Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7.

Bei Mönnemanns an der Tränke.

Also befand ich mich nun auf dem Mönnemannschen Hofe zu Lutterbeken, »bei Mönnemanns an der Tränke«, wie man allgemein sagte, weil nämlich hinter dem Hause eine Bergquelle in einen langen, hölzernen Trog herabfloß, an den des Abends die Kühe getrieben wurden. Fast war es mir, als befände ich mich wieder bei meiner lieben Herrschaft in Goltdorf, so sehr ähnelten sich die Höfe und die Leute, nur sollten Mönnemanns noch viel reicher sein als meine Grundhofsleute.

Ich hatte hier noch ein größeres Recht als auf dem Goltdorfer Hofe, denn was dort die Frau that in der Küche und in der Milchkammer, das war hier alles meine Pflicht, ohne daß mir dafür eine andere Arbeit geschenkt worden wäre. 351

Die Mönnemannsche, eine behäbige, stillvergnügte Frau, saß den ganzen lieben langen Tag in der Stube und spann Wolle. Sie schien mit dem Spinnrade völlig verwachsen zu sein und ohne Wollespinnen gar nicht leben zu können. Nur am ersten Tage ging sie mit mir in die Küche und in die Kammer, dann ist wohl ein ganzes Vierteljahr vergangen, ehe sie 'mal wieder in die Küche kam. Fragte ich um etwas, so nickte sie oder schüttelte den Kopf, das eine so freundlich wie das andere; viel sprechen liebte sie nicht. So mußte ich sehen, wie ich fertig wurde, und ich wurde fertig, ja, es machte mir eine große Lust, so unumschränkt in dem großen, schönen Hause schalten und walten zu können.

Manchmal war es mir, als lebte ich in einem verzauberten Hause, denn auch der Herr sprach fast nie ein Wort, that alles, was er that, stillschweigend und schien doch eben so glücklich und vergnügt wie seine Frau. Wollte er aus dem Hause, so machte er regelmäßig einen Umweg an dem Küchenschranke vorbei, und kam er wieder ins Haus, so war auch sein erster Gang vor den Küchenschrank. In dem Schranke stand eine bauchige Kruke, und in der Kruke – – ja, was war wohl in der Kruke! Ein schöner goldiger »Hilgenthaler« war darin – Branntwein, liebe 352 Kinder, aus der gräflichen Brennerei zu Hilgenthal. So herzlich erfreut ich immer über jeden Hilgenthaler war, der mir in der Fremde unversehens in den Weg trat, so leid that es mir, daß ich einen solchen »Hilgenthaler« in der Küche finden mußte. Unser Herr konnte aber nicht mehr von ihm lassen. Die Kruke, die er alle Morgen füllte, faßte gerade so viel wie eine Kanne, und obwohl er nur ganz allein davon trank, so war sie doch alle Abend leer, daß sie umgestülpt kaum noch einen Tropfen auf den Nagel gab. Doch unser Herr hatte eine starke, gesunde Natur und konnte etwas vertragen; man merkte nur, daß er durstig war, aber nicht, daß er getrunken hatte. Wenn er die Kruke auf der Böhne, wo das Faß lag, voll zapfte, pflegte er zugleich einen guten »Happen« mit herunter zu bringen und neben die Kruke zu legen; er nahm aber nur immer einen Mund voll. Wenn er das nächste Mal vor den Schrank kam, hatten entweder die Kinder oder der Knecht den Happen weggeschnappt. Er guckte dann jedesmal um die Kruke herum, wischte sich über den trockenen Mund und sagte nur: »Hm, ak alle weer wegesnappet!«Auch schon wieder weggeschnappt. Weiter regte er sich darüber nicht auf. Daß ich die 353 schönen Happen sollte weggeschnappt haben, wird er wohl nicht gedacht haben; stand mir doch alles offen, wenn ich hätte »snegern«schneckern, wollen.

Ein wunderbarer Mann war der Vater unserer Frau, der alte Tolle. Wenn ich zu Anfang des Winters die Dreschflegel zum erstenmal im Dorfe klappern höre, tritt er mir jetzt noch leibhaftig vor die Sinne mit seiner etwas gebeugten, aber sehnigen Gestalt, seinem bedächtigen Gesicht, seinen weißen Haaren und seinem vielsagenden – Schweigen; ja, auch seine stärkste Eigentümlichkeit war, alle Arbeit stillschweigend zu thun, um nichts zu fragen und doch immer das Richtige zu treffen. Obwohl er sich hätte einen guten Tag machen können, da er seinen Hof bereits übergeben und noch ein großes Vermögen für sich hatte, konnte man ihn Tag für Tag, ja, man darf schon sagen Nacht für Nacht auf den Hof an der Tränke kommen und hier für zwei tüchtige Tagelöhner schaffen sehen.

Es mußte dazumal noch die ganze Frucht, fast immer eine gute Scheune voll, mit dem Flegel in der Hand ausgedroschen werden, darüber ging gewöhnlich das ganze Winterhalbjahr hin. Und, daß es immer pünktlich ging, pünktlich anfing 354 und pünktlich aufhörte, dafür sorgte schon allein der alte Tolle. Jeden Morgen Schlag zwei kam er – da die Hausthür verschlossen war – zu unserem gleich an die Hausdiele stoßenden Pferdestalle herein und weckte den Knecht, der in der Butze vor der Krippe schlief. Während der Knecht aus der Butze kroch, ging Vater Tolle auf die Diele, steckte die am Treppenverschlage hängende Leuchte an und rief zur Treppe hinauf: »No, Sineke!« Das galt mir. Dann ging er in die große Stube und rief – ich höre noch immer seinen ewig gleichen trockenen Ton: »'t hät twei eslon!«Es hat zwei geschlagen.

Meistens hörte ich den Alten schon, wenn er die Pferdestallthür aufmachte, und mochte ich auch des Abends bis über zehn Uhr gesponnen haben, so war ich doch gewöhnlich schon auf den Beinen, wenn er mich anrief.

Dann ging ich durch den Pferdestall in den Kuhstall, wo's so wohlig warm war, durch ein Wandloch in die Scheune, wo man die wohlige Wärme erst gar sehr vermißte. Vom Scheunenthore her trieb einem der Wind seines Schneegestäube ins Gesicht.

Es dauerte keine Viertelstunde, so waren wir alle vier beisammen. »Gu'n Morgen!« Weiter 355 sagte keiner ein Wort, der Schwiegervater nicht, der Herr nicht und der Knecht nicht. Ich lachte anfangs mehrmals hell über die Scheune, weil es mir so drollig vorkam, daß man niemals ein Wort zum andern sagte, obgleich man doch gar nicht böse miteinander war. Dann lachte ich im stillen, bis ich allmählich auch gelernt hatte zu schweigen. – Es ging alles wie ein Uhrwerk, den einen Morgen wie den andern. Der Knecht stieg die Leiter hinauf, warf die Bunde aus der Luke, wir banden auf, legten eine Lage an – und dann ging's los im Viertakt, munter und mächtig: »Bartholomä, Bartholomä, Bartholomä, Bartholomä!«

Hei, da wurden einem die Backen bald wieder warm und rot! Mein Schlag klang gewiß nicht matter als der Dreimännerschlag; einmal aber weiß ich – wir hatten am Abend vorher Faßlabend gefeiert – da wehrte ich mich vergeblich gegen die große Müdigkeit, und obwohl ich immer noch den Takt hielt, fing ich plötzlich an zu träumen. Ich sah eine schwarze Katze über die Lage laufen, und ich schlug auf die Katze und stob ineinander, nahm mich aber sogleich wieder zusammen, und der Takt, der nun allerdings schon ein wenig zu holpern anfing, kam sogleich wieder in Ordnung. »Bartholomä, Bartholomä . . .« 356 Gesagt hat niemand ein Wort. Aber da konnte ich 'mal den Flegel hoch böhren!

Es wurde alle Morgen bis zum Kaffeetrinken ein Schock, 60 Bund, gedroschen, nicht mehr und nicht weniger. War das heraus, so hängte ein jeder seinen Flegel an die Wand und ging von der Scheune, ohne auch nur eine einzige Silbe gesprochen zu haben. Der Schwiegervater stapfte stracks nach Haus, denn er aß oder trank nie etwas bei uns; unser Herr eilte, daß er an den Küchenschrank kam, und ich heizte ein und kochte Kaffee.

Sah man beim Kaffeetrinken durchs Fenster, so konnte man den Schwiegervater, auch im ärgsten Winterwetter, bald wieder auf den Hof zurückkommen sehen; er ging dann in den Schafstall, und es war ