Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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8.

Eine Verurteilung und eine Hochzeit.

Eines Tages steuerte der Herr Pastor sehr geschwind auf Mönnemanns an der Tränke los und kam zu mir ins Backhaus, wo ich gerade das eben gar gewordene Brot aus dem Ofen zog. »Kennst du einen gewissen Ludwig Hagenfried aus Eberstein?« fragte er mit harter Stimme und fuhr auf mein »Ja« fort: »Dem ist vor einigen Tagen die Frau gestorben.« »Die Frau? Die ist ja schon vor zwei Jahren gestorben!« verwunderte ich mich. »Was? Was? Schon vor zwei Jahren gestorben?« rief der Pfarrherr außer sich. »Da habe ich also einen richtigen Vagabunden gefangen. – Ha, dachte ich's doch! Ha! Ha! Kommt da herein, lügt mich an, seine Frau wäre ihm vor etlichen Tagen gestorben, hätte ihm vier kleine Kinder und so große Armut hinterlassen, daß er nicht aus noch ein wüßte – er könne nicht 'mal die Begräbniskosten aufbringen und müsse seine arme Frau über der 371 Erde lassen, wenn sich nicht mildthätige Christenherzen seiner erbarmten und ihm etwas Geld gäben!«

Der Pastor warf den Kopf zurück, kniff die Lippen zusammen, holte heftig Atem und stürmte davon, ohne unsern Herrn, der verwundert aus der Hausthür trat, zu grüßen.

Bald nachher sah ich den Bauermeister und den Gemeindeausrufer mit dem Unglückseligen aus dem Pfarrhause kommen. Sie wollten ihn einstweilen ins Spritzenhaus sperren, wie ich den Bauermeister sagen hörte. Da trat ich zwischen sie und bat weinend um Milde für den armen Sünder, den ich nur als einen durchaus gutherzigen Menschen kennen gelernt hätte.

Ludwig Hagenfried, der totenbleich, still und mit gesenktem Kopfe mit ihnen ging, zuckte beim Klange meiner Stimme zusammen.

Etliche Wochen darauf wurden der Pastor und ich vom Amtsgericht in Münden gegen Ludwig Hagenfried zu Zeugen angerufen. Da habe ich in mehreren Nächten fast kein Auge zugethan, denn die Gerichtsstätte hielt ich für den furchtbarsten Ort der Welt.

Mehr als dreißig Zeugen aus den verschiedensten Dörfern des Umkreises waren auf dem Gerichte versammelt – und allzusammen 372 zeugten gegen den unglücklichen Ludwig Hagenfried. Aus meinem Zeugnis haben die Gerichtsherren aber gar nicht klug werden können, denn es sind mir die Worte immer wie schwere Bleistücke auf der Zunge liegen geblieben.

Übrigens hätten die vielen Zeugnisse gar nicht abgelegt zu werden brauchen, denn als Ludwig Hagenfried, bleich wie eine Leiche, von dem Gerichtswärter hereingeführt und von dem Richter gefragt wurde, was er zu den belastenden Zeugnissen sagen könne, antwortete er bebenden Tones: »Ach Gott, sie haben alle recht gezeugt – ich bin ein verworfener Mensch.«

Und dies in heißem Aufschluchzen untergehende Wort erschütterte Zeugen und Gerichtsherren – das konnte ich deutlich sehen, obgleich meine Augen voll Thränen standen. Mit einer ganz anderen Stimme als vorhin, mit einer Stimme, in der das Weinen des Mitleides zitterte, stellte nun der Richter, ein edler Mann in weißem Haar, die Frage an Ludwig Hagenfried, wie er nur auf einen solch bösen Weg geraten sei?

