Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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5.

Fünf Jahre auf dem Grundhofe.

»Wir haben fünf Kinder,« sagte die Frau vom Grundhofe eine drusselige Gestalt mit einem lieben Gesicht, bei meinem Eintritte zu mir, »und wenn du dich gut hältst, haben wir sechs.« Ein vielsagendes Wort, dessen Verständnis wie eine Sonne in mir aufging.

Als die ersten Wochen um waren, sagte ich mir: du hast in einen Glückstopf gegriffen. Arbeit gab's mehr als genug, aber auf dem Goltdorfer 307 Grundhofe war die Arbeit keine Last, sondern eine Lust, da schaffte man wie ein Kind für seine Eltern.

Sie hätten fünf Kinder, hatte mir die Frau gesagt; in Wahrheit hatten sie ihrer aber nur drei, nämlich zwei halberwachsene Mädchen und einen Jungen. Die Fünf wurden erst voll durch Hinzuzählung zweier Knechte. Ich sah aber nur einen. Wo denn der andere wäre? fragte ich. Hanjörg könne leider Gottes nicht auf sein, antwortete die Frau. Er diene schon vierzehn Jahre bei ihnen, habe aber nur die sieben ersten Jahre arbeiten können, die andern sieben Jahre sei er bettlägerig gewesen, und es sei kaum daran zu denken, daß er jemals wieder einen Handschlag thun könne.

Ich schlug die Hände zusammen und fragte, warum sie denn den kranken Knecht behielten, wenn er doch nichts mehr thun könne.

»Du lieber Gott,« entgegnete die Grundhofsmutter mit sehr schmerzlicher Miene, »wer nähme den Ärmsten denn wohl auf, wenn wir ihn nicht behielten? Er hat keine Eltern und keine Geschwister, er hat niemand außer uns. Freilich die Gemeinde müßte ja für seine Unterkunst sorgen – doch man weiß ja, wie's da herzugehen pflegt. Überdies ist auch wohl niemand näher zu ihm als wir. Sieben Jahre hat er uns in 308 Treue und Fleiß gedient, und da ist es doch nicht mehr wie billig, daß wir ihm wieder dienen. Will es mir manchmal zu viel und zu schwer werden, so denke ich an das schöne Wort unseres Heilandes: ›Was ihr gethan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir gethan!‹«

Tief gerührt nahm ich mir vor, die gute Herrschaft allezeit hoch in Ehren zu halten, auch für den kranken Hanjörg zu thun, was nur in meiner Macht stände.

Ich hatte ein ordentliches Verlangen, den unglücklichen Hanjörg zu sehen und ihm eine Freundlichkeit zu erweisen; allein jedesmal, wenn ich die Thür aufmachte steckte er den Kopf geschwind unter die Decke.

»Das macht er immer so, der Hanjörg, es mag hereinkommen, wer will,« sagte unsere Mutter und lächelte. »Er schämt sich, daß er uns so zur Last daliegen muß. Ich habe schon alles mit ihm aufgestellt, daß er das lassen soll; aber alles umsonst. Du muß schon ein Engel sein, wenn du es ihm abgewöhnen willst.«

Und ich hab's versucht, habe wie eine treue Schwester jahrein, jahraus dem wunderlichen Hanjörg ans Herz geredet, allein ich habe nichts über ihn vermocht. Sobald ich hereinkam, steckte Hanjörg den Kopf unter die Decke. – 309

Es ging ein volles Spann Pferde auf dem Grundhof, und wir hatten sechs Kühe im Stall; es gab also Arbeit in Hülle und Fülle, aber es gab auch genug zu essen, und das Essen war gewürzt mit Liebe und Güte, darum noch einmal so schmack- und nahrhaft. Kaffee gab's gewöhnlich nur am Sonntagmorgen, denn wir fingen nach der alten Mode frühmorgens mit einer kernigen Mehlsuppe an.

Es versteht sich von selbst, daß ich, so oft es meine Zeit erlaubte, zu Holzhöfers ging. Ihr Haus war mir allgemach die zweite Lindenhütte geworden. Konnte ich mehrere Tage wegen allzu vieler Arbeit nicht hinüberkommen, that mir ordentlich das Herz weh.

