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Ich war wieder daheim und war doch nicht daheim, denn nun mußte ich alle Tage vom frühen Morgen bis zum späten Abend ins Tagelohn, gewöhnlich nach dem »Hofe«, hin und wieder nur einmal mit Bornriekens und Frohnhöfers.
Unser Vater seufzte manchmal, wenn er noch lange vor Tage an meinem Lager stand und mich aus dem Schlafe rüttelte: »Wie viel besser hättest du es haben können, Kind, wenn du bei den guten Meisterleuten in Siepolsdorf geblieben wärest. Die würden dich nicht übernommen haben, und da hättest du erst 'mal ordentlich Stahl in die Knochen gekriegt, denn die haben alles vollauf und brauchen nicht auf ein Stück zu sehen.«
Im Herzen mußte ich ihm recht geben; um ihn aber nicht noch mehr zu bekümmern, legte ich nach solchen Seufzern allemal soviel Fröhlichkeit 233 an den Tag, als ob es mir gar nicht wohler ergehen könne; auch beeiferte ich mich dann stets aufs neue, ihm soviel Liebes und Gutes zu erweisen, als ich ihm nur an den Augen absehen konnte. Manchmal, wenn ich abends heimkam und sah, daß es dem Vater sauer geworden war und Stineliese nichts Rechtes gekocht hatte, backte ich ihm rasch ein Spiegelei, das aß er so gern, und es freute ihn auch so.
Stineliese brachte lieber jedes Ei zum Krämer, es ärgerte sich und mochte wohl meinen, ich wäre so um den Vater herum, damit er sagen solle: »Friedesinchen, du bist besser als Stineliese! Du bleibst da und versiehst das Hauswesen; Stineliese aber soll auch 'mal zu den fremden Leuten hinaus und Moritz»Moritz« = Mores, die Sitten. kennen lernen.« Gott ist mein Zeuge, daß ich solche Hintergedanken nicht gehabt habe.
Stineliese blieb bei ihrem Argwohn, und ob ich wie ein Ohrwurm um sie herumkroch, hatte ich doch keine frohe Stunde bei ihr. Da gedachte ich zerknirschten Herzens der Meisterleute von Siepolsdorf, ließ es mir aber nicht aus. Indes ging unter heißer Mühe und Arbeit ein Tag nach dem andern hin, und endlich waren wir ins Garn des Altweibersommers gelaufen. 234
Eines Sonntags hörten wir ein seltsames Geschrei in der Luft: die Schleckergänse zogen über Hilgenthal hinweg dem Süden zu. Da kam eine merkbare Erregung über unsern Vater, er ging eilig hin und her und sagte: »Wenn de willen Gäse trecken, will de Winter von Norden recken.« Kennst du die Empfindungen, die das Herz des Armen beschleichen, wenn der Winter heranrückt? Wenn Frost und Schnee immer dicker, Korn und Kartoffeln aber immer dünner werden? Nur dann mag dir die Erregung unseres Vaters erklärlich erscheinen. In jenem Herbste gab es viel Eicheln, aber wenig Kartoffeln, ein Mißverhältnis, das für die Armen allemal nichts Gutes verheißt. »Viel Eicheln, viel Schnee,« sagte der Vater. Um so schmerzlicher mußte von vornherein der geringe Ertrag der Kartoffelernte empfunden werden. Wir hatten einen vollen Tag zu roden; als wir aber am Abend die Ausbeute besahen, waren es nur knapp sieben Sack.
Immer mehr dachte ich an die schöne, schöne Stelle in Siepolsdorf, und schließlich sagte ich zum Vater, der sehr bekümmert war: »Vater, ich hätte Lust, wieder einen neuen Dienst anzunehmen.«
Überrascht sah er mich an. »Ja, Kind, das wäre wohl das Rechte; denn der Lebensmittel 235 sind wenig, und der Winter wird uns hart treffen. Ja, Kind, nimm in Gottes Namen wieder eine Stelle an.« Man sah, es war ihm ordentlich leichter geworden.
Jetzt mischte sich Hanfrieder ein: »Vater, ich meine, es könnte Stineliese, die doch so viel stärker ist als Friedesinchen, eine Stelle annehmen.«
Da kniff Stineliese die Lippen aufeinander und warf mir einen zornsprühenden Blick zu.
