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Ehe die Mutter mittags ins Feld ging, pflegte sie für uns Nesthocker fünf dünne Scheiben Brot abzuschneiden. Sie fingen schon klein genug an, aber die zweite war immer noch kleiner als die erste, denn das Messer richtete sich nach dem Alter. Unsere Stineliese kriegte das größte, ich das zweitgrößte, Lorchen das drittgrößte und Christinchen, unser Allerjüngstes, das kleinste Stück. Das war unser »Halbabendbrot.«
Gewöhnlich gab's weder was drauf, noch was dazu – und ich müßte lügen, wenn ich sagen sollte, wir hätten das als Mangel empfunden.
Die Mutter nahm diese »Stücker« gewöhnlich mit leisem Seufzen in die Schürze und ließ uns alle vor sich hinausgehen. Dann schloß sie die Hausthür ab und steckte den Schlüssel in das kleine Hühnerloch neben der Hausthür, damit wir im Hause kein Unheil anrichteten.
In Bornriekens Hofe, der an die rechte Seite der Lindenhütte stößt, stand ein alter 44 abgedankter Küchenschrank, dessen eines Fach noch mit einer verschließbaren Klappe versehen war. Dahinein legte die Mutter unsere »Stücker«, worauf sie zu sagen pflegte: »Wenn die Hühner auffliegen, dann ist's Vesperzeit. Ja nicht den Schrank früher aufmachen! Je länger ihr euch auf das Vesperstück freut, desto schöner schmeckt's euch hernach.«
So ernst nahmen wir diese Mahnung, daß wir meines Wissens nie vor dem Auffliegen der Hühner Vesperstunde hielten, trotzdem sich der Appetit immer gleich nach dem Fortgange der Mutter einstellte.
Der alte, so ehrenhaft dastehende Schrank, der gewiß schon hundert Jahre alt war, galt den Müttern wie ein getreuer alter Ohm, der im Spannstuhle am Ofen oder auf der Hausthürschwelle in der Sonne sitzt; wenn er auch nichts Rechtes mehr kann, so kann er doch ein Auge auf die Kinder haben. Wüßte sonst nicht, warum auch Bornriekens und Frohnhöfers Mütter, wenn sie ins Feld wollten, genau so wie unsere Mutter mit ihren kleinen Truppen vor den Schrank traten und ihm die Vesperstücke anvertrauten.
Einmal, als die drei Mütter zu gleicher Zeit vor dem Schranke zusammentrafen, hob 45 Frohnhöfers Dortchenpate, die gewiß von ihrer Schwägerin, meiner Friedesinchenpate, geschürt war, vor den »Großen« den Zeigefinger auf und schalt: »Daß ihr großen Racker mit den Kleinen nur nicht wieder Schindluder spielt! Und daß ihr dem Friedesinchen nicht immer alle Plagen aufbürdet! Auch müßt ihr dem Kinde, weil's leicht alles glaubt, nicht so viel ungeheure Lügen aufbinden. Glaub's nicht, Friedesinchen, wenn sie dir wieder vormachen wollen, Volands Heinrichpate wäre nach Bärenhausen gewesen und habe einen ganzen Stall voll kleiner Bären mitgebracht. Glaub' den Rackern nicht; Bären giebt's nicht mehr, wenn man sich keine aufbinden läßt.«
So 'ne Standrede hatte auch wirklich 'mal not gethan; war ich doch ein deutlicher Beweis für die Wahrheit des Sprichworts: »Je niedriger der Zaun, desto lieber steigt man hinüber.« –
Kaum war der letzte Rockzipfel der strengen Mütter aus unserem Gesichtskreise verschwunden, so begann unter Singen und Klingen ein lustiges Spiel. Es wurden Backöfen gebaut und Lehmkuchen gebacken, Hochzeiten und Kindtaufen angestiftet; es wurde Schule gehalten und darin viel gescholten und geschlagen; es wurde der Esel zum Brunnen geritten, das kranke Hänschen 46 mit Schuhnägeln kuriert, auf die Glocke getreten, daß sie sieben Jahre erklingen mußte; es wurde ein Rosenkranz gebildet, ein Maientanz aufgeführt – ja, ohne Aufhören gespielt, gesungen und gesprungen! – Juchheirassa, juchheirassa! Hei, wie lustig tanzt man da! Immer lustig und geschwind, hurtig, hurtig wie der Wind! – Ach, so komme ich unwillkürlich ins Aufjauchzen, war mir's eben doch, als schwänge ich mich mitten im Kreise unter der Linde. –
Einmal ward der Raum den »Großen« unter der Linde zu enge; flugs trat der hohe Rat zusammen und beschloß, 'mal in Frohnhöfers und Bornriekens ganzem Hause herumzulaufen und dann um die Zehntscheuer Eckensehen zu spielen. Ich aber hatte das Nachsehen. Als jüngstes und dümmstes unter den »Großen« traf mich, trotz aller Vorhaltungen der Dortchenpate, auch diesmal wieder das Los, die zusammengesetzten »Kleinen« zu warten und dabei auf das Auffliegen der Hühner zu achten. Wollte ich mich nicht den Knüffen und Püffen, mit denen unsere Stineliese ohnehin nicht gerade sparsam umging, noch mehr aussetzen, so mußte ich schon Gehorsam üben. Aber mit glühender Begierde sah ich den Davonfliegenden nach; denn auch ich fühlte den eigenartigen Reiz, 'mal 47 in Frohnhöfers und Bornriekens ganzem Hause herumzulaufen. Schließlich riß meine Lammgeduld, und ich lief heulend mit. Na, den Zorn und die Entrüstung! Stineliese besonders machte mir die niedlichsten Fäuste zu, stampfte mit den Füßen ärgerlich den Boden und schalt: »Willste auf der Stelle gleich zurück! Du – du Weißkopf, du Mehlwurm, du Ziegenhaar – willste gleich machen! Paß auf, ich werd's den Eltern« . . . Aber sie brach diesen Satz ab und schreckte mich mit den Kinderkäufern, die im Dorfe herabkämen, mich mitnähmen und mit Haut und Haar auffräßen, wenn ich nicht schleunigst machte, daß ich wieder unter die Linde käme.
Diese Drohung wirkte auf der Stelle, denn die Kinderkäufer füllten meine Vorstellungswelt mit einem großen Grausen aus. Ich lief, so rasch ich konnte, zu den jammernden Kleinen zurück und kroch aus Angst mitten unter sie.
Ich rührte und regte mich erst wieder, als einer von den ausgeflogenen Spätzlein, glühend vom Spiel, dahergelaufen kam mit der Frage, ob die Hühner noch nicht aufgeflogen wären? Ich wies auf Frohnhöfers Grashof; darin kikelten und kakelten die Hennen noch so seelenvergnügt um ihren fürsorglichen Hausherrn herum, als dächten sie noch lange nicht ans Zubettgehen. 48
Die Anfrage: »fliegen sie noch nicht auf?« ward immerfort wiederholt, und als ich endlich melden konnte, daß sie aufflögen, kam alsbald wie auf Sturmesflügeln die ganze Spatzenschar herbeigesaust und stellte sich um den immer gleichmütig dreinschauenden Altvaterschrank.
Wenn man sich 'mal besonders gut vertragen hatte, wurden die Vesperstücke wohl auch untereinander gewürfelt und von oben herunter verteilt. Fühlte sich jemand gegen einen gleichalterigen Gespielen benachteiligt, so legte Bornriekens Friederikchen auf jede seiner Handflächen ein Stück und wog, ob eins schwerer war, als das andere. In diesem Falle mußte unsere Stineliese, vor der alle Respekt hatten, so lange abbrechen und zulegen, bis das vollkommene Gleichgewicht hergestellt war. So genau verfuhren indes nur die Großen untereinander; wer dagegen, wie meine Wenigkeit, nicht für voll angesehen wurde, mußte sein Stücklein hinnehmen wie der Pudel den Knochen.
Eines Tages haben sie aber einen schönen Denkzettel gekriegt. Ach Gott, wenn ich noch daran denke! Man war auf den Einfall gekommen, Bertrams braune Kuh zu melken. »Die Braune hamuhet immer so sehr, die kann gewiß die Milch nicht halten,« meinte unsre Stineliese. 49 Und das arme Tier würde gewiß einen großen Brand an die Zitze kriegen, wenn es nicht gemolken würde.
Bertrams Hanjust, eine schüchterne Seele, kratzte sich hinter den Ohren. »Wenn unser Großvater dazukäme,« gab er zu bedenken, »setzte es ganz schreckliche Schläge.«
»Bist du aber eine Bangebüchse! der Großvater ist ja weit im Felde – und wir stellen Friedesinchen an die Ecke auf die Lauer!« redete nun Stineliese auf den Bedenklichen ein; auch Bornriekens und Frohnhöfers Kinder setzten ihm zu. Doch war ihnen allen nicht so ganz wohl zu Mute bei dem Gedanken an den alten Bertram, denn das war ein derbknochiger, wetterharter Grimmbart mit seitwärts stechenden Augen und eingekniffenen Lippen, und wer seinem Jähzorne einmal verfallen war, vergaß es so leicht nicht wieder, ja, der riß vor ihm aus, wenn er ihn nur von weitem kommen sah.
Ich fragte einmal den Vater, wie der Kinderkäufer aussähe? »Genau so wie Bertrams Großvater!« lautete die Antwort. Seitdem empfanden wir ein doppeltes Grauen vor dem alten Isegrim.
Trotzdem konnten sich die »Großen« nicht bezähmen, an Bertrams Kuh ihre Lust zu büßen. Man baute darauf, daß der Alte vor dem 50 Auffliegen der Hühner nicht heimkehren könne und hatte mich ja als Posten vor der Stallthür ausgestellt. Und husch! saßen sie im Stall.
»Er muß an der hilgen Beke 'runter kommen, hörst du, Friedesinchen, an der hilgen Beke 'runter!« rief Hanjust und guckte nochmals in ängstlicher Beklemmung um den Thürpfosten.
Seine Mahnung erstickte in dem Trubel und Jubel, der nun im Stalle losbrach.
Mehrfach schon hatte die arme Braune wie zur Warnung ein stöhnendes Brummen hören lassen. Nun flog auch schon ein Huhn auf die Leiter; – allein das Lachen und Kreischen und Klopfen nahm immer noch kein Ende.
Die Kleinen, die ohne Schutz unter der Linde zurückgelassen waren, schrieen zum Gotterbarmen, es hörte keiner danach.
Ich stand ganz in mich versunken, gerade wie eine träumende Gans, bald auf dem linken, bald auf dem rechten Beine.
Drei Enten kamen von der hilgen Beke hergewackelt und schrieen: »Gasten, Gasten, Gasten!Gerste« Der Erpel aber, der langsam nachkam, mahnte zur Bescheidenheit: »Wenn't wat is, wenn't wat is!« Und als sie dann an mir vorüber patschten, 51 riefen sie alle miteinander wie in hellem Staunen: »Gun Dag, gun Dag, Dag, Dag, Dag!« Und da grüßte ich natürlich wieder: »Gun Tag, gun Tag!« Und da erzählte die vorderste Ente: »Use Köksche is ganz swart, swart, swart!«; die andern beiden aber hielten ihr sogleich das Widerspiel: »Ganz witt, ganz, ganz witt!« Und da schalt der Erpel: »Ale Schwabbellieschen, ale Schwabbellieschen!«
Nein, mußte ich lachen. Nun kam ein Rudel Gänse die hilge Beke herauf, und die vorn an schrieen: »Christinsophie! Christinsophie! De Pender kümmt, de Pender kümmt!« Und der Gänserich schrie: »Zackerloot, nöu kümmt he.« Und die andern streckten alle die Hälse zusammen und riefen immerzu: »Nöu kümmt he, nöu kümmt he!« Und die Henne, die eben auf den Gipfel der Miste flog, schwatzte: »Det is de Düvel, det is de Düvel!« Ich denke, es ist ihr Spaß und muß lachen; da schlägt die vorderste Gans die Fittiche zusammen und schreit noch ärger als vorhin: »Christinsophie, Christinsophie, süh deck vor, süh deck vor!«
Ich sah mich um – und da kommt er wirklich und wahrhaftig. Nicht der »Pender«, aber der alte Bertram! Alle Himmel! Wie auf Siebenmeilenstiefeln schien er heranzurücken. Eine 52 furchtbare Ruhe lag auf seinem käsefarbigen Gesichte. Es flirrte und flimmerte mir vor den Augen, und Enten und Gänse und die Henne auf der Miste erschienen mir wie in weite Ferne gerückt. »Hanjust, dein Großvater!« schrie ich endlich und lief, was ich laufen konnte, zu den an ihrem Geschrei fast erstickenden Kleinen unter der Linde. Aber schon hatte Bertrams Großvater die Stallthür erreicht, und ich hörte am Geschrei der Übelthäter, daß ein furchtbares Strafgericht im Gange war. Ich schluchzte und jammerte schließlich ebenso laut, wie die armen Sträflinge und da fingen unsere Hühner auch an: »Ach Gott, ach Gott, ach Gott!« Und der Hahn an der Lindenhüttenthür machte: »Zapperloot nochmal!«
Da sah ich unsern Herrn Pastor am Bache heraufkommen. Er legte bei jedem dritten Schritte die Hand hinters Ohr und horchte nach Bertrams Hause.
Eine heiße Röte schoß mir ins Gesicht; ich sprang auf, während die Kleinen mit durchdringendem Gejammer an meinem Rocke zerrten, und rief mit flehender Stimme: »Herr Pastor, Bertrams Großvater macht die Kinder tot, weil sie die Kuh gemolken haben!«
Der ehrwürdige Herr sah mich überrascht an und eilte auf die Stallthür zu. Sie war 53 verschlossen. »Ei, Bertram!« rief er. Da ward's mäuschenstill im Stalle. Die Thür that sich auf, und in ihren Schmerzen hinkten die geschlagenen Truppen an dem geistlichen Herrn vorüber. »Kinder, Kinder«, hörte ich ihn sagen, indem er mit mildem Ernst den Zeigefinger der rechten Hand emporhob, »laßt euch das zur Lehre dienen, daß man des Nachbars Kuh nicht melken darf.«
Der alte Bertram kam lange nicht zum Vorschein, hustete ganz erschrecklich, schüttete einen Korb voll Futter in die Krippe und schalt dazu auf die verdorbene Kinderwelt. Da wandte sich der furchtlose Pfarrherr gegen ihn, richtete den Zeigefinger hoch und sagte: »Bertram, Bertram! Räche nicht zu genau alle Missethat und kühle dein Mütlein nicht, wenn du strafen sollst!« –
Hernach stand der gute, milde Herr Pastor wohl eine Stunde bei uns unter der Linde und vermahnte uns. 54