Die Grundhofsleute sahen es auch von Herzen gern, daß ich mich zu Holzhöfers hielt. »Es ist ein gutes Zeichen, Friedesinchen, daß du die Holzhöfers so gern hast und daß sie auf dich so große Stücke halten. Holzhöfers thun ihr Haus und Herz keinem Unwürdigen auf. Solange du bei ihnen ein- und ausgehst, sind wir gewiß, daß wir ein braves Mädchen an dir haben.«

Unter solch glücklichen Verhältnissen flogen mir die Jahre hin, als wären es Monde. – Lorchen und ich hielten je länger, je mehr zu einander wie treue Schwestern; jauchzte sie, so jauchzte 310 ich auch; mußte ich einmal traurig sein, war sie es sicher auch. An dem Sonntagabenden im Sommer saßen wir Hand in Hand inmitten des Goltdorfer Jungvolks unter den freundlichen Thilinden. An den Winterabenden gingen wir zusammen in die Spinnstube, und wo wir gingen und standen, da war Fröhlichkeit und Lachen, da gab's klingende Lieder. Die Lieder jener jugendheißen Zeit hatten merkwürdigerweise alle ein und denselben Inhalt, mochten sie den Worten nach auch noch so verschieden lauten.

»Mein Schatz hat rote Wangen,
Ach könnt' ich bei ihm sein;
Ich kann ihn nicht erlangen,
Ich kann ihn nicht erlangen,
Ich kann nicht bei ihm sein.

In meines Vaters Garten
Da steht ein schöner Baum,
Darunter wächst Vergißmeinnicht,
Das heißt, mein Schatz, ich liebe dich,
Ich liebe dich allein!«

Ja, so sangen wir. Die Lieder waren das Echo unserer Jugendlust.

Bruder Hanfrieder, der uns oft besuchte, ja schließlich allsonntäglich von Hilgenthal herüber kam, zog mich einmal beiseite und flüsterte mir ins Ohr: »Holzhöfers Lorchen wäre das schönste und beste Mädchen von ganz Goltdorf.« 311

Als ich ihn darauf lachend ansah, war sein Gesicht feuerrot. Ich glaubte zu wissen, daß auch Lorchen unseren Hanfrieder für den schönsten und besten Burschen von ganz Hilgenthal hielt. Ich sagt's ihm aber nicht; denn man muß den Burschen nicht zuviel sagen. Ich wollte ihn aber auch nicht ganz im Ungewissen lassen und öffnete den Garten ein wenig, daß er sehen konnte, wie es um die Rosen stand. Doch da kriegte er's auf einmal mit der Angst zu thun, nahm seinen Stock und sagte: »Lebe wohl, Schwester, ich komme nie wieder.«

»Na, warte nur, du bist mir ein wackerer Bruder!« schalt ich und lachte ihn tüchtig aus. Es kam mir possierlich vor, daß Hanfrieder auf einmal so sehr verliebt war und mit seiner Liebe nichts anzufangen wußte.

Andern Tags in der Dämmerung, als ich auf dem Melkschemel im Kuhstall saß, huschte plötzlich Holzhöfers Lorchen herein und setzte sich kichernd auf den Krippenrand: »Friedesinchen, wenn du wüßtest, was ich weiß . . .! Aber nein, ich darf's dir nicht sagen – ich hab's ihm ja versprechen müssen. Wenn ich's nur für mich behalten könnte!«

Eine wonnige Ahnung stieg in mir auf; aber ich ließ mir nichts aus und erwiderte mit demselben Worte und demselben Mienenspiel: »Und wenn du wüßtest, was ich weiß . . .« 312

»Du?! Was kannst denn du wissen?« entgegnete Lorchen und hielt gespannt den Atem an.

»Warum sollte ich nicht auch was wissen können?« lachte ich, lenkte aber sofort ein: »Nein, ich darf's auch nicht sagen, ich hab's ihm versprochen . . .«

Jetzt sah ich, daß ihr alles Blut in die Wangen schoß und ihr Busen heftig gegen die Jacke pochte.

»Lorchen!« rief ich und zwang mich zum Lachen. Da schwang sie sich über die Krippe, umschlang mich mit beiden Armen und flüsterte mir heißblütig ins Ohr: »Friedesinchen, du mußt mir's sagen – hernach sage ich's dir auch.«

»Erst mußt du es sagen,« verlangte ich.

Da preßte sie ihre glühende Wange an meine glühende Wange und flüsterte, während ich die Milch in den Eimer strullen ließ: »Lorenz rief mich gestern in den Holzstall und – nein, Friedesinchen, du lachst, ich sag's nicht. Wenn du ihn nicht möchtest, hernach machst du dich wohl gar lustig über ihn. Nein, ich sag's nicht!«

»So sag's doch,« drängte ich und dachte vor der starken Erregung, die jetzt über mich gekommen war, gar nicht daran, daß sie es schon gesagt hatte.

Zögernd fuhr Lorchen fort: »Er sagte, du wärest das schönste und beste Mädchen von ganz Goltdorf – und wenn er dich 'mal nicht kriegte . . .« 313

»Wer sagte das?« rief ich voller Verwirrung und Aufregung.

»Jetzt mußt du mir erst sagen, was du weißt!« flüsterte Lorchen und hielt mich so fest umklammert, daß ich kaum Atem holen konnte.

»Gerade dasselbe hat er auch gesagt!« warf ich rasch hin.

»Wer?«

»Ei wer! Närrin du!«

Unsere Liebe war ans Sonnenlicht gekommen – so plötzlich und so ungeahnt wie an einem Februarmorgen im Walde das Schneeglöckchen. Wir bargen sonst kein Geheimnis voreinander und hätten uns sicher auch dies einzige Geheimnis schon längst verraten, wenn – unsere Herzallerliebsten nicht unsere Brüder gewesen wären und das damit zusammenhängende eigene Gefühl uns die lange Zurückhaltung aufgezwungen hätte.

Als der Mond schien, gingen wir Arm in Arm nach den Linden auf dem Thi, setzten uns unter die Linden und sangen wie die Nachtigallen in der Mainacht.

Die Grundhofsmutter sagte anderen Tages, wir könnten schön singen, das wäre nun einmal wahr, aber so schön wie an diesem Abend hätte sie uns noch nicht singen hören, das hätte der Vater auch gesagt und die Nachbarn auch. Vor 314 allem hätte ihnen das Lied von dem braven Husaren so sehr gefallen, dessen Schatz gestorben war, das müßten wir heute Abend noch einmal singen, es ginge gar zu rührend.

Haben uns denn auch nicht nötigen lassen; sangen es an dem Abend gar zweimal, das erste Mal gleich auf dem Grundhofe, und da weiß ich noch, daß unserer Frau die hellen Thränen über die Backen gekugelt sind bei der Stelle:

»Wo kriegen wir sechs Träger her?
Sechs Bauernbuben die sein so schwer,
Sechs brave Husaren die müssen es sein,
Die tragen mein Schatzliebchen heim.«

Ich meine überhaupt, daß wir bei all unserem Liebesglück mehr traurige als lustige Lieder gesungen haben; ob deshalb, weil uns die traurigen tiefer durchs Herz gingen, weil unsere Herzen starke Bewegung verlangten? Ob wir uns überhaupt etwas dabei dachten? Ich weiß es nicht zu sagen. Aber von einem Liede weiß ich, daß es mir ganz plötzlich wie ein schwerer Stein aufs Herz fiel. Es war ein Lied, das uns die Pastormagd gelehrt hatte, die von weither gekommen war. Das Lied, das ein Stück meines Lebens geworden ist, ging so:

»Ich hab' die Nacht geträumet
Wohl einen schweren Traum, 315
Es wuchs in meinem Garten
Ein Rosmarienbaum.
Ein Kirchhof war der Garten,
Das Blumenbeet ein Grab,
Und von dem grünen Baume
Fiel Kron' und Blüte ab.
Die Blätter thät ich sammeln
In einen goldnen Krug,
Der fiel mir aus den Händen,
Daß er in Stücken schlug.
D'raus sah ich Perlen rinnen
Und Tröpflein rosenrot:
Was mag der Traum bedeuten?
Ach, Liebster, bist du tot?«

Kennt ihr das finstre Gewölk, das plötzlich unter dem jungen Himmel des Glückes hinzieht? Jenes inmitten hellster Freude über uns kommende, in uns aufsteigende dunkle, dumpfe Gefühl, das wir Ahnung nennen?

Als das Lied erklang, war es mir eine Weile, als wär' eine Saite in meinem Herzen zersprungen! Doch die Jugendfröhlichkeit setzte sich bald wieder darüber hinweg.