Obwohl bei Hanfrieders Vorschlag eine helle Freude mich durchrieselte, dachte ich doch, Stineliese einen Gefallen zu thun und sagte: »Ich möchte lieber eine Stelle annehmen als hier bleiben, denn ich kann doch noch kein Mittagessen kochen und auch unsere Kuh noch nicht ordentlich melken.«
»Das lernt sich immer besser, Friedesinchen!« meinte Hanfrieder und nickte mir zu.
Indes gab des Vaters Wort den Ausschlag, daß Stineliese bleiben müsse.
Ich war damit zufrieden, denn ich dachte an meine verscherzte Stelle in Siepolsdorf und meinte, daß ich's wieder so gut kriegen würde.
Am nächsten Tage wurden wir gewahr, daß der Kanzlist Kruterjahn aus Göttingen im »Kruge« sei und nach einer Magd kundschafte. Sogleich ging der Vater hinunter in den »Krug« und 236 bot mich dem Herrn Kanzlisten an. Es dauerte auch nicht lange, da kam der Herr selber mit unserem Vater zur Lindenhütte heraus. Es war ein gar feiner Herr, und er hatte ordentlich eine Brille auf. Mir klopfte das Herz; hätte vor Angst in ein Mausloch kriechen mögen. Allein meine Angst war unnötig, denn der Herr Kanzlist Kruterjahn zeigte sich als der leutseligste Herr von der Welt. So gesprächig und so liberalig, auch so spaßhaftig – daß es gar nicht zu sagen ist. Er hatte auch für unseren Vater im »Kruge« gleich was zum besten geben wollen, das hatte der aber nicht angenommen. Wo soviel Sonne ist, da muß auch zuletzt alles Eis schmelzen. Als der Herr Kanzlist nach einer halben Stunde die Lindenhütte verließ, hielt ich einen blanken halben Gulden in der Hand. Zu Martini, so war abgemacht, mußte ich den Dienst antreten.
Als der Tag kam, schnürte der Vater mir zwei Hemden, zwei Röcke, zwei Paar Strümpfe, eine Schürze und eine Jacke zusammen, steckte den Knust zwischenhinein und sagte, während ihm eine Thräne über die furchigen Backen fiel: »Nun reise mit Gott, Kind, und halte auf deiner neuen Stelle wenigstens ein volles Jahr aus, daß du dir nicht neuen Schimpf zuziehst.« 237
Da mir die Stadt von Siepolsdorf her schon bekannt war, so ging ich den drei Stunden langen Weg mit meinem Bündel unterm Arme ganz allein. Um Mittag des Martinitages kam ich vor den Thoren der Stadt an. Nach langem Umherirren traf ich einen feingekleideten Herrn, der mir die Wohnung des Herrn Kanzlisten ganz genau beschreiben konnte. »Sie müssen, wenn Sie an dem Hause angekommen sind, drei Treppen hinaufsteigen und dann die Klingel ziehen,« sagte er.
»Sie« redete er mich an – ich wußte nicht, wie mir geschah; bis in die kleine Zehe hinein prickelte das. Es war mir zum erstenmal in meinem Leben vorgekommen, daß jemand »Sie« zu mir sagte. Merkwürdig, was solch ein kleines Wort in der Brust zu erregen vermag! Ich kenne keinen Stolz, glaube aber, daß er sich damals in mir regte.
Gehobenen Sinnes ging ich auf das Kanzlistenhaus zu und klopfenden Herzens stieg ich die Treppen hinauf.
Auf mein zaghaftes Klingeln öffnete eine Frau, die ein schreiendes Kind auf den Armen hielt. Es war die Frau Kanzlistin selber. Ihr Anblick machte mich stutzig, denn sie sah ruppig und struppig aus und hatte jene grünlich trüben 238 Augen, denen ich schon gleich nie trauen konnte. Unter einer Frau Kanzlistin hatte ich mir etwas arg Vornehmes gedacht, ich merkte aber gleich, daß es mit der Vornehmheit nicht weit her war und mit der Freundlichkeit auch nicht.
Schon der folgende Tag brachte mir den Beweis, daß meine Sinne mich nicht getäuscht hatten. Es war kurz vor dem Mittagsessen, als mir die Frau Kanzlistin zum erstenmal die Haare zauste. – Und es war kurz nach dem Mittagsessen, als mir der Herr Kanzlist gleich eine so kräftige Ohrfeige gab, daß mir für eine Weile Hören und Sehen verging.
Ich war wie aus den Wolken gefallen und schluchzte in mir: »Ach, Siepolsdorfer Meisterin!«
In der Abenddämmerung mußte ich eine »Reise« Wasser vom Straßenbrunnen heraufholen; da traf ich einen Mann, der mich fragte, ob ich des Schreibers neue Dienstmagd sei?
»Des Schreibers nicht, sondern des Kanzlisten«, antwortete ich mit weinerlicher Stimme.
Kanzlist und Schreiber wäre so gut ein und dasselbe wie Hinze und Kater, sagte der Mann, und ich möchte mir nur um alles in der Welt auf den Kanzlisten nichts einbilden. Solche Leute wären nach oben Würmer und nach unten Ochsen mit Hörnern und Klauen. Ob mir heute 239 mittag nicht schon die Haare gezaust wären und ob ich nicht auch schon eine Ohrfeige gekriegt hätte.
Ich stutzte und antwortete nicht. Da fuhr er fort: »Nicht wahr, Kind, vor dem Essen hat dich die Frau gezaust und nach dem Essen hat dir der Mann eine Ohrfeige gegeben?«
Meine stürzenden Thränen überhoben mich der Antwort.
Der Greis nickte vor sich hin und hob wieder an: »Sieh, vor dem Essen ärgert sich das Weib, daß du auch was essen mußt – und nach der Mahlzeit ärgert sich der Schreiber, daß du was gegessen hast. So haben's mir alle Mädchen geklagt, die vor dir dort gewesen sind. Du dauerst mich, Kind; wenn dir dein Kopf lieb ist, so sieh zu, daß du wieder fortkommst.«
Er klopfte mich auf die Schulter und ging eilig davon. »Je eher, desto besser!« rief er nochmals zurück.
Das war ein schöner Trost!
Ich kam mir vor wie eine Maus in der Falle – und furchtbar wühlte der Jammer in meinem Herzen. Nun wußte ich erst so recht, was ich an den guten Meisterleuten von Siepolsdorf gehabt und wie schwer ich mich an dem Fuße unseres Vaters versündigt hatte. Wie ein 240 Höllenbrand loderte die böse Lüge in meiner Seele. Das ist die Strafe, sagte ich mir und that das Gelöbnis, nie wieder durch eine Lüge meinen von Gott bestimmten Lebenslauf nach meinem Gefallen verändern zu wollen. Die Erfahrung hatte mir eine scharfe Lehre gegeben. So wollte ich nun auch jetzt nicht gleich wieder auf Flucht sinnen, sondern für meine Sünde büßen und so lange ausharren, bis der liebe Gott, zu dem ich mit Inbrunst betete, mir selber einen Ausgang aus diesem Elende zeigen würde.
Es verging Woche auf Woche; da ward die Frau Kanzlistin schwer krank. Anfangs meinte ich, nun würde es besser, aber o wehe! Nun sollte ich auf einmal eine fertige Hausfrau sein, drei kleine Kinder versorgen, Krankensuppen und alle Mahlzeiten kochen können und was sonst in der Hauswirtschaft zu thun war. Da ging die Not erst recht an, denn ich verstand von alledem soviel wie die Katze vom Sonntage. Du lieber Himmel! Wo sollte ich's auch gelernt haben? Solange die Frau Kanzlistin gesund war, fiel es ihr nicht im Traume ein, mir eine vernünftige Anleitung zu geben; da war ich nur ihr Scherwenzel.
Die Kranke wollte einmal Kamillenthee trinken. Als das Wasser kochte, rannte ich zum Krankenlager hin und rief, während mir die Hitze des 241 Eifers aus dem Gesicht strahlte: »Frau Kanzlistin, es kocht – soll's noch heißer?«
Na, denke ich, nun kriegt sie die Krämpfe. »Du dumme Gans,« knirschte sie, »wenn's kocht, kann's dann auch noch heißer werden?«
So konnte ich ihr auch gar nichts recht machen. Rief sie mich an ihr Bett, that mir schon jedes Haar weh; hat sie mir doch in wenig Tagen soviel ausgerissen, daß man dicke Zöpfe daraus hätte machen können. Und nun der Herr Kanzlist! Ich zitterte schon, wenn ich ihn nur die Treppe heraufkommen hörte. Es geschah nicht selten, daß er mich unter wilden Flüchen von einer Wand an die andere stieß. Ärger kann selbst der Teufel in der Hölle mit den Verdammten nicht umgehen. Ich litt ohne Klagen weiter.