Da erhob der Unglückliche die nassen Augen und berichtete: »Der Tod meiner Frau ist mein Unglück. Seitdem habe ich wohl das ganze Land durchlaufen, aber nirgends mehr Glück gehabt. 373 Es war mir auch noch etwas anderes im Wege . . . Ich war vor Jahren Mühlbursch in einer Mühle zwischen Hilgenthal und Volkerswalde und ließ mir da etwas zu Schulden kommen, das der Müller mir ins Wanderbuch geschrieben hat. – Wenn das die fremden Müller lasen, war's allemal aus mit meiner Hoffnung.«

Das Geständnis knickte mirs Herz, meinte ich's doch fast zu wissen, welcher Art sein Verschulden gewesen war: er hatte unseren Weizen nicht geköpft, sich also durch seine allzu große Gutmütigkeit unglücklich gemacht – was hätte es anderes sein sollen! –

»Ich mußte den Bettelstab in die Hand nehmen, ich mochte wollen oder nicht,« setzte Ludwig seine Erzählung fort. »Meiner Scham wegen und um das Mitleid der Leute eher zu erwecken, verfiel ich darauf, mich bei den Leuten auf den Tod meiner Frau zu berufen. Und als dieser Vorwand erst seine gute Wirkung gezeigt hatte, blieb ich dann schon in meiner Hundserbärmlichkeit dabei. Es ist schon so: Giebt man dem Teufel den kleinen Finger, nimmt er gleich die ganze Hand. Nun bin ich ein verlorener Mensch.«

Er schlug sich mit beiden Händen vors Gesicht und taumelte zu Boden. 374

»Nicht verloren, Hagenfried!« rief hellen Tones der greise Richter.

Nach Verbüßung einer kurzen Gefängnishaft ist Ludwig Hagenfried mit seinen vier Kindern nach Amerika gezogen. Die Ebersteiner und Lutterbeker rieten lange hin und her, womit er die großen Überfahrtskosten wohl bestritten haben möchte. Es war schier wie ein Wunder. Die Pfarrleute zu Eberstein aber wußten es, und von ihnen habe ich's hernach erfahren, daß der edle Greis, der über den armen Sünder zu Gericht saß, es gewesen ist, der ihm eine freie Überfahrt ausgewirkt hat. Ich glaube annehmen zu müssen, daß auch die lieben Ebersteiner Pfarrleute zu dieser Sache ihr Teil beigetragen haben.

Sie haben zwei Briefe von dem Ausgewanderten erhalten, und in beiden hat er unter vielen Danksagungen die Versicherung gegeben, daß es ihm und seinen Kindern wohl ginge. Es hat auch jedesmal ein Gruß an mich darin gestanden, und die beiden Grüße haben den quälenden Vorwurf in mir erstickt und gemacht, daß ich wieder froh sein konnte.

An dem Tage, als die Gerichtsverhandlung sich abspielte, hat unsere Stineliese mit dem Schäfer von Hilgenthal Hochzeit gehalten; und 375 es ist eine gar lustige Hochzeit gewesen, wie ich nachher hörte, denn die Schäfersleute konnten's machen und zeigten's auch gerne.

Hanfrieders und Lorchens Hochzeit wurde kurz darauf zu Goltdorf gefeiert. Daß ich diesmal unter den Hochzeitsgästen nicht fehlte, brauche ich wohl nicht erst zu versichern. Mein Lorenz traf erst am Abend des Hochzeitstages ein, denn die Einladung hatte ihn ganz oben im Baiernland getroffen, und Eisenbahnen wurden damals erst gebaut.

Es regnete viel an dem Hochzeitstage, was man für eine üble Vorbedeutung hält; es weint der Himmel über die kommenden Schicksalsschläge, von denen das junge Ehepaar getroffen werden wird – denkt man. Allein im Vertrauen auf das schöne Wort, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen, ließen wir uns unsere Fröhlichkeit nicht trüben.

Nun hättet ihr aber bloß unsere beiden Väter sehen müssen! Nein, was die lieben Grauköpfe vor Freuden so ausgelassen sein konnten und so erpicht auf einander!

Am Abend zog mich die junge Frau Lore in ein stilles Kämmerlein, fiel mir um den Hals und weinte, ohne ein Wort zu sagen. Ich wußte es ja, was in ihrem Herzen wogte und wallte 376 – ich wußte es ja – – »Bist du glücklich, Lore?« flüsterte ich endlich.

Da fand auch sie die Sprache und gab schluchzend zurück: »Ach, Friedesinchen, wenn nur nicht soviel Regen fiele an unserem Ehrentage!«

Ein Jahr verging; in der Lindenhütte herrschte ein stilles, reines Glück. – Es war dies eine Jahr wie ein lieblicher Frühlingstag; aber eine schwere, schwarze Wetternacht folgte. 377


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