt hatte.

Tissot lehrte die Antizipation von Zuständen jener kommenden Weltepoche durch einzelne Individuen. Wie hätte der glückliche Alexander in seiner jetzigen Verfassung an einer solchen Lehre zweifeln oder ihr seine begeisterte Zustimmung versagen können?

Wenn Tissot aber das wachsende Verständnis seines Jüngers gewährte, geriet er in Ekstase, schüttelte ihm ein um das andere Mal die Hände, umarmte und küßte ihn und nannte ihn in seiner Sprache, die noch mehr von des Herrn Michelet als des Philosophen Fourier Geblüt zu sein schien, eine duftende Blüte vom Baume der Zukunft, eine aufgehende Morgenröte am erglühenden Horizont seines eigenen Alters.

Und zur Feier des großen Moments tranken sie zum Nachtisch eine Flasche alten Chablis und erhoben sich dann in der gehobensten Stimmung. Am Pont Saint-Amour, an der Brücke der »Heiligen Liebe«, verabschiedeten sie sich, Tissot ging seiner Wege, Monsieur Urbain auf sein Bureau und Alexander zu Theodosie von Montmerle.


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