Die freudvolle Adventszeit war da, und noch immer mußte ich, verachtet, gestoßen, geschlagen, unter meinem schweren Joche einhergehen; nirgends wollte sich ein Ausweg zeigen.
Am Christabend dann trug sich etwas zu, das den Zorn meiner Herrschaft aufs höchste steigerte und eine unverhoffte Wendung herbeiführte. Die Frau Kanzlistin lag noch im Bette; es kam mir aber vor, als fehlte ihr nichts mehr, und ich freute mich schon, daß sie nun bald wieder 242 aufstehen könne. An dem eben erwähnten Tage hatte der Herr Kanzlist sein Frühstück mitzunehmen vergessen, das ich ihm nun nachbringen mußte.
Da traf ich vor der Kanzlei einen feinen, vornehmen Herrn, der gar durch zwei Brillen auf mich herabguckte und mich fragte: »Sag 'mal, du kleiner Weißkopf, wie geht's denn der Frau Kanzlistin?«
»O – ganz gut!« antwortete ich, ohne zu ahnen, was für ein Unheil ich mit der Antwort anrichtete.
»So – ganz gut?« knarrte der Herr in sehr gedehntem und verwundertem Tone und wandte sich nach der Thür, die zur Kanzlei führte.
Kommt nun am Mittag der Herr Kanzlist mit feuerrotem Gesicht die Treppe heraufgestürmt, ergreift mich ohne weiteres bei den Haaren und zerrt mich fauchend vor das Bett der keifenden Frau. »Frau – Frau – – ich kann's dir nicht sagen, was für eine – Kanaille wir haben! – – Hu – hu, ich habe dem Herrn Geheimrat immer geklagt, auch heute morgen erst wieder geklagt, daß du noch so schwer darnieder lägest und daß es höchst traurig um uns stünde und da fällt's hernach dem Herrn Justizrat ein, diese Kreatur zu fragen, wie es dir ginge? – 243 Hu – und was antwortete sie? Ganz gut ginge es dir – ganz gut!«
Wäre nicht der Hausherr plötzlich dazugekommen, hätte mich der wutschäumende Kanzlist sicher umgebracht.
Ich taumelte hinunter und hinaus ins Schneegestöber, und die weichen Flocken kühlten mein brennendes Gesicht. Die Thränen stockten, und ich sah in dem flirrenden, schwirrenden Grau Leute mit Christbäumen hin- und hereilen. Es war, als schwebten sie alle auf den Flügeln der Freude, der süßen, heiligen Weihnachtsfreude. Ein neuer Schmerz, unsäglich und unbeschreiblich, brach in meinem Herzen auf. Ich dachte: Jetzt wird Hanfrieder oder der Vater auch schon einen Weihnachtsbaum heimgebracht haben. O Gott, o Gott, könnte ich doch Weihnachten wieder daheim sein – daheim! Und wenn nun die gute Mutter noch lebte! Kein schönerer Ort wäre auf der Welt, als unsere Lindenhütte! – Indem hörte ich des Kanzlisten harte Stimme mich rufen, und das Entsetzen trieb mich zurück an den Ort meiner Qual.
Ich solle mich heute noch zum Kuckuck scheren, schrie der Herr mich an.
Im ersten Augenblicke erschrak ich, daß mir die Knie bebten; doch gleich kam die Freude mit 244 Gewalt über mein Herz, und ich lief spornstreichs zu meiner Dachkammer hinauf, um mein Bündel zu schnüren. Da aber rief die Frau mit ihrer spitzen Stimme: »Erst scheuerst du Treppen, Vorplatz und die beiden Stuben, dann putzest du die Stiefel, dann klopfest du Kleider aus, dann schälst du Kartoffeln für die Festtage, dann – dann kannst du meinetwegen hingehen, wo du hergekommen bist.«
Und ich dumme Gans eilte ohne Säumen in heller Freude an die Arbeit, ich scheuerte und wusch und wischte und wichste und klopfte und schälte, daß mir der Atem ausging, der Schweiß in Strömen über das Gesicht rann.
Es war schon schummrig geworden, als ich marschbereit aus der schrecklichen Kanzlistenwohnung auf die Straße hinaustrat. Jauchzende Freude und beklemmende Angst rangen miteinander um den Sitz in meinem Herzen, als ich durch den wirbelnden Schnee dem Ausgange der Stadt zueilte.
Als ich dann die Stadt hinter mir hatte, keinen Menschen mehr sah, bei jedem Schritte im Schnee stecken blieb und immer größere Dunkelheit vom Himmel fiel, kam eine so große Angst über mich, daß mir der Atem stockte. »Kehre wieder um,« rief eine Stimme in mir; 245 aber viele andere und viel mächtigere Stimmen riefen: »Nach Hilgenthal zur Lindenhütte, wo heute Abend der Christbaum brennt!« Und ich dachte an meine Mutter, und es war mir eine Gewißheit, daß sie hoch oben im Himmel mit mir ginge – und ich schluchzte: »Mutter, beste Mutter!« – –
Nun fiel mir auch mein Lebensgesang ein:
»Wie Gott mich führt, so will ich geh'n,
Es geh' durch Dorn und Hecken.«
Und ich betete den Gesang und bewegte ihn lange in meinem Herzen. Und keuchend hastete ich vorwärts.
Als ich auf die kleine Anhöhe kam, von der man nach Goltdorf hinabgeht, erhob sich ein scharfer Wind, der mir die wirbelnden Schneeflocken unbarmherzig ins Gesicht schlug.
Ich taumelte; es war mir, als müßte ich ersticken. Ich stak bis an die Hüften im Schnee und schrie laut auf: »O lieber Gott! O Mutter, Mutter!« In dieser höchsten Not vernahm ich helle Stimmen hinter mir. Schallten sie vom Himmel herab? Mein Herz klopfte zum Zerspringen.
»Heda, kleines Christkind, warte uns doch!« hörte ich rufen. Wie gebannt blieb ich stehen. Der Mond lugte vorsichtig aus dem Gewölk, 246 und ob er auch nur einen engbegrenzten Glanz auf die Schneefläche warf, konnte ich doch zwei Gestalten hinter mir gewahren. An den Stimmen merkte ich, daß es ein Mädchen und ein Junge sein mußte. Ich hatte mich auch nicht getäuscht.
»Denk' ich doch,« rief der Junge im Näherkommen, »der leibhaftige heilige Christ wäre vor uns gewesen.« Und als sie mir ganz nahe waren, sahen sie bestürzt auf mich und riefen wie aus einem Munde: »Aber, Mädchen, wohin willst du denn?«
Der Klang ihrer Stimme ging mir durchs Herz, ich atmete wie erlöst auf und antwortete:
»Nach Hilgenthal.«
»Nach Hilgenthal?« riefen sie in großem Erstaunen.
Ich nickte, trocknete mir die Augen und erzählte ihnen mein Schicksal. Da schlug das Mädchen die Hände zusammen und rief in großer Erregung: »Ach, das ist ja dieselbe Stelle, von der auch ich mir schon im letzten Frühjahre ein buntes Ferkel geholt habe. Wie bist du denn an diese garstigen Leute geraten? In der Stadt und nächsten Umgegend können sie kein Mädchen mehr kriegen, so bunt sind sie. 247 Danke Gott, daß du so leicht von ihnen losgekommen bist. – Heute nacht bleibst du bei uns und morgen früh gehst du nach Hause. Wir sind aus Goltdorf, Holzhöfers Kinder. Ich heiße Lorchen, mein Bruder heißt Lorenz. Wie heißt denn du?«
»Ich bin Lindemanns Friedesinchen aus Hilgenthal.«
»Aus der Lindenhütte zu Hilgenthal?« Sie sahen mich freudig überrascht an, und als ich ihre nochmalige Frage bejahte, griffen beide mir jubelnd unter die Arme und sagten: »Ei, wird sich unser Vater freuen, wenn wir dich mitbringen! Der kennt deinen Vater noch von den Kriegszeiten her, sie haben in der Schlacht bei Waterloo zusammengestanden. Unser Vater kommt nicht auf die Vergangenheit zu sprechen, ohne daß sein guter Kamerad, der Hilgenthaler Lindenhanfrieder dabei wäre, und gar manchmal haben wir ihn sagen hören, er hätte viele Menschen kennen gelernt; allein keiner sei ihm so lieb gewesen wie der Hanfrieder aus der Lindenhütte zu Hilgenthal.«
So erzählten die Geschwister in hellem Eifer, und mir hüpfte das Herz im Leibe. Unser Vater hatte uns nur ganz selten einmal etwas von seinen Kriegserlebnissen erzählt. 248
In fröhlicher Eile ging es nun vorwärts. Und ob es gleich immerfort stürmte und schneite, stand uns das Mundwerk doch nicht einen Augenblick still. Lorchen teilte mir mit, daß Lorenz in Geismar die Drechslerei erlerne und daß sie ihn abgeholt hätte, damit er daheim mit ihnen das Weihnachtsfest feiern könne; dabei mußte sie sich aber alle Augenblicke unterbrechen: »Nein, Lorenz, sei doch nicht so ausgelassen!«
Dieser Lorenz schäkerte nämlich immerzu und zupfte bald mich, bald die Schwester am Ärmel und sagte dann allemal, der ›hile Kest‹ hätte es gethan. Der ›hile Kest‹ (heilige Christ) ist nämlich der Vorbote des heiligen Christs und geht am Christabend in wunderlicher Gestalt, mit einem Beutel, einer klingenden Glocke und einer Rute in der Hand von Haus zu Haus, von Ort zu Ort und kundschaftet, wer gut und böse ist, damit er solches dem heiligen Christ mitteilen kann.
Obwohl wir mit sechs scharfen Augen sahen, liefen wir doch beständig Gefahr, vom Wege abzukommen, so hoch häufte sich der Schnee.
Jedesmal, wenn ich bis über die Knie im Schnee stak und fast nicht wieder herauskommen konnte, faßte mich Lorenz flugs unter die Arme und hob mich mit einem Jauchzer wieder heraus. 249
Einmal kamen wir über eine Strecke, die ganz blank war, da der Wind den Schnee an der einen Seite zu einer hohen Schanze aufgetürmt hatte. Plötzlich ließ der Bursche uns stehen und rief in übersprudelnder Lustigkeit: »Halt, halt! Wartet doch 'mal, gar zu schön ging sich diese Strecke, die muß ich noch einmal gehen.« Und wirklich lief er den Weg noch einmal hin und her. »Ei, gar zu schön geht sich's da,« schnaubte er, als er nun glühend und dampfend wieder bei uns stand; er meinte alles Ernstes, wir möchten das schöne Ende auch noch einmal wiederholen.
Wir erhaschten den Sausewind beim Arme und setzten unsern Marsch eiligst fort.
Nun hörten wir auch bereits das Klingeln des ›hilen Kests‹, und ein geheimnisvoller Schauer zog durch unser Herz.
Um von dem arg vermummten Vorboten des heil'gen Christs nicht ertappt und vielleicht gar mit seiner Rute geschlagen zu werden, mußten wir uns auf mancherlei Umwegen heimlich in das Haus meiner Gefährten schleichen.
Als wir vor Holzhöfers Hause standen, schlug mir das Herz, und Lorchen und Lorenz mußten mir erst lange zureden, bis ich mit hineinging. »Wir sind keine Vollmeier, sondern nur ganz einfache Brinksitzer,« versicherte Lorenz 250 und zog mich an beiden Händen hinein, während Lorchen nachschob.
Mutter Holzhöfer, eine rundliche und gutherzig aussehende Frau, mit einem Tuch vor der Stirn, trug gerade das Abendbrot, duftende Pfannkuchen, auf. Vater Holzhöfer, der eine große Narbe über der Backe hatte, saß vor dem Tische und schaukelte einen etwa fünfjährigen Knirps auf den Knieen; um den Tisch herum saßen noch zwei Jungen und drei Mädchen.
Als Vater Holzhöfer hörte, daß ich vom Hilgenthaler Lindenhanfrieder ein Kind sei, setzte er flugs den kleiner Reiter ab und zog mich gegen das Licht, als wollte er in meinem Gesichte die Wahrheit der Angabe lesen. »Du bist des Lindenhanfrieders, meines alten Freundes, Tochter?« fragte er endlich, und es war, als bebte seine Stimme vor Erregung und Rührung. »Dein Gesicht spricht nicht dagegen,« meinte er dann, »diese Züge und diese Augen kommen mir gar bekannt vor. Sei mir herzlich willkommen am heiligen Christabend, Kind, und laß es dir wohl sein bei uns. Dank sei dem heil'gen Christ, der uns solchen Gast bescherte.«
Bald kamen noch viele andere Gäste, vermummte mit Ruten und Säcken und unvermummte mit ganz, ganz unschuldigen Gesichtern; – aber 251 ich würde viel zu erzählen haben, wenn ich den schönen Christabend beschreiben wollte.
In der Nacht schliefen wir zu drei und dreien in einem Bett, was mir sehr heimisch vorkam. Daß die Weihnachtsfreude uns wenig schlafen ließ, brauche ich wohl nicht zu versichern.
Ich sollte den ersten Weihnachtstag dableiben und erst am zweiten nach Hause gehen; darauf drang Lorenz ganz besonders; allein ich schüttelte den Kopf und wollte mich nicht länger halten lassen, denn ich war voller Unruhe.
Nachdem ich mich vielmals für die mir erwiesene Gastfreundschaft bedankt hatte, wollte ich hastig mein Bündel nehmen. Aber es war nicht zu finden, und es gab mit einemmal ein helles Lachen: Lorenz war mit meinem Bündel schon voraus.
Er wollte sich's nicht nehmen lassen, mich eine Strecke Weges zu begleiten.
Ich mußte gestehen, daß ich eine eigentümlich innige Freude darüber empfand. Lorenz wußte so drollig zu erzählen, daß wir des Weges ganz vergaßen. So standen wir unversehens auf der Höhe vor Hilgenthal, wo der Hegebusch den Weg in sich aufnimmt.
Er brachte mich noch durch den Wald, der liebe Junge, reichte mir dann das Bündel her und sagte: »Komm' gut hin, Friedesinchen! Es 252 möge dir recht wohl gehen – und dann denk' auch manchmal an mich zurück. Auch ich werde oft an dich denken, ich wünschte mir wohl, du wärest meine Schwester. – Lebe wohl, Friedesinchen!« Er gab mir die Hand und lief schnell zurück; er sah sich aber noch manchmal um und schwenkte so lange den Hut, bis die Bäume sich zwischen uns drängten. Ich weiß gar nicht, wie seltsam mir da zu Mute war.
Ich langte gerade um die Zeit des Gottesdienstes im Dorfe an und konnte so ungesehen zur Lindenhütte hinaufkommen. Eine feierliche Ruhe und Stille herrschte, woraus ich schloß, daß der Vater mit allen Geschwistern in der Kirche weilte. Dennoch schlich ich mich leise und verstohlen hinter den Küchenherd, setzte mich auf die Eimerbank und erwartete unter Angst- und Freudenschauern das Ende des Gottesdienstes.
Nach einer halben Stunde etwa kam der Vater, gleich hinter ihm Lorchen, August und Christinchen. Ich mußte wie gebannt sitzen bleiben. Sie sprachen von dem armen Friedesinchen in der Fremde und bedauerten gar sehr, daß es nicht bei ihnen sein könne. »Grämt euch deswegen nicht zu viel, Kinder, sie hat es gewiß viel besser, als ihr es haben könnt,« sagte der Vater. Sie gingen hinein. Ich wagte kein 253 Glied zu rühren; ratlos saß ich da und sann, wie ich wohl dem Vater am besten einen Beweis von meinem Dasein geben könne. Nach einer Weile fiel mein Auge auf den Ofenschürer, und sogleich kam mir ein Einfall. Ich nahm den Ofenschürer und stocherte damit im Ofenloche herum.
»Wer stökert denn da draußen?!« hörte ich bald die Geschwister fragen. Mir flirrte und flimmerte es vor den Augen, ich mußte sie mit beiden Händen zuhalten.
Alsobald kam der Vater, kamen die Geschwister heraus, und in diesem heiklen Augenblicke trat auch Stineliese zur Hausthür herein. Fronhöfers Pate kam auch noch hinzu und rief, indem sie wiederholt die Hände zusammenschlug: »Ach, Leute und Kinder, was seh' ich, was seh' ich! hat euch wahrhaftig der heil'ge Christ ein buntes Ferkel beschert.« –
Ich preßte mir die Hände vors Gesicht und weinte, als säße mir ein Messer an der Kehle. Der Vater schüttelte lange still den Kopf, dann sagte er nur: »Friedesinchen – Friedesinchen!« worauf er mich bei der Hand faßte und in die Stube führte. Da ich mein Bündel bei mir hatte, fragte er nicht weiter, wie es um mich stände. 254