Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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Erster Teil.

Daheim.

1.

Meine Ankunft auf der Welt.

Es ist gerade in der Flachsrupfezeit gewesen – Jahr und Tag weiß ich leider nicht – als ich meinen ersten Schrei that zu Hilgenthal auf dem kleinen Berge, auf dem die alte gute Linde noch immer so prächtig rauscht. Wie ein Küchlein unter der Glucke steht die teure Elternhütte mit der zweiklappigen Hekethür unter dem trauten Lindenbaume; eines ohne das andere kann ich mir nicht denken. Ohne die Linde wäre die Hütte nicht, was sie ist, und ohne die Hütte wäre der Baum nicht, was er ist.

Nur einmal schön und heimisch ist's da oben! Kann ich auch längst nicht mehr dort wohnen, 's Herz lacht mir doch im Leibe, gucke ich dem 16 herrlichen Baume in seine grünen Augen. An ihm hab' ich die grünen Augen gern; nur bei Menschen mag ich sie nicht: denn da steckt oftmals Fuchsfalschheit dahinter. Ich hab's erfahren.

Es ist in der Flachsrupfezeit gewesen, wie ich auf die Welt gekommen bin, allein es hat dasmal auch nicht einen Stengel zu rupfen gegeben. Ein grausiges Hagelwetter ist plötzlich dahergebraust gekommen, hat alle Gewächse der Feldmark wie mit Keulen zu Boden geschlagen, und wie es nun nichts mehr zu rupfen gab, so gab's auch weder was zu mähen, noch was zu schneiden, noch was einzufahren, kurz, es war eine trostlose Zeit.

Den Lindenhüttenleuten konnte ja nicht viel verhagelt sein, denn sie hatten nur ein paar schmale Streifen Land; schlimm genug war's aber doch: denn haben die Großen kein Brot, so haben die Kleinen auch keins.

Als hätten nun die armen Lindenhüttenleute in dieser drangsalsvollen Zeit an ihren vier lebendigen Kindern noch nicht genug, geht eines schönen Tags die alte lustige Bökersche, die Bademutter nämlich, zum Bruche hinaus, schließt in aller Gemütlichkeit die Kinderkammer im Bruchbrunnen auf, erwischt einen weißhaarigen Knirps und trägt den ganz wohlgemut in die Lindenhütte. Die Eltern machen wohl erst ein verzweiflungsvolles Gesicht, 17 tauschen dann aber einen Blick mit unserm Herrgott im Himmel und lassen es ruhig geschehen, daß die Bademutter den Brunnenfisch, der ganz gegen die Gewohnheit der Fische einen recht herzhaften Schrei ausstößt, in die HotzelWiege. legt, die der Vater etwa eine Stunde zuvor in seiner Arglosigkeit vom Hahnenbalken heruntergeholt hat.

Wie der Knirps aber gar zu jämmerlich schreit, thut der Vater, als würde er unwirsch und sagt: »Ei, Bökersche, was machst du auch für Streiche! Haben wir etwa nicht der Schreihälse genug, daß du uns noch einen dazu bringst? – Hättest du den Fisch nicht unserem Herrn Pastor ins Bett legen können? Warum gehst du dem immer vorbei? Würde der sich über das Ding gefreut haben!«

Dann schob er das Fenster auf und rief hinaus: »Linde, Linde, es ist wieder eins da, ein ganz, ganz weißes!«

Gelacht ward, dann aber sagte der Lindenhüttenvater in vollem Ernst: »Sollst doch schönen Dank haben, Bademutter! Es kommt von Gott: Viel Kinder, viel Segen! Und ich könnte doch wahrhaftig das liebe kleine Schreiding nicht von mir geben, böte auch einer tausend Dukaten dafür!« 18

»Das ist ein rechtes Wort, Hanfrieder!« antwortete die Bademutter und sah so recht verschmitzt drein, als wollte sie sagen: »Könntest dir die tausend Dukaten dreist auszahlen lassen, denn du wirst die Hotzel in Zukunft schon noch einmal vom Balken herunter holen müssen.« Einen Schalk hatte sie ja immer im Nacken, die Bademutter.

Als nun die Leute unserer Freundschaft, Frohnhöfers und Bornriekens, vernahmen, daß in der Lindenhütte 'was Junges angekommen sei, ließen sie Stock und Stengel stehen und eilten herbei, um die Eltern zu beglückwünschen und den neuen Weltbürger zu besichtigen. »Ei seht – was für gralle Augen – wie kerngesund – und welch kräftiger Schrei! Wird ein langes Leben haben! Viel Glück mit dem Kinde!«

Altem Herkommen gemäß holte der Vater die für diesen Fall besonders aufgesparte »Bameumenwurst«Bameume = Bademuhme, soviel wie »Bademutter« = Hebamme. von der Rauchkammer, wetzte das Messer und nötigte: »Setzt euch nur gleich alle zusammen um den Tisch herum!« Zweimal machte die Wurst die Runde, dann war auch kein Zipfel mehr übrig davon. Die Gäste wischten sich vergnügt den Mund: »Nun wird das Kind einen schönen Tag haben!« 19

Acht Tage später sollte der Guckindiewelt die Christenheit bekommen. Um keinen Aufwand machen zu müssen, beschlossen die Eltern, nur eine Gevatterin zu nehmen. Die Bademutter ließ darüber die Lippen ein wenig hängen, denn je mehr Paten, desto mehr kann sie bei der Taufe erübrigen. Der Vater aber schäkerte: »Ja, ja, Bökersche, wir müssen sparsam umgehen mit den Gevattern; wir haben bei den ersten vier die Reihen unserer Freundschaft schon allzustark gelichtet. Wenn nun dies Kleine noch nicht das letzte wäre – du brauchst ja gar kein Einsehen – wo wollen wir denn schließlich noch alle Gevatterinnen hernehmen?«

Was sollte die Bademutter darauf erwidern? Sie mußte lachen und hingehen und Frohnhöfers Friedesinchen zur Pate bitten.

Frohnhöfers wohnten gleich über uns; ihr prächtiger Sommerstreifchenapfelbaum zupfte gern an den Strohdocken, mit denen die eine Giebelwand unseres Häuschens ausgefüttert war; manchmal fiel gar so ein blaßrotes »Sommerstriepchen« durch das runde offene Sommerloch in der Dockenwand auf den Lindenhüttenboden, von wo es dann meistens auf die Diele »puckte«. Frohnhöfers hatten Ochsen und Kühe, und wenn sie ihr Bergland vor dem kleinen Hagen oder am Karlsberge 20 pflügten, mußte gewöhnlich ein Junge oder ein Mädchen aus der Lindenhütte mit und die armen Ochsen antreiben. Die Lindenhüttenleute und Frohnhöfers hielten allezeit auf eine getreue Nachbarschaft; es war ja auch hüben und drüben ein verwandtes Blut, denn unsers Vaters Mutter war ein Frohnhöfers Mädchen gewesen, und früher schon hatte ein Lindenhüttenmädchen auf Frohnhöfers Hof gefreit.

Die Bademutter ging also zu Frohnhöfers Friedesinchen, der natürlich die Bitte nicht unerwartet kam. Schon als meine Mutter noch mit mir ging, hatte Friedesinchen öfter über den Zaun gerufen: »Wenn's aber 'n Mädchen wird, dann vergeßt nicht, daß ich noch keine Stelle im Himmel habe!« Man kann sich nämlich mit einer Patenstelle einen Platz im Himmel erwerben, und eine Patenstelle bei einem Lindenhüttenkinde bot diese Aussicht ganz gewiß. –

Also hielt Frohnhöfers Friedesinchen den Bruchbrunnenfisch ganz allein über die Taufe und man konnte es ihr wohl anmerken, daß ihr die Sache zu Herzen ging.

Als man aus der Kirche zurückkam, legte die Pate den Täufling der Mutter in den Schoß mit den Worten: »Ihr habt mir gegeben ein Heidenkind; ich bringe Euch wieder ein 21 Christenkind. Und wenn Ihr's wollt mit Namen nennen, so nennt es – Friedesinchen!«Zusammenziehung von Friederike Rosine.

»Friedesinchen! Mit Gottes Willen und Segen!« riefen die Eltern in feierlichem Tone und drückten der Gevatterin die Hand. Und dann nahm der Vater mich der Gevatterin ab, trat mit mir ans Fenster und rief hinaus: »Seg'ne auch du das Kleine, alter guter Lindenbaum!« Und die Zweige neigten sich gegen das Fenster, und es säuselte wie ein Segen Gottes in das Stübchen, wie meine Mutter oft erzählte.

Nachdem die Mutter dann ein Gesangbuch unter das Kissen in der Hotzel gesteckt und das junge Christenkind darauf gelegt hatte, setzte man sich zu Tisch und war trotz des kärglichen Festmahles fröhlich und guter Dinge, – hatte man doch den lieben Herrn Christus mit zu Gaste geladen.

Klein Friedesinchen that einen gesegneten Schlaf, und da sich seine Mienen oft wie zu einem Lächeln verzogen, meinte die Pate, die Engel im Himmel spielten mit ihm. – Als es endlich die Äuglein wieder aufschlug, sagte die Mutter: »Nun wollen wir doch mal hören, wie unseres Friedesinchens Lebensgesang lauten mag!« 22 Sie ergriff das Gesangbuch, ließ die Blätter willkürlich auseinander fallen und las unter gespannter Aufmerksamkeit des kleinen Festkreises die Verse, die sich so gleichsam selbst aufgeschlagen hatten:

»Wie Gott mich führt, so will ich geh'n,
Es geh' durch Dorn' und Hecken.
Gott läßt sich nicht von Anfang seh'n;
Der Ausgang wird entdecken,
Wie er nach seinem Vaterrat
Mich treu und wohl geführet hat.
Dies sei mein Glaubensanker.«

Wahrlich, einen zutreffenderen Gesang hätte die Mutter nicht aufschlagen können. Ich habe mich seiner in meinem Leben oft getröstet. 23


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