Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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Zweiter Teil.

In der Fremde.

1.

Wie ich von dannen zog und die ersten fünf Jahre in der Fremde zubrachte.

Komme ich ans grüne Ufer der hilgen Beke, die so hurtig aus der finsteren Waldschlucht daherfließt, muß ich oftmals die Sichel niederlegen und mit dem Finger drohen, denn es geht mir etwas durch den Sinn. Beke, Beke, was hastest du so? Ist's wo schöner, als in dem stillen, trauten Walddunkel? Wo die Buchen und Eichen dich überschatten, wo Hirsch und Rehe traulich neben dir lagern, wo aller Mund kommt und dich küßt?! Beke, Beke! Nirgends findest du es schöner, heimischer, sag' ich. Freilich dein Vater Bergquell ist arm, muß dich oft etwas 206 karg abspeisen. Das gefällt dir nicht, du denkst weiter, willst groß und reich werden, wie so viele draußen im weiten Lande. In weiter Welt ist das ertrachtete Große zu finden, glaubst du und stürzest dich mutig hinein. Denkst du auch an die Gefahren? Beke, Beke! Leicht kann die glühende Sonne dich ganz verzehren oder allerlei Menschenwerk deines Spiegels Klarheit trüben.

Wenige finden, was sie begehren, und noch wenigere behalten, was sie hatten. – Hüte dich, hüte dich, Beke! Leicht auch können die, deren Größe du nachtrachtest, dich ganz und gar verschlucken, daß du nicht mehr weißt, wo du geblieben bist. Nun erwacht die schmerzensvolle Sehnsucht nach dem verborgenen heimatlichen Walddunkel, nach ungebundener, ungezwängter Selbständigkeit und kannst doch nicht mehr zurück. Darum, Beke, ich rate dir, wenn du nicht mußt – aber ich schwatze was, du mußt ja auch. –

War ich nicht just so ein Bach? Was hatte ich doch für große Rosinen im Sack, als ich auszog! Wie dachte ich mir die weite Welt so schön, die Leute in der Ferne so gut und – die fremden Tische so voll! Ach Gott, und als ich ausgeflogen war, fand ich bald, daß es nirgends in der Welt so schön und gut sei, wie daheim. 207

Am grünen Donnerstage nach meiner Konfirmation trat der Schuster Barnkote aus Siepolsdorf ins Lindenhüttenstübchen, begrüßte den Vater als alten Bekannten und sagte: »Habe gehört, Lindenhanfrieder, hättest wiederum 'ne fixe Dirn aus der Schule, wie steht's – hat sie sich bereits versagt?«

»Danke der Nachfrage, Meister Barnkote – da ist sie!« antwortete der Vater und deutete unter wehmütigem Lächeln auf mich.

Ich war nach unserer Gewohnheit beim Eintreten des fremden Mannes mit meinen jüngeren Geschwistern gleich hinter den Ofen getreten. Da stand ich nun und zupfte verlegen an meinem Schürzenbande, als ich hörte, daß der Mann lediglich meinetwegen gekommen wäre.

Meister Barnkote sah mich an, wie man ein junges Füllen betrachtet, das man zu kaufen gedenkt; es lag aber viel Treuherzigkeit in diesen prüfenden Blicken. »Ich bin auf der Suche nach einer jungen Dienstmagd für unsere Mutter,« sagte er, »und glaube, Mädchen, du wärest ihr gerade recht!« Und gegen den Vater gewandt, gelobte er eifrig und mit gutmütig lächelnder Miene: »Als Lohn soll sie empfangen fünf Thaler bares Geld, dazu ein Pfund Wolle, eine Stiege Leinwand, eine gedruckte Nesseljacke, und 208 noch 'ne besondere Kleinigkeit zu Weihnachten und zum Faßlabendmarkte. Im übrigen, Lindenhanfrieder, weißt du ja, wie es bei uns geht und steht! Frei Licht und freie Luft kriegt das Mädel natürlich auch,« setzte er noch mit drolligem Ernst hinzu.

Ich empfand eine Art stolzer Regung, denn jetzt wußte ich, daß ich doch auch was galt auf der Welt. Fünf Thaler bares Geld! Soviel hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht beisammen gesehen.

»Da meine schwarze Hand, Lindenhanfrieder!« drängte Meister Barnkote. »Bist du willens, so schlage ein!« Aufseufzend schlug der Vater in die dargebotene Hand und sagte: »Da ist Friedesinchen – nimm' es hin, lieber Meister Barnkote! Ich weiß – und das ist mir ein großer Trost – daß das Kind gut aufgehoben ist bei euch.«

Nunmehr ergriff der Meister meine Hand und drückte einen halben Gulden Mietgeld hinein. Am dritten Ostertage wollte der Vater selbst mich nach Siepolsdorf bringen. »Könnt ihr indes am dritten Tage nicht kommen«, mahnte Meister Barnkote, »so müßt ihr warten bis zum Donnerstage, wenn Friedesinchen uns nicht gleich wieder weglaufen soll.« 209

Das verstände sich doch ganz von selbst, antwortete unser Vater, der ebenso gut wußte, wie Meister Barnkote, daß Dienstag und Donnerstag die einzigen »Wöhnetage« der Woche sind, an denen man in den Dienst gehen muß, wenn er Bestand haben soll.

Als Meister Barnkote von dannen gegangen war, that ich einen Freudensprung und schob glühenden Gesichts meinen halben Mietgulden in des Vaters Westentasche.

Kaum konnte ich den Scheidetag erwarten, so groß war meine Lust, in die helle, weite Welt hinauszufliegen und Thaler, Wolle, Leinwand, Schürze samt der unbestimmten Kleinigkeit in Empfang zu nehmen. Mit den baren Thalern gedachte ich soviel zu beschicken, daß der Vater sich in Zukunft sollte einen guten Tag machen können.

Ärgern mußte ich mich nur über Frohnhöfers Friedesinchenpate. Die richtete nämlich mehrmals den Zeigefinger vor mir in die Höhe und sagte: »Friedesinchen, Friedesinchen – ich will dich nicht mißtrösten; aber die Vögel, die Vögel, die so früh singen, holt gemeiniglich am Abend die Katze. – Nimm dich in acht, daß du kein buntes Ferkel nach Hause bringst!« 210

Wer nämlich vor der Zeit aus dem Dienste läuft, von dem sagen die Hilgenthaler spottweise »Dat hät seck 'n bunt Fickeln elanget!«Die hat sich ein buntes Ferkel geholt.

Ich aber vertraute felsenfest auf meine Standhaftigkeit und begegnete der Warnung mit dem kecken Worte: »Habt nur keine Angst! Mich kriegt Ihr in Hilgenthal ganz gewiß in fünf Jahren nicht wieder zu sehen!«

Endlich kam die letzte Nacht, und zum letztenmale schlief ich mit Lorchen und Christine in einem Bette.

Ich hatte vor freudiger Aufregung erst lange kein Auge zuthun können und mochte kaum drei Stunden geschlafen haben, als ich mich bei meinem Namen rufen hörte. Hanfrieder stand am Bette; ich sah ihn jedoch nicht, fühlte nur den warmen Druck seiner Hand.

»Ich geh' nun fort ins Feld,« flüsterte er, »es ist noch früh. Sei guten Mutes, Schwester. In der Fremde kriegst du's wohl besser, als du es zuhause gehabt hast.« Er stockte. Es quoll mir heiß auf im Herzen; ich richtete mich empor, rieb mir die Augen. Da war er schon fort.

Ich hörte den Bruder, obgleich er sehr leise machte, die Leiter hinabsteigen und zur Hausthür 211 hinausgehen. Ich tastete unwillkürlich mit den Händen in die Luft; es war so stockfinster vor meinen Augen.

Jetzt wurde es auch auf der Backofenstange lebendig, der Hahn schlug mit den Flügeln und schrie: »Lindenleute, steht auf! Lindenleute steht auf!« Dann war er wieder still.

Unser Großer konnte kaum aus dem Dorfe sein, als ich auch schon den Vater heraufkommen hörte. Wie er die Kammerthür aufthat, ward es hell, denn er trug einen brennenden Krüsel in der Hand: »Stineliese, Stineliese!« rief er. »Ah, sieh, Friedesinchen, du bist schon wach und das Stineliese schläft noch. – Ist der Junge weggegangen und hat wieder nichts Warmes in den Leib gekriegt – Stineliese, Stineliese!«

Sie lag diesmal an meiner Stelle auf dem Backebock und mußte erst mehrmals heftig gerüttelt werden, ehe sie erwachte. Als sie endlich die Augen aufthat, stand ich schon in Rock und Strümpfen da.

»Stineliese,« fing der Vater wieder an, und seine Stirn legte sich in düstere Falten, »Stineliese, du mußt anders werden, sonst geht es nicht. Friedesinchen hat dir bislang alles vorgethan, das hört nun auf. Du bist nach Hanfrieder das Älteste – bist über 17 Jahre alt – – Und 212 jetzt mach' ein bißchen, daß Feuer auf den Herd kommt.«

Der Vater hatte leider alle Ursache, auf Stineliese so streng drein zu reden, denn sie machte sich's gar bequem und hatte allerlei Mucken, so daß der Vater oft fragte, nach wem sie wohl arten möchte.

Wir stiegen hinunter. Während Stineliese am Herde hantierte, über Holz und Feuer schalt und an den unschuldigen Küchengerätschaften ihren Zorn ausließ, half mir der Vater beim Einpacken meiner wenigen Habseligkeiten: zwei gute Hemden, zwei Paar Strümpfe, ein Beiderwandsrock,Beiderwand, aus Flachs und Wollgarn gewirktes Zeug, »Lienenuptog un Wülleninslag« (Leinenaufzug und Wolleneinschlag). Also beiderlei Wand (Gewand), daher Beiderwand. eine kattunene Jacke, eine blaugefärbte Leinenschürze und ein Knauel Stopfgarn nebst einer Stopf- und Stecknadel – und mein Konfirmationsgesangbuch. Es war fast alles von unsern seligen Geschwistern Margretchen und Hanneliese und ward darum hoch und heilig gehalten.

Ganz zuletzt noch schnitt der Vater von dem Brote im Schranke einen Knust ab und legte ihn zwischen das in eine weiße Zwehle 213 eingeschlagene Zeug. »Friedesinchen«, sagte er, und es quälte sich seine Stimme mühsam aus der Brust heraus, »Friedesinchen, wenn dir das fremde Brot nicht gleich schmecken sollte, dann hast du hier noch etwas aus deinem Vaterhause, das nicht nur deinen Hunger, sondern auch dein Heimweh stillt.« –

Er lugte durchs Fenster und unterbrach sich: »Der Himmel rötet sich schon über dem kleinen Hagen; gleich wird die Sonne aufgehen. Wir haben nun keine Zeit mehr zu verlieren.«

Mit Ach und Krach war Stineliese unterdes soweit gekommen, daß die Mehlsuppe aufgetragen werden konnte.

Der Vater nötigte wie nie, daß ich mir noch gehörig gütlich thun möchte an der gewohnten Mehlsuppe; ich genoß indes vor aller Aufregung kaum einen Teller voll. Freude macht satt.

Ich war noch nie über die Hilgenthaler Feldmark hinausgekommen, darum wirkte die Aussicht nach Siepolsdorf wie ein Zauber auf mich.

Ich schob ein Fenster auf und reckte Kopf und Arm hinaus. Die Linde erschauerte leise, und die vor dem Schiebfensterchen hinabhängenden Zweige streichelten mir so traulich Hände und Wangen. Freundlich war's gemeint, aber glitzernder Reif stob mir um das Gesicht. 214

Ein feuriger Schein leuchtet durch das Gezweige. Es glühte der Himmel im Osten über den Waldbergen.

Ein wenig fröstelnd trat ich zurück. Der Vater mahnte zum Aufbruch; nun wurde es mir doch ein bißchen heiß ums Herz.

Ich nahm den Krüsel und trat an die Butze. Unser kleiner Bruder lag darin. Er schlief bei dem Vater. Wie lieblich er dalag, der kleine gute Junge. Ein hübsches Rot hatte ihm der süße Schlaf auf die runden Wangen gemalt, das allerliebst abstach gegen die blendend weißen Mausezähne, die durch die leicht geöffneten Lippen schimmerten. Ich konnte es nicht über mich gewinnen, ihm den Schlaf zu rauben, fühlte ich doch, daß die Lindenhüttenkinder nur im Schlafe ganz glücklich waren. – Leise nur tippte ich ihn mit einem Finger auf die Lippen und flüsterte: Leb' wohl, mein Bruder! Wenn du erwachst, ist Friedesinchen fort.«

Ich wandte mich ab und stieg mit dem Krüsel die Leiter hinauf zu Lorchen und Christine. Sie lächelten beide im Schlafe. Es mußte ein schöner Traum sein, der sie bestrickte. Ich hielt den Atem an, beugte mich über sie, tippte auf ihre Lippen und flüsterte ganz leise: »Lebt wohl, liebe Schwestern. Ich geh' nun 215 fort von euch und komme gewiß in fünf Jahren nicht wieder. Da habt ihr doch nun mehr Platz im Bette« . . .

Es tropften zwei heiße Thränen aus meinen Augen auf ihr Gesicht.

Ich stieg wieder hinab und blies den Krüsel aus. Der Vater hatte mein Bündel schon unterm Arm.

Stineliese kramte den Tisch ab. Ich trat zu ihr. »Lebe wohl, Stineliese!«

»Du auch!« gab sie gleichgültig zurück.

Wir gingen von dannen.

Unten im Gebüsch an der hilgen Beke schmetterte eine Nachtigall.

Eine Weile schritten wir in völligem Schweigen nebeneinander her. Da ging die Sonne auf, und nun nahm mich der Vater an die Hand und sagte: »Friedesinchen, alles was du thust, halt dich danach, daß du jedermann kannst gerade ins Gesicht sehen. Hüte deine Augen, daß keine Flecken hinein kommen, leicht ziehen die Flecken ins Herz. Verstopfe deine Ohren und spitze sie nicht, wenn dir jemand arge Reden sagen will; leicht dringt der Schall davon in dein Herz. Vor allem, Kind, vergiß das herzliche Beten nicht – hörst du, Friedesinchen, das Beten vergiß nicht! Ein rechtes Gebet klingt im ganzen 216 Himmel wieder, und dann wird auch deine Mutter hören, wo du bist und wie du bist. Der jugendliche Mensch, der keinen festen Halt an Gott hat, ist wie eine Ähre im Sturm, wie eine Flocke im Wirbelwind. Verschließe auch dem Hochmute dein Herz und schäme dich nie deiner Armut. Hänge keinen Flitter an dein Kleid und trage keinen Hut mit Federn. Dein wohlgekämmtes Haar sei der alleinige Schmuck deines Hauptes. Verleugne nie, daß du in der Lindenhütte geboren bist, denn sie enthält köstlichere Schätze als mancher Palast. Halte dich an den Zaun, der Himmel ist hoch. – Schreib' dir das Wort fest ins Herz: Treue Hand geht durchs ganze Land! Und im übrigen halte dich, daß du kein buntes Ferkel nach Hause bringst.« –

Noch lange vor dem Morgenläuten kamen wir in Siepolsdorf an. Barnkotens empfingen uns mit großer Freundlichkeit; die Meisterin sagte, indem sie mir zutraulich auf die Schulter klopfte: »Sieh' mal, sieh' mal! also das ist 's Friedesinchen? Bist ja schon ein fixes Mädchen.«

»Ha, das sagt' ich dir ja, Mutter!« rief jetzt der Schuster und warf sich ordentlich in die Brust, »das Mädchen hat mir gleich in die Augen geleuchtet.« 217

Das kitzelte mich fürwahr.

Der Vater wurde sogleich ans Frühstück genötigt; ich aber mußte, ehe ich irgend etwas im Hause anrühren durfte, eiligst in die Küche, das Tragholz aufhucken, die Eimer anhängen und gleich eine gehörige Reise Wasser»Eine Reise Wasser« = zwei Eimer voll Wasser. aus dem Dorfe heraufholen. Die Meisterin blieb solange in der Küche stehen und sah mir nach. Als ich mit der Reise zurückkam, mußte ich ohne weiteres beide Eimer voll wieder zur Hinterthür hinausgießen. »So,« meinte danach die Meisterin, indem sie mich an der Hand in die Stube führte, »das ist ein gutes Mittel, und du wirst nun recht lange bei uns bleiben – sieben Jahre, nicht wahr?«

»Immer!« jauchzte ich.

»Nu,« lächelte die Frau, »wenn nur solange, daß wir das Brautbett dir mitgeben können!«

»Brautbett?« lachte jetzt der Vater und leerte das Gläschen; »setzt dem Dinge doch ja keinen Brummer in den Kopf. Hei – und doch läßt sich's wohl hören – Gott geb's.«

Nach dem Frühstücke ließ sich der Vater nicht mehr lange halten. »Ich muß eilen, daß 218 ich nachmittag noch ins Tagelohn kommen und einen halben oder viertel Tag machen kann!« sagte er. Dann reichte er mir mit den Worten: »Na, Friedesinchen, nun halt' dich gut!« – die Hand, wandte sich rasch um, als wollte er mir was verbergen, und ging, vom Meister begleitet, hinaus. Wie mir in diesem Augenblicke zu Mute ward, kann ich keinem Menschen sagen. Ich meinte, der Meister müßte den Vater wieder mit zurückbringen. Als ich ihn aber allein wiederkehren sah, ging's mit einemmal rundum in meinem Kopf und Herzen, das Haus ward mir zu enge – und es fehlte fast gar nichts, so wäre ich dem Vater nachgelaufen. Durch allerlei Einreden und Aufträge wußte meine einsichtsvolle Herrschaft meinen Gedanken schnell eine andere Wendung zu geben, und ich hielt mich ziemlich stark bis zum Abend. Die Meisterin behandelte mich so liebevoll, als wäre ich nicht ihre Magd, sondern ihr Kind; sie führte mich, als die Zeit zum Schlafengehen kam, selbst auf mein Kämmerlein, half mir beim Auskleiden und spendete mir reiche Trostworte. Als sie mich aber zugedeckt und die Kammerthür hinter sich eingeklinkt hatte, sprang dennoch der Boden aus dem Fasse, und heiße Thränen quollen über meine Wangen. »Vater – Hanfrieder – 219 Lorchen – Christine –« schluchzte ich, »ach Gott! ach Gott!«

Am Morgen weckte mich die Meisterin erst, als der Kaffee schon auf dem Tisch stand. Ich that einen tiefen, tiefen Seufzer, denn ich war im Traume daheim gewesen. Hastig kleidete ich mich an, es war mir wieder wie beim Tode meiner Mutter: als wollten die Balken auf mich fallen. Die Frau Meisterin mußte mich gleichsam mit Gewalt an den Tisch ziehen. Ich versuchte auf die dringenden Nötigungen einen Bissen zu genießen, vermochte jedoch nichts herunter zu bringen. Wie ich an den Tisch gegangen war, ging ich auch wieder davon.

Gestern machte mich die Freude satt, heute that's der Jammer. Der Meister schüttelte den Kopf; die Meisterin meinte: »Nur Geduld, Vater, es wird sich schon geben, das Vöglein muß sich erst ans Bauer gewöhnen, hernach singt's auch wieder.«

Allein es gab sich nicht. – Frohnhöfers hatten einmal einen jungen Dompfaffen eingefangen; der sollte aufs Singen abgerichtet werden; sie sperrten ihn in ein dunkles Bauer und setzten ihm das Schönste und Beste vor. Der Dompfaff flatterte, wenn er nicht trauernd auf dem Stabe saß, von einem Gitter gegen 220 das andere, bis er plötzlich niederstürzte und tot war. Daran dachte ich und kam mir vor wie der Dompfaff und fühlte sogar Mitleid mit mir selbst. Ich sagte mir: »Wär' der Dompfaff wieder frei gelassen, daß er flugs hätte zurückfliegen können zu seinen Eltern und Geschwistern, wäre er ganz gewiß nicht gestorben. Und noch ehe es Mittag wurde, stand es fest bei mir, daß ich nicht bleiben könne, daß ich wieder nach Hause müsse.

Und ich sann und sann, um einen Grund zu finden, der mir mit Ehren forthalf, allein es wollte sich kein Grund finden lassen. Mit einer wahren Armensündermiene verrichtete ich meine Obliegenheiten.

Es gingen zwei blanke, stramme Kühe auf der Weide; die gaben täglich dreimal zwei Eimer voll Milch. Und wenn die Frau Meisterin molk, schäumte die prächtige Milch allemal in den Eimern wie die Wasser eines Sturzbächleins. Und gerade das war der Meisterin Stolz. »Sieh, Friedesinchen,« sagte sie nach jedem Melken, »hast du's erst so weit gebracht, daß du mit so voll schäumenden Eimern von der Weide in die Küche gehen kannst, dann bist du eine fixe Dirn, dann kannst du's jedem zeigen. Merk' wohl auf, Friedesinchen, darin muß ein tüchtiges Mädchen seinen Stolz 221 und seinen Respekt suchen. Schäumen muß alles – Milch und Blut! Sieh' mir nur fleißig zu, wie ich die Milch strullen lasse – mußt mir die Kunst sozusagen mit den Augen abstehlen; wirst es schon lernen, bist ja sonst gewitzt.«

Allein nach solchen Worten schossen mir allemal die Thränen in die Augen; die Meisterin konnte nichts mit mir anfangen. Kopfschüttelnd sagte sie: »Kind, beiß' doch mal in deinen Knust, ob's dir dann wohler wird.«

Das that ich, und ich weiß noch, mit welcher Inbrunst ich mich über den Knust hermachte, der vorgestern noch in Vaters Händen gewesen war. – Es schien auch wirklich so, als ob sich die Erwartung der Meisterin erfüllen sollte; allein nicht lange dauerte es, da brach die Wunde meines Herzens wieder auf, und es war die Glut des Wehes gewaltiger als zuvor.

Meister und Meisterin hätschelten mich wie ein Kind in der Wiege. »Sieh 'mal, du kleines Küken!« tuschelte sie und gab mir eine Hand voll getrockneter Zwetschen und Apfelstücke. »Was du Pilker dir wohl für Sorge machst – bist du nicht bei uns gerade wie daheim in der Lindenhütte!« – und briet mir ein Spiegelei in Butter. »Wenn du jetzt lachst, Kind,« versprach sie schließlich gar, »backe ich dir morgen ein ganz Regiment 222 Fettmännchen!« Ich konnte keine Miene zum Lachen verziehen, die Fettmännchen hat sie aber doch gebacken.

Nimm ein junges GösselDie Jungen der Gans. von der Gans weg, setze es unter den warmen Ofen oder in den hellen Sonnenschein, gieb ihm die besten Worte, die zartesten Brennesseln, die lockersten Krumen, das süßeste Milchwasser – ach, es macht sich wenig daraus, es läßt ein ununterbrochenes Jippen und Jappen hören und findet seine Lebensfreude erst wieder, wenn es unter die wohligen Gansmutterflügel zurückgebracht ist.

Und just so ein Gössel bin ich gewesen. Die geliebte Lindenhütte kam mir nicht einen Augenblick aus den Gedanken. Heimweh – o Gott – Heimweh! Keine Plage kann so schwer sein wie diese. Hast du jemals, aus tiefer Herzenswunde blutend, aus kleinem Kammerfenster zu den wandelnden Sternen hinaufgeschluchzt und dich von ihnen tragen lassen in die ferne, ferne Heimat? Weißt du, wie das ist, Heimweh haben? Nicht? O, so behüt' dich Gott! Aber es soll mir das Heimweh doch keiner verdammen, denn es macht einem die Heimat, macht einem das Elternhüttlein erst recht lieb und teuer und herrlicher gar, als alle Schätze der Welt. 223

Der biedere Meister Barnkote konnte sich in meinen Seelenzustand gar nicht hinein finden. »Ich bin schon mancher Krankheit auf den Grund gekommen,« sagte er, »aber das mit dem Friedesinchen ist mir ein Rätsel.«

Da fiel der Meisterin plötzlich noch ein anderes Mittel ein, das würde gewiß anschlagen, meinte sie und hielt mich stramm an die – Arbeit. Fleißig sein heißt fröhlich sein, sagte sie. Allein, wenn sie mir eine Arbeit aufgab, griff sie selbst so eifrig zu, bis unter ihren emsigen Händen unversehens alles vollbracht war. Ich brauchte kaum einen Finger krumm zu machen. Mithin konnte auch dies einzige Mittel keine Wirkung haben. Es blieb, wie es war: Ich ging und stand, mit sehenden Augen nicht sehend und mit hörenden Ohren nicht hörend; wie gebannt hasteten meine Sinne an der geliebten Lindenhütte, an dem süßen Namen Hilgenthal.

Es kam der dritte Tag, und ich sollte eine Tracht Butter nach Göttingen bringen. Leuchtenden Auges teilte Mutter Barnkote mir mit, daß ihre Butter in der Stadt die allergesuchteste sei, was ihr selbst der Neid lassen müßte. Ich sollte nur 'mal sehen, wie die feinen Leute in der Stadt sich freuen würden, wenn sie die Butter sähen; ich müßte nur gleich sagen, daß ich von der 224 Meisterin aus Siepolsdorf käme und daß die Butter von sehr reinlichen Leuten stamme. Mit diesen Worten legte mir die Meisterin ein Vesperstück, an welchem sich drei Zimmermannsleute hätten satt essen können, in die Schürze. Und als ich schon die Kiepe aufgehuckt hatte, stopfte sie mir noch beide Rocktaschen voll mit getrockneten Zwetschen und Apfelstücken.

Still und mit gesenktem Kopfe ging ich von dannen. Als ich in die weite Berglandschaft hinaussah, that ich einen tiefen, tiefen Seufzer. Nach Hause, nach Hause – das war mein einziger Gedanke.

Nach knapp anderthalb Stunden erreichte ich die Stadt. Mir schwirrte es vor den Augen, als ich das gewaltige, dumpf rauschende Häusermeer mit den himmelan ragenden Türmen vor mir erblickte, und ich getraute mir nicht, weit hineinzugehen. Junge Herren mit kleinen feinen Käppchen und schmarrigen Gesichtern begegneten mir. Sie guckten mich an, guckten meine Köze an und gingen mit schallendem Gelächter an mir vorüber. Ach, sie hatten gut lachen!

Da begegnete mir eine alte Frau, die mich unwillkürlich an unser totes Mütterlein erinnerte. Sie sah mich weinen, blieb stehen und sprach mich in herzlichem Tone an. 225

»Ich komme von der Meisterin aus Siepolsdorf,« heulte ich, »und habe –«

»Die Kiepe voll Butter? Ei, ei, das trifft sich ja ganz prächtig,« unterbrach mich die Alte freudig überrascht und trat rasch auf mich zu. »Du bist wohl ihre neue Magd? Na – sieh aber einer, das hätte sich wahrhaftig nicht besser treffen können. Ich bin die Botenfrau von mehreren Professorenfamilien, die allesamt zur Kundschaft deiner Siepolsdorfer Meisterin gehören. Die ganze Woche hindurch haben sie schon auf die Siepolsdorfer Butter gewartet und gerade sollte ich nach Siepolsdorf hinübergehen. Na, Dirn, da komm' nur gleich mit mir.«

Ich faßte sofort ein inniges Zutrauen zu der Alten und schritt froh neben ihr her. Sie sprach immerzu, fragte mich nach allem, bedauerte mich, daß ich so früh die Mutter verloren, und kam immer wieder darauf zurück: »Bei der Meisterin in Siepolsdorf also dienst du? Ei sieh! Und deine erste Stelle ist's? Na, da kannst du Gott nicht genug danken, Kind. Bei der Meisterin hast du den wahren Himmel auf der Welt. Thu' nur, was du ihr an den Augen absehen kannst. Wärest du mir nicht begegnet, hätte ich den Weg zu der Meisterin wahrlich nicht ungern gethan; sie hätte mich sicher nicht mit leeren 226 Händen gehen lassen. Sitze ja fest, Friedesinchen – in Siepolsdorf mußt du dir dein Brautbett erwerben.«

Ich antwortete nicht viel darauf – dachte aber: Ich habe es dem lieben Gott anheimgestellt, und der wird es schon fügen, daß ich wieder heimkommen kann.

Als ich nach einer Stunde leichtbeschwingt den Rückweg antrat, rief ich den Vögeln unterm Himmel und den Tieren im Getreide zu: »Ach, wenn ich in eurer Stelle wäre, noch heute flöge oder liefe ich nach Hilgenthal!« Ja, ich konnte gar nicht begreifen, daß die Lerchen und die Sperlinge und die Krähen und die Hasen in dieser Gegend sich wohl fühlten, konnte nicht verstehen, daß sie nicht alle, alle sofort aufpackten und nach Hilgenthal zogen.

Um die Vesperzeit traf ich wieder bei meiner Herrschaft ein. Der Meister sowohl wie die Meisterin zeigten sich sehr erfreut über meine unverhofft rasche Rückkehr, und ihr Lob erschallte in den liebevollsten Tönen.

Doch mich hatte das arge, tiefgewaltige Heimweh so sehr in Stricken, daß ich – weiß Gott – die Meisterleute zehnmal lieber schelten und schimpfen gehört hätte; dann hätte ich mich doch verantworten und sagen können: »Nun weil 227 ihr so garstig seid, will ich gleich wieder nach Hause.«

Auf einmal rief die Meisterin: »Aber Friedesinchen, du hast ja dein Schinkenstück noch gar nicht angerührt!«

Das fiel mir nun auch erst ein, und ich gestand unter heißen Thränen, daß ich nicht daran gedacht, daß ich auch gar keinen Appetit hätte.

Der Meister sah mich eine Weile forschend an und sagte zu seiner Frau: »An dem Mädchen sitzen doch nicht etwa die bösen Leute? Einen Tag wollen wir noch warten; ist's dann nicht besser, so müssen wir 'mal Baute thun.« Und zu mir: »So eine junge Dirn, wie du, muß essen können, daß es nur so knallt.«

Abends im Bette mußte ich wieder einen unsäglichen Jammer aushalten, schluchzend betete ich einmal über das andere: »Ach lieber Gott, gieb doch, daß ich wieder nach Hause komme!«

Am andern Tage sah mich Mutter Barnkote lange kopfschüttelnd an: »Das Mädchen vergeht wie der Tag!« sagte sie.

»Wollen's nochmal ansehen bis morgen,« gab der Meister darauf zur Antwort, »denn ich kann noch immer nicht recht dahinter kommen – 's ist 'n ganz besonderer Fall.« 228

Ich wartete und wartete, daß Gott mein ständiges Gebet erhören und mir wieder über den Berg helfen sollte. Darüber kam der fünfte Tag, und ich mußte abermals mit einer Tracht schöner, süßer Goldbutter nach der Stadt.

Es war ein Frühlingstag mit blauem Himmel und hunderttausend weißen Gänseblümchen; man müßte meinen, der Frühling hätte sich auf die Seite meiner Meisterleute gestellt und mich froh gemacht. Ach, ich sah und hörte nichts von seiner Herrlichkeit!

Der Verkauf meiner Goldbutter ging wiederum äußerst schnell von statten; so konnte ich mir auf dem Rückwege Zeit nehmen und nach einem Grunde suchen, der mich fortbrachte von Siepolsdorf. Auf einmal hatte ich einen, freilich einen, der mir die Schamröte ins Gesicht trieb. Rasch schritt ich aus und kam noch vor der Vesperzeit bei den Meisterleuten an. Aller Freundlichkeit ungeachtet rief ich in atemloser Hast: »Der Vater – – hat – – – hersagen lassen, ich – – müsse wieder nach Hause!«

Die Schusterleute sahen mich und sich höchst erstaunt an und drängten mich darauf lächelnd an den vollbesetzten Tisch, mit der Nötigung: »Erhole und erquicke dich erst von der Strapaze und dann besinne dich.« 229

Allein ich wehrte mit Hand und Munde und blieb dabei: »Ich muß nach Hause und ich muß gleich nach Hause!«

»Nein, Friedesinchen, du mußt bei uns bleiben.«

»Ach nein, nein, laßt mich doch! Der Vater ist – – krank!«

»Ach, du lieber Gott,« seufzten jetzt Meister und Meisterin, »was fehlt ihm denn?«

»Er hat – er hat – er hat einen – schlimmen Fuß!«

Die Lüge war geboren und getauft.

Die Herrschaft wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Endlich meinte der Meister: »Gewiß sitzen auch an dem schlimmen Fuße die bösen Leute!« Er wolle aber schon ein gutes Mittel dafür verordnen, – ich möchte nur getrost bei ihnen bleiben.

Als sich die Meistersleute erst aufs Bitten legten, da hatten sie verspielt. Ich beharrte dabei, nach Hause zu müssen, ja, ich fing sofort an, meine geringen Habseligkeiten einzupacken.

Was sollten die gutmütigen Schusterleute machen? Wie sollten sie mich halten? Mit zehn Ketten hätte ich mich nicht halten lassen – das sahen sie wohl ein.

Sie ließen mich gehen, wie man ein liebes Kind gehen läßt, sie gaben mir obendrein die 230 herzlichsten Segenswünsche und Grüße mit auf den Weg. Die gute Meisterin fuhr sich sogar mit der Schürze über die Augen. Soviel Liebes und Gutes that mir jedoch nicht wohl – es war mir sehr peinlich. Ich wäre lieber unter dem Eindrucke einer gehörigen Tracht Prügel fortgegangen.

Wie der Berg unter meinen Füßen knirschte, wie die Bäume im Walde flogen! Und wäre der Wald kellerfinster gewesen und hätte hinter jedem Baume ein Spitzbube oder ein Gespenst gestanden – mich hätten nicht tausend Spitzbuben und Gespenster zurückgebracht. Und was graulte uns doch sonst so vor Spitzbuben und Gespenstern! Wie eine Kugel kam ich aus dem Walde auf die Hilgenthaler Feldmark geschossen, und wie eine feurige Kohle glühte ich.

Erst als ich die Lichter von Hilgenthal aufschimmern sah, fing ich an zu gehen, langsam und immer langsamer. –

Was für Augen mein Vater und meine Geschwister machten, als ich wie eine Schneeflocke aus heiterm Frühlingshimmel in die Lindenhüttenstube geschneit kam, magst du dir ausmalen.

»Mädchen, Mädchen!« rief der Vater in einem aus Sorge und Freude gemischten Tone.

Ich sah schweigsam zu Boden und hörte die jetzt auf mich herabregnenden Vorwürfe geduldig an. 231

Lorchen schlich sich verstohlen an meine Seite und flüsterte mir mit kläglichem Gesichte zu: »Friedesinchen, wir haben aber gerade kein Brot!« –

»Ach, Lorchen,« – beruhigte ich die zaghafte Schwester, »das schadet nichts, kann ich auch kein Brot essen, kann ich nur zu Hause bleiben!«

Da tauchte das Gesicht von Frohnhöfers Friedesinchenpate hinter dem Fenster auf. Stineliese schob es schnell auf und rief boshaft: »Ist euer Stall zurecht? Ihr könnt ein buntes Ferkel kriegen!«

Die Pate steckte hurtig den Kopf herein und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen: »Ach du meine Güte! Richtig ein buntes Ferkel angekommen! Friedesinchen, Mädchen! Sind denn die fünf Jahre schon herum? Ich denke, es wären erst fünf Tage.«

Ich sah mit keinem Blicke auf, schwieg zu allem still und dachte nur: es ist gut, daß du's überstanden hast. 232


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