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Ich hatte eines Abends nicht einschlafen können vor lauter Glück und Freude, weil am andern Tage mein zehnter Geburtstag war.
Wie gern will man alt sein, wenn man jung ist, und wie ruft man nach der Jugend, wenn die Knochen steif geworden sind! Man weiß nie, möchte ich sagen, was man hat, wenn man's hat. Auch eine traurige Jugend ist Maienzeit, denn es kann einem noch alles daraus erblühen. Freilich, die drei gestrengen Herren können auch alles im Keime zerschlagen. – 149
In unserm kleinen Hofe hinter der Lindenhütte stand ein prächtiger alter Buchsbaum, steht auch noch heute da, ein wirklicher Baum; nicht größer zwar als ein Mehlbeerbusch, aber von einer alten knorrigen Art, wie ich ihn sonst nirgends gesehen habe, obgleich es doch kaum einen »kleinen Hof« im Dorfe ohne Buchsbaum giebt.
Wenn unsere Mutter an einem Geburtstagmorgen – der Vater war dann gewöhnlich schon draußen im Holze – die Buchsbaumzweige aus dem kleinen Hofe geholt, auch wohl dies und das an der Hofhecke gepflückt hatte, ging sie zunächst zu dem Lindenbaume, der natürlich auch seine Festgabe beisteuern wollte, namentlich wenn ein Geburtstag in seine wundervolle Blütezeit fiel. Und war's ein Mädchengeburtstag, so ging sie dann zu dem Myrtenbaume, der in dem einen Lindenhüttenfenster, und zu dem Rosmarinbaume, der in dem andern Lindenhüttenfenster zwischen Fuchsien und Balsaminen stand, und die kleinen feinen Zweige, die sie da abschnitt, bildeten die Krone des Geburtstagsstraußes.
Ach, ich vergesse es nie, wie wonnesam es mich durchrieselte, wenn ich an meinem Geburtstagmorgen in aller Frühe – ich wachte immer ungeweckt auf – die räucherige Bodenleiter 150 herabstieg und die Mutter, die dann schon am knisternden Herde in Bereitschaft stand, mir ihren Strauß mit einem roten Seidenbande, das von einem Geburtstage zum anderen sorgfältig aufbewahrt wurde, an den Arm band und mit ihrer lieben Stimme mir Glück und Segen wünschte. Ach, ich vergesse es nie . . . Und wenn dann am Abend der Vater nach Hause kam, auf dem Rücken die lange Holztracht, an der Seite den »Snappsack«Leinenbeutel, worin das Brot für den Tag mitgenommen wurde., und in der schwieligen Hand einen dicken Waldblumenstrauß . . . ach, ich vergesse es nie! – Natürlich unterließ auch die Friedesinchenpate gewöhnlich nicht, mir ein buntes Sträußchen an den Arm zu binden und mich in ihrer eigenen Art mit diesem und jenem zu beglücken. War sie kurz vorher nach der Stadt gekommen, um Butter und Eier zu verkaufen, so konnte ich darauf rechnen, daß ich, wenn nicht 'n geblümtes Tuch, so doch 'ne kleine blaue Tasse kriegte,Bis dahin trank man den Kaffee aus einöhrigen kleinen Becken. wie sie damals gerade aufkamen, oder gar auch einen strammen – »Bauernjungen«.Bauernjungen, auch »Achterluffen«, eine kleine Semmel mit kopfartigem Ende. Oder 151 sie buk mir ein Spiegelei in Butter und ließ mich eine köstliche Scheibe Honigbrot schmausen; denn Frohnhöfers hatten außer vielen Hühnern auch viele, viele Bienen.
Also zehn ganze Jahre hatte ich jetzt in unantastbarer Sicherheit, und ich galt nun unseren »Kleinen« gegenüber schon als »dat Grate«.Das Große. Ich war an Stineliesens Stelle gerückt, die nun immer mit der Mutter ins Feld oder mit Bornriekens oder Frohnhöfers zum Hacken und Harken, oder auch nach dem »Hofe« zum Steinelesen mußte.
So schlimm haben's die »Kleinen« bei mir wohl nicht gehabt, als ich's bei Stineliese hatte; aber wenn ich so an dies und das zurück denke, muß ich leider doch sagen, daß ich auch gerade kein Engel gewesen bin; habe ich doch eines Tages – unser Lorchen hat mich später oft daran erinnert – sogar die weiße Zipfelmütze in das Katzenloch gesteckt. Ach ja, auch die weißhaarigste und frommherzigste zehnjährige Dirn hat immer ein paar Adern voll Tyrannenblut in sich, unter dem die kleineren Geschwister zu leiden haben. Sieh nur hinein in die liebe, lustige kleine Rackerwelt – und überall, wo es lacht und heult, siehst du ein unfreiwilliges Laufen nach der weißen 152 Zipfelmütze, welche die »Großen« in ihrem Machtbewußtsein ins Katzenloch gesteckt haben. –
Bornriekens »Kleiner« – der arme Junge wurde, trotzdem er nur neun Wochen jünger war als ich, noch immer der »Kleine« genannt – also Bornriekens »Kleiner« hatte wenige Tage vorher bei einem Kuhverkauf drei Pfennige »Trinkgeld« bekommen. Dies Kapital brachte er an meinem Geburtstage zu uns unter die Linde, und es wurde überlegt, was er mir dafür kaufen solle. Dabei gerieten wir in ein Fieber, als ob es wohl gar ein Schloß oder doch ein wunderschönes seidenes Kleid oder ein Paar prachtvolle Spangenschuhe oder ein geblümtes Kopftuch dafür gäbe. So weit wir auch herunter gingen mit unseren Wünschen, es wollte doch für ihrer keinen langen. Da blitzte ein ganz neuer Gedanke auf: Wir wollten für das Geld Kaffeebohnen kaufen und Kaffee kochen. Das war damals in Hilgenthal noch eine Rarität und reizte uns ganz besonders. Und während der »Kleine« zum Kruge raunte, in dem man auch Kaffeebohnen und sonst allerhand kriegen konnte, einigten wir uns dahin: Ich gäb 's Holz und 's Wasser her, Bornriekens Sinchen und Wilmine 'n Topf mit Milch, Frohnhöfers Stineken 'n Schälchen mit Honig und Bertrams Malchen 'n Krumen »Deutschen«. Im 153 Hinblick auf den Halbabendbrotschrank wurde trotz meines ehrlichen Einspruchs einmütig entschieden: keiner solle heute von seinen Gütern sagen, daß sie sein wären, sondern es wäre uns allen gemein. Worüber sich wohl niemand mehr freute, als unser dralles Lorchen, weil ja die anderen »Stücker« viel größer und kostbarer waren als unsere und weil es bei seinen geringen Jahren im Denken, Fühlen und Handeln noch nicht so schamhaft sein konnte wie unsereins.
Die Lindenhütte war freilich verschlossen, aber ich brauchte ja nur durch das Hühnerloch zu greifen, das neben der Hekethür über der Mauer aus dem Lehmfache gähnte, und ich hatte den Schlüssel. Das Feuer anzupinken, machte uns zwar arge Mühe, da der Zunder erst gar nicht fangen wollte; schließlich gelang es doch, und der Rauch quoll aus der schwarzen Küche in weißblauen Streifen über die Diele, die Bodenleiter hinauf und zur Hekethür hinaus. Bornriekens »Kleiner« hatte gut ein halbes Lot Bohnen bekommen, und wir kochten einen großen Kessel voll, daß jeder mindestens drei einöhrige Becken voll trinken konnte. War das ein Schlürfen und Schmausen, war das ein Plaudern und Lachen! Als wären wir bei einer Prinzessin zu Gaste. 154
Wie gewöhnlich, wenn wir so beisammen waren, fing Bornriekens Kleiner, der immer große Kurage hatte, von den großen Kriegen an, die unsere Väter mitgemacht hatten und von denen wir den »Hanfriederpaten« schon oft bei Wurstsuppen hatten erzählen hören. Es hatte so 'n eigenen haarsträubenden Reiz, den Kriegsschauder über sich gehen zu lassen, zu hören, wie alle Menschen massakriert, die Kinder an die Spieße gesteckt oder um den Baum geschleudert wurden, zu hören, daß man sich in den »deipen Meß«Tiefen Mist. graben müsse, um von den wilden Soldatenhorden nicht gefunden zu werden.
Als wir den großen Kessel glücklich ausgetrunken hatten, machte ich mich verstohlenerweise in unseren kleinen Hof, und als ich wieder zurückkam, spendete ich jedem Festgenossen einen grünen »gnatzigen« Apfel, und sofort wurde auf allen Seiten hineingebissen, daß es knallte und mir heute noch das Wasser im Munde zusammenläuft. Dann kletterten wir auf die Mauer, welche um die Bekeseite von Bornriekens kleinem Hofe führt. Auf dieser Mauer wuchs, berühmt und zu Heilzwecken im ganzen Dorfe gebraucht, das seltsame 155 Lauch, das man sonst nur auf den Dächern findet; daran naschten wir gern, gewiß nicht um den Wohlgeschmack, sondern wegen des merkwürdigen, fast geheimnisvollen Reizes, den das nestartig auf der Mauer liegende seltsame Gewächs auf uns ausübte.
Na, nun hatten wir der schönen, verbotenen Genüsse genug gehabt. Es schien, als wenn unsere Hühner das auch meinten, von denen immer wieder eins nach dem andern aus dem Hühnerloche guckte, obwohl sie schon vor geraumer Zeit auf ihre Stangen geflogen waren. (Unser Vater hatte die Hühnerstangen hinten auf der Diele über dem Backofen angebracht, damit die Hühner wärmer saßen und im Frühjahr zeitiger Luft zum Eierlegen kriegten.)
Indes war der Kleine in den Lindenbaum geklettert. Er riß ein Blatt vom Zweige und begann mit einem Male einen Galopp zu blasen. Und das Tanzen steckte uns in allen Gliedern: Juch! ging es, und wir nahmen ein jeder, was wir gerade erwischen konnten, ich einen Besen, Bornriekens Sinchen eine Schute, Frohnhöfers Stineken eine Harke, unser Lorchen eine Hacke – und hui, ging's um die Linde herum! In meiner Einbildung war aber mein Besen kein Besen, sondern – Wulwes Jüschen, der große 156 rotbäckige Junge von dem großen Hofe auf dem Broseberge.
Plötzlich, – mir flimmerte es vor den Augen – kam der wirkliche Wulwes Jüschen an der Beke herauf und guckte lachend zu uns her. Ich warf den Besen hin und stürzte ins Haus. Siedendheiß war es mir im Gesichte aufgestiegen, und ich muß feuerrot geworden sein. Doch so ging es mir immer, wenn ich Wulwes Jüschen plötzlich daher kommen sah; bei keinem andern Mannsmenschen, und es waren ihrer doch noch so viele im Dorfe, ist mir in meiner Kinderzeit etwas ähnliches passiert. Ich laufe ins Haus, drücke mich einen Augenblick in den dunklen Hintergrund der Diele und setze dann, während die anderen lustig weiter hüpfen, die Leiter hinauf, ich laufe über den ersten Boden, die »Böhne«, und gucke durch das Wandloch, renne die Leiter zu dem obersten Boden, dem »Balken«, hinauf, gucke durch die Klappe und klettere gar noch zum »Hahnenbalken«, dem kleinen Boden dicht unterm Dachfirst, wo ich verstohlen aus dem Eulenloche spähe. Da sah ich Wulwes Jüschen schon ganz oben im Dorfe an der Beke hinaufgehen; mir klopfte das Herz, ich weiß nicht wie, und ich guckte so lange, bis ich ihn nicht mehr sah. 157
Was hatte das weißhaarige Lindenhüttenmädchen nur, daß es solch ein Herzklopfen kriegte, wenn es den großen, blanken Jungen sah? War es ein Geheimnis, das in dem zehnjährigen Mädchenherzen sich regte? Hatte sich gar schon ein Hornungsblümchen gezeigt? Ja, wer das wüßte! Ja, wer das wüßte! – 158