Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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8.

Was sich gelegentlich meines ersten Kirchenbesuchs ereignete.

Da trippelte ich kleiner Guckindiewelt nun neben dem in ernste Andacht versunkenen Mütterchen her, – und ein glückseligerer Kirchgänger, als ich war, ist dasmal ganz gewiß nicht gewesen. Wundersam durchschauerten mich die hellen vollen Glockenklänge – innig schmiegte ich mich an die gute Mutter, und sie drückte mit ihrer Hand mein Köpfchen an sich. Anfangs hatte ich so viel zu fragen, daß eine Frage die andere jagte. Und die meisten 63 mögen wohl sehr drolliger Art gewesen sein, denn die Mutter ist dadurch immer aus ihrer ernsten Stimmung herausgerissen worden, wie sie nachher dem Vater klagte.

Doch je näher wir dem Gotteshause kamen, desto schüchterner und stiller wurde ich. An der Kirchhofsmauer stand mein bewegsames Mundwerk ganz still, und nur noch mein Herz und meine Augen sprachen, diese durch helles Leuchten, jenes in stürmischem Klopfen. Wie mir da war, so muß einem Seligen zu Mute sein, wenn er in das himmlische Zion eingeht.

Doch das Kindesherz ist ein Rain, auf dem die mannigfachsten Blumen und Kräuter eng beisammen stehen. In der rechten Tasche fühle ich plötzlich einen – Apfel. Hei, den mußte mir der gute Hanfrieder hineingesteckt haben! Herausziehen und mit den kleinen weißen Mäusezähnen hineinfahren – das war das Werk eines Augenblicks. Gott, ist da aber die Mutter zusammengefahren! »Friedesinchen, stecke geschwind den Apfel in die Tasche!« gebot sie mit gedämpfter Stimme, daß die andern Kirchgänger es nicht hören konnten.

Natürlich ließ ich den Apfel sofort wieder verschwinden.

Nun klagte sich die Mutter an, daß sie mich 64 nicht früh genug verwarnt hätte, auf dem Kirchgange zu essen. »Thu' das ja und ja nicht wieder«, flüsterte sie, »denn wer auf dem Gange nach der Kirche was ißt, dem steht, wenn er einstmals gestorben ist, der Mund sperrweit offen.«

Trotzdem schnalzte ich nach der Beförderung des abgebissenen Apfelstückes lustig mit der Zunge und flüsterte der besorgten Mutter zu: »Mutter, weil ich's weiß, so mache ich den Mund gleich fest zu, wenn ich sterben muß.« Ich wollte das der Mutter zur Beruhigung gesagt haben. Sie hielt ihr weißes Taschentuch vor den Mund und hustete ein wenig.

Die Glocken verstummten, die Orgel erbrauste. Jede Tonwelle ging wie eine rauschende Macht durch meine Seele.

Zu unserer Lindenhütte gehörte eine eigene »Kirchenstelle«, die unter dem rechtsseitigen Mannhause in der dritten »Stölte«Kirchenstühle, Bänke mit numerierten Plätzen. gleich am Gange lag.

Als wir nun an den »Stölten« vorüber gingen, war es mir, als ob alle Kirchenleute voll großer Verwunderung auf Lindemanns kleines Friedesinchen herabsähen; ich wagte kein Auge aufzuschlagen. Endlich stand die Mutter still und 65 setzte mich und sich auf die Bank. Ich blinzelte zur Seite und gewahrte, daß die Mutter eine Weile mit tiefgebeugtem Haupte dasaß. Warum sie das wohl thun mag? fragte ich mich. Daß sie zum lieben Gott gebetet hat, habe ich erst hernach erfahren.

Nun schlug die Mutter ihr Gesangbuch auf, blätterte ein wenig darin und fing auf einmal ein so helles, lautes Singen an, daß ich mich unwillkürlich duckte und die Schamröte in meinem Gesicht aufsteigen fühlte. Ich schämte mich vor den Leuten, daß meine Mutter so laut sang. Wie ich dann aber die andern Leute dasselbe thun sah und hörte, beruhigte ich mich.

Eine Weile hatte ich mit offenem Munde dagesessen, alles angestarrt und vieles mit meinen kindlichen Gedanken umsponnen; da streiche ich wieder 'mal an meinem Rock herunter und werde so an den saftigen Apfel erinnert. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Ich blinzle nach der Mutter hinüber und versichere mich, daß sie ganz ins Gesangbuch vertieft ist und gar kein Arg aus mir hat. Zweimal, dreimal zuckt es im Arme, dann biege ich den Kopf seitwärts herab und – führe den Apfel zu ihm empor, behutsam und leise wie eine Maus, die in eine verlassene Stube schleicht. 66

Die Mutter merkte nichts. Die Nachbarin und die Leute oben auf dem Mannhause waren aber auf mein Thun aufmerksam geworden, hatten mir, innerlich belustigt, zugesehen und darüber Singen und alles vergessen.

Plötzlich schreckt mich ein Geklingel empor. Ein schwarzer Mann kommt dahergegangen und trägt an einer langen Stange einen kleinen rauhen Beutel. Eine namenlose Angst befällt mich, denn ich kann mir denken, daß der Mann den Apfel haben will. Ich fühle, wie das Feuer in meinem Gesichte brennt, und blicke zerknirscht auf meine Schürze. Jetzt klingelt es ganz nahe, und als ich in meiner Angst ein wenig unterm Berge wegblinzle, sind die Klingebeuteltroddel dicht vor mir. Und ich nehme den Apfelgriebs und werfe ihn in den Klingebeutel hinein. Es war mir, als hätte ich ringsum ein helles Gekicher vernommen; aber ich guckte nicht auf. Zum Glück war die Mutter in ihren Gesang vertieft geblieben, so daß sie von dem heiklen Vorgange gar nichts merkte.

Als ich zum erstenmal wieder aufzublicken wagte, trat gerade der Pastor auf die Kanzel. Erst empfand ich ein Gefühl der Beängstigung vor der hoch oben stehenden schwarzen Gestalt, rückte deshalb etwas näher an die Mutter hinan. 67 Als ich dann aber die warme, freundliche Sprache vernahm, sah ich auf einmal unseren lieben, alten Herrn Pastor vor mir, der so manchmal unter unserm Lindenbaume mit mir geredet hatte.

Erst hörte ich bloß den Schall seiner Worte, allmählich aber ging mir auch ihr Sinn auf. Niemals habe ich wieder so wunderlieblich predigen hören. Da war eine arme, gute Mutter gewesen. – – Ich dachte an unsere Mutter. – – Und die arme, gute Mutter hatte einen einzigen Sohn gehabt, der war so gut mit ihr gewesen und hatte alles gethan, was er ihr an den Augen hatte absehen können. – – Ich dachte mir das so, als wenn unser Vater und wir nicht wären – und als wenn unsere Mutter nur noch den Hanfrieder behalten hätte. – Und die Mutter hatte sich immer so gar sehr gefreut, daß sie den Sohn hatte und daß er so gut war. Ach, und das war so schön gewesen. Da – da muß die arme, gute Mutter sehen, wie die Leute kommen und – unseren Hanfrieder in den schwarzen Sarg legen. Da hat die Mutter so sehr geweint – und die Leute haben auch mit geweint. – –

Jetzt konnte auch ich mich nicht mehr halten und mußte in lautes Weinen ausbrechen.

Merkwürdig war's, daß auch mein bitterliches Weinen den Andächtigen Ursache zu Heiterkeit und 68 Unachtsamkeit gab. Aller Augen sahen auf mich – und der Prediger predigte tauben Ohren. Die Mutter war ganz verwirrt, ihr Antlitz ganz rot geworden; sie mußte eilends aufstehen und mich hinausbringen. Ich konnte mich gar nicht wieder zufrieden geben. Ganz außer sich erzählte die Mutter dem Vater das Vorkommnis. Als sie indes den rechten Grund meines Jammers erfuhren, ging durch beider Gesicht ein verklärtes Lächeln.

Am Nachmittage kehrte der gute Pastor auf ein Stündchen bei uns ein; er käme gar zu gern einmal in die Lindenhütte, pflegte er oft zu sagen. Heute indes schien wohl mein unzeitiges Weinen der Grund seines Kommens zu sein.

Die Eltern baten ihn gleich vielmals um Verzeihung wegen der Störung des Gottesdienstes; und sie sagten, eigentlich wäre der Herr Pastor selber schuld daran gewesen, weil er wieder gar so ergreifend gepredigt hätte.

Sind da dem guten, ehrwürdigen Herrn die Augen aufgegangen! Und ist das ein Leuchten gewesen in seinem Gesichte. »Zu mir komm', du kleines Friedesinchen,« sagte er mit weicher, zitternder Stimme. Und er stellte mich zwischen seine Knie, legte mir seine Hände aufs 69 Haupt und sagte: »Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn, denn aus dem Munde der Unmündigen hat er ihm Lob zugerichtet! Ei, du liebes kleines Friedesinchen – viel tausend Kirchgänger sind durch dich beschämt worden. Ach, möchte die Predigt allüberall solch empfängliche Kinderherzen finden! – Aber du liebe Kleine, hättest gewiß nach dem Weinen auch laut aufgejauchzt in der Kirche, wenn du dageblieben wärest und dir auch den Sieg des Lebens hättest verkündigen lassen. Höre mir noch einmal zu: – – Also der gute Jüngling war gestorben – und die arme Mutter weinte immerzu – und die Leute weinten auch alle sehr – weil alle den Jüngling und die Mutter gar so lieb gehabt haben. – Ja, Kleine, da kommen dir die Thränen schon wieder in die Augen – aber warte nur – gleich! – – Wie sie nun den Sarg nach dem Kirchhofe hinaustrugen – wer kommt ihnen da entgegen? Unser Heiland Jesus Christus. – Denke dir mal, liebes Kind! Aber es kennt ihn niemand – die Träger nicht, die Mutter nicht und das ganze Gefolge nicht. Da nun der Herr und Heiland den Sarg sah und die arme weinende Mutter dahinter, jammerte ihn derselbigen und er sprach zu ihr: ›Weine nicht!‹ Und da trat er hinzu und rührte den Sarg an 70 – und die Träger standen. – Und da ruft der Heiland: ›Jüngling, ich sage dir, stehe auf!‹ Und alsbald war der Tote wieder lebendig – und er richtete sich auf und fing an zu reden – und ging mit seiner Mutter wieder fröhlich nach Hause. Und da hat der liebe Heiland gewiß auch mit müssen. Ja, ja Friedesinchen, das hast du wohl nicht geglaubt, daß die Geschichte noch ein so schönes Ende gehabt hätte. – Gebe Gott, daß unser aller Lebensgeschichte auch ein so schönes Ende habe!«

Ich war unter lautem Aufjauchzen zur Mutter gesprungen und hatte beide Arme um sie geschlungen. 71


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