Es ward wieder Winter, und die Spinnstuben thaten sich auf. Eines Morgens, als der Schnee schon sehr hoch lag, sah mich unsere Frau mehrmals so schelmisch von der Seite an und stichelte: »Na, Friedesinchen, in der Spinnstube ist's jetzt wohl ganz besonders schön?« 316

Ich sollte gerade das Ofenfeuer schüren, schürte es aber nicht, sondern rannte zur Küchenthür hinaus, als wenn ich in Feuer und Flammen stände. Stand ich nicht wirklich auch in Feuer und Flammen?

Nach einer Weile, als ich schon wieder neben der Frau hantierte, fing sie abermals an: »Holzhöfers Lorenz ist doch fürwahr keine Nacht zu finster, kein Frost zu hart und kein Schnee zu tief. Wer noch solches Blut und solchen Mut haben könnte! Was mag er nur so Besonderes auf 'm Korn haben, der Tausendsassa?«

Indem kam der Bauer in die Küche und meinte: Wo man was Wehes hätte, danach griffe man – und wo man was Liebes hätte, danach ginge man! Das müßte Mutter doch noch wissen. Damit nahm er eine Kohle aus dem Feuer, legte sie in den Pfeifenkopf, paffte, daß ihm der Dampf um die Ohren flog und summte im Fortgehen mit einem Blick auf mich:

»Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß,
Als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß.«

Er warf mir einen lachenden Blick zu und ging hinaus. – Mir aber standen jetzt, ich weiß nicht, wie es kam die Augen voll Thränen. 317

Da legte mir die Frau ihre rechte Hand unters Kinn, hob mir den Kopf hoch auf und sagte in ihrer herzlichen Weise: »Es geht die Rede, Friedesinchen, Holzhöfers Lorenz käme lediglich deinetwegen – und er säße nur bei dir in der Spinnstube. Na, Mädchen, thu' nur nicht so. Ist's wahr, daß ihr euch gern habt – keiner würde sich mehr freuen als ich und unser Vater. Ich gönne Lorenz 'mal 'ne brave Frau und dir 'n braven Mann. Und will's Gott, daß ihr beide füreinander geschaffen seid, daß ihr euch kriegt – Ähnlichkeit habt ihr miteinander – so wird jeder von euch gut ankommen. Doch bis zur Hochzeit soll's noch gute Weile haben, nicht wahr? In zwei Jahren dienst du sieben Jahre bei uns – dann geben wir dir's Brautbett.«

Jetzt wußte ich nicht, sollte ich lachen oder weinen? – Ich habe kein Wort gesagt. Hernach, als ich ganz allein war, mußte ich mir beide Hände auf die Brust pressen, mußte ich leise schluchzen und jauchzen – so stark glühte die Liebe in mir. Und Tag und Nacht war Lorenz mein einziger Gedanke.

Wie immer im Winter gin'gs in aller Morgenfrühe – noch bevor der Nachtwächter seine letzte Runde gemacht hatte, zum Dreschen auf die Scheuer; da hab' ich den Flegel so hoch gehoben, 318 daß er fast bei jedem Schlage oben unter den Balken flog. Gesagt hat der Herr darüber nichts; was mag er aber wohl darüber gedacht haben?

Wenn die Uhr sechs schlug, ging ich allemal nach der Regel von der Scheuer an den Herd, um Feuer anzumachen. Das war aber dazumal nicht so leicht wie heute. Da konnte man oft lange stehen und pinken, ehe der Zunder zu brennen anfing. Daß man schließlich auf und davon lief und im Nachbarhause kundschaftete, ob sie schon Feuer hätten, war etwas ganz Gewöhnliches; es ging kein Morgen hin, daß man nicht etliche Frauen oder Mädchen mit schwelenden Kohlen über die Straße eilen sah.

Auch mir passierte es an diesem Morgen, daß ich kein Feuer ankriegen konnte.

So dachte ich: Lauf die paar Schritte nach Holzhöfers, gewiß haben die schon Feuer, und dann hast du auch was.

Unsere Frau pflegte erst aufzustehen, wenn der Ofen warm war; sie sagte, ich nähme ihr alle Arbeit von der Hand, was sie denn nun so früh aufthun solle, da sie das Dreschen doch nicht mehr so könne. Da war es mir nun ganz und gar nicht einerlei, daß mir das Feuer an diesem Morgen so viele Umstände machte. »Frau ich muß sehen, daß ich Kohlen kriege!« 319 rief ich hastig in ihre Schlafkammer hinein und rannte durch hohen Schnee an den Häusern hin. Sah's schon an Holzhöfers Schornsteine, daß da was zu kriegen war. Die Freundin stand am flackernden Herde und hielt die Schürze an die Augen.

Sie schrak zusammen und hielt ihr Gesicht vor mir abgewandt. Da schlang ich meinen Arm um ihren Hals und gewahrte nun zu meinem Schrecken, daß ihr die hellen Thränen über die runden Backen liefen. Ich schlug die Hände zusammen: »Mein Gott, Mädchen, was ist dir?« Kriegte aber kein Wort aus ihr heraus; sie lehnte ihren Kopf an meine Brust und schluchzte, als ob sie ein großer Jammer bedrücke. – Kopfschüttelnd lief ich endlich mit den Kohlen davon.

Am Abend erst, als wir ein Weilchen ganz allein bei einander standen, hat sie mir ihr Herz aufgethan, und da – habe ich sie gehörig ausgelacht. »Ach, Friedesinchen«, klagte sie, »ich weiß es jetzt, euer Hanfrieder hat mich doch nicht gern. Sieh', es sind nun schon über acht Tage her, daß er sich hier nicht hat sehen lassen; unser Lorenz ist unterdessen schon dreimal hier gewesen deinetwegen.«

»Lorchen!« erwiderte ich, »bist doch närrisch! Laß das ja den Hanfrieder nicht wissen, daß 320 du dir seinetwegen so unbegründeten Kummer machst: das sollte ihm wahrhaftig in die Krone ziehen. Sei nicht ängstlich, Mädchen; den Jungen hast du so fest geschmiedet, daß er mit Gutem nicht wieder von dir los kann. Dafür sage ich gut. Wenn Lorenz mehr kommt als er, so ist das nicht zu verwundern, denn er hat einmal einen lustigeren Sinn; sodann wird's ihm in der Drechslerwerkstatt auch nicht so sauer wie unserem Hanfrieder im Holze.«

Schon am andern Tage erhielt Lorchen einen schönen Gruß von Hanfrieder. Da glaubte sie meinen Worten. Die Überbringerin des Grußes war meine Schwester Lorchen, die kam, um mir die Mitteilung zu machen, daß sie zu Ostern in die Pfarre zu Eberstein käme.

Die Mitteilung erweckte ein schmerzliches Gefühl in mir; Lorchen, das drusselige, kleine, ahnungslose Ding, sollte nun auch schon in die kalte, unerbittliche Fremde hinaus? Sollte vielleicht auch leiden müssen, was ich gelitten hatte? Es wallte stürmisch in mir auf, und ich schloß die munter aussehende Schwester an meine Brust.

»Pfarrmagd sollst du werden, Lorchen? Nun, gewiß ist das Pfarrhaus ein Vaterhaus, und du wirst ein Kind darin sein! Gott wolle es geben.« 321

Als unser Herr und unsere Frau davon hörten, machten sie beide ein sehr bedenkliches Gesicht und sagten: »Wenn das nur ein geeigneter Platz ist für das Kind! Es ist ein Mädchen hier im Dorfe, das hat gerade ein Vierteljahr im Ebersteiner Pfarrhause gedient, hat's nicht länger aushalten können, ist bei Nacht und Nebel davongelaufen. Zwar ist dem Mädchen nicht viel zu trauen: allein wenn auch nur der zehnte Teil ihrer Erzählungen wahr ist, möchten wir nicht raten, Lorchen ins Ebersteiner Pfarrhaus zu thun.«

Holzhöfers sagten nicht anders.

Ich rannte zu der ehemaligen Pfarrmagd und traf sie, wie sie wohlgemut ihrer Eltern Brot aß. Herr Gott, machte die eine Beschreibung von dem Pfarrhause. Gar nicht wiederzugeben ist's. Daß man sich tot hungern und tot arbeiten müsse, war noch das mindeste.

Ich rang die Hände: »Arme, arme Schwester!« Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: Lorchen wird nicht Pfarrmagd!

Ich schickte das Mädchen nach Hause und trug ihm auf, dem Vater zu bestellen, er solle den Pfarrleuten aufsagen, ich wolle eine passendere Stelle ausfindig machen.

Am folgenden Sonntage kam Hanfrieder herüber und bestellte zurück, es könne den Pfarrleuten 322 nicht wieder aufgesagt werden, sie hätten schon den Mietgulden gegeben; übrigens könne sich Lorchen auch gar keine bessere Stelle wünschen.

Mir stieg das Blut zu Kopfe. »Hanfrieder, ich weiß, was ich bei den Kanzleileuten und den Metzgerleuten ausgehalten habe. Vorhin hieß es aber auch immer, was für schöne Stellen das wären. – Ich leide nicht, daß Lorchen ins Ebersteiner Pfarrhaus zieht. Sie soll das Elend nicht durchmachen, das ich durchgemacht habe. Ich leid's nicht.«

»Aber, liebes Friedesinchen, was ereiferst du dich denn so?« entgegnete Hanfrieder; »die Ebersteiner Pfarrersleute sind wirklich gute Leute.«

Ich antwortete nichts weiter, und die Sache schien abgethan. An den folgenden Tagen ging ich viel in Gedanken, und als das heilige Weihnachtsfest kam, sagte ich zu meiner Herrschaft: »Zu Ostern muß ich gehen.«

Das hielt die Herrschaft erst für Spaß; als sie aber merkte, daß es mir bitterer Ernst war, fing die Mutter an zu weinen und sagte: »Das hätte ich nicht gedacht, Friedesinchen . . .«

Dies kurze, schmerzliche Wort ging mir durchs Herz, und es kam, daß auch ich weinen mußte. Da sagte der Vater: »Friedesinchen, du besinnst dich wohl wieder. Siehe, es werden nun Ostern 323 bereits fünf Jahre, daß du bei uns bist, und da sind wir so sehr an dich gewöhnt, daß wir dich nicht lassen können. Willst du dir denn das Brautbett nicht bei uns verdienen?« Und fünf ganze Thaler wollten sie mir sofort noch zulegen.

Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Ich will für unser Lorchen in die Stelle . . . Ich habe mich lange genug besonnen und meine, daß ich so das Rechte thu'. Keine frohe Stunde könnt' ich haben, wenn ich denken müßte, daß unser Lorchen, das so viel schwächer und unerfahrener ist als ich, all das durchmachen müßte, was ich durchgemacht habe, ehe ich hierher kam . . .«

Unser Herr schritt zweimal rasch durch die Stube: »Mutter – Lindemannsches Blut müssen wir behalten – ich bin der Meinung, daß wir das kleine Lorchen nehmen an Friedesinchens Statt, wenn sie sich durchaus nicht halten lassen will.«

Feuchten Auges sah die Frau erst mich, dann ihren Mann an, und es dauerte eine Weile, ehe sie sagte: »Ich meine auch, so nehmen wir die Schwester.«

O, ich hätte den guten Leuten um den Hals fallen können! Gerade das hatte ich ja von Anfang an im Stillen gehofft.

Am nächsten Sonntage ging ich nach Hilgenthal und teilte dem Vater alles mit. Groß sah 324 er mich an, drückte mir dann die Hände und erklärte, er wolle nichts dazu sagen, sondern alles in Gottes Willen stellen.

Auf einmal schmiegte sich Christine, die jetzt im zwölften Jahre stand, an mich und flüsterte mir ins Ohr: »Nicht wahr, Friedesinchen, mir machst du auch eine gute Stelle aus, wenn ich aus der Schule gekommen bin?«

Ich schloß die junge Schwester, deren sanftes Wesen lebhaft an unsere selige Hanneliese erinnerte, fest an mich.

Als wir noch davon sprachen, kam eine krumme, dürre Frau in die Stube gehumpelt, hob mühsam das Gesicht zu mir auf und keuchte: »Bist du's wirklich, Friedesinchen? Gott, was doch aus dem Menschen werden kann! Bist ja fürwahr so groß und so rosenrot geworden, daß man sich fragen muß, ob das auch wirklich Friedesinchen ist.«

Frohnhöfers Dortchenpate war es, die vor mir stand; auch ich erkannte sie fast nicht wieder, so sehr hatte sie gealtert.

Eine eigene Bewegung kam über mich, und ich konnte garnicht viel sagen.

Da klopfte es ans Fenster, und sogleich schob es unser Vater auf und rief: »Ei guten Tag, Herr Pastor!« 325

Husch, stand ich hinter dem Vater und erblickte nun zwischen zwei herabhängenden Lindenbaumzweigen das schneeweiße, zitternde Haupt unseres treuen Seelsorgers.

»Ich höre, Euer Friedesinchen ist heimgekommen,« fragte der liebe Herr. Da ging ich eilends hinaus und reichte ihm schämig die Hand zum Gruße. Er hielt sie lange fest, sah mir in die Augen und sagte, während Wehmut und Heiterkeit auf dem milden Angesichte wechselten: »Sieh, ich sehe einen jungen Stamm in vollen, lieblichen Blüten; Gott behüte ihn, daß kein Spätfrost ihn vernichte!« – Ehe er sich zum Gehen wandte, hob er noch den Finger und fragte: »Friedesinchen, denkst du auch noch an den Jüngling . . .?«

Ein Hustenanfall unterbrach ihn.

Mir schoß das Blut ins Gesicht. Wußte es auch der Herr Pastor schon, daß Lorenz Holzhöfer mein Schatz war? Ei, so schämte ich mich denn doch, daß ich ins Mausloch hätte kriechen mögen.

». . . an den Jüngling zu Nain?« lautete dann aber das Ende der Frage.

Wie vom Alp befreit, sah ich zu dem lächelnden Greise auf, ich antwortete, daß die wunderbare 326 Geschichte mir nie und nimmer aus den Gedanken kommen solle.

»Halte sie fest, liebes Kind!« mahnte er feierlich ernst. »Bewahre die Geschichte in gläubigem Herzen, liebes Kind! Du hast, will's Gott, noch einen langen Lebenslauf vor dir; der meinige gehet zu Ende. Aber ob lang, ob kurz – – wenn unser irdischer Lebenslauf nur in dem Glauben endigt, daß unser Heiland uns dereinst zu einem ewigen Lebenslaufe wieder auferwecken wird. In diesem Glauben gehen unsere Füße auf Dornen und Steinen wie auf Samt und Seide. – Lebe wohl, Gott mit dir, Friedesinchen!«

Der Schatten wurde schon lang, als ich den Rückweg antrat; Hanfrieder brachte mich durch den Hegebusch, und hinterm Hegebusche standen – Lorchen und Lorenz.

Na, da hat es dann natürlich noch eine gute Weile gedauert, bis Hanfrieder durch den Hegebusch zurück gekommen ist. Die Finsternis hat ihn nicht geschreckt, denn in ihm war lauter Sonne.

Lorenz hoffte noch immer, ich würde ihm zulieb in Goltdorf bleiben; er kam zu dieser Zeit öfter als zuvor von Geismar herüber und gab mir die himmelschönsten Worte, daß ich doch 327 nicht fortgehen möchte. Als aber dennoch der Tag herankam, daß wir Abschied voneinander nehmen mußten, da zog er mich an seine Brust und erinnerte mich an das Lied, das wir oft miteinander in der Spinnstube gesungen hatten:

»Hier auf dieser Stelle
Schwör' ich, Mädchen, dir –
Und du thust desgleichen
Einen Schwur zu mir.

Diesen Schwur zu halten,
Das sei unsre Pflicht.
Selbst der Tod zertrennet
Unsre Liebe nicht.«

Wie bitter mir das Scheiden von Goltdorf war, kann ich nicht beschreiben. Ich habe um all die Lieben, die ich verlassen mußte, viel geweint; ach und ich habe auch in manches thränengefüllte Auge sehen müssen. Selbst unserem kranken Hanjörg sind die Thränen über das Gesicht gestürzt, und das hat mich noch am tiefsten ergriffen. Ich hatte in all den fünf Jahren sein Angesicht nicht ein einzigmal zu sehen bekommen; doch als ich nun zum letztenmal an seinem Schmerzenslager stand und ihm sagte, daß ich jetzt fort müßte, daß er aber nichts verlöre, da meine Schwester Lorchen an ihm ganz dasselbe thun werde, was ich gethan hätte; – als ich 328 dann mit dem Abschiedsgruße: »Helf dir Gott, lieber Hanjörg!« an die Thür zurücktrat: da hörte ich plötzlich ein starkes Schluchzen, und auf einmal hob Hanjörg langsam den Kopf über die Decke. Ich traute meinen Augen nicht und mußte sie wegwenden – so schreckhaft und jammervoll war der Anblick dieses von Thränen überrieselten Totenangesichts.

Ach, lieber Gott, was hat doch der eine Mensch vor dem anderen! Du mit deiner rüstigen Gesundheit und dem frischen, schönen Gesichte – denkst du wohl daran? 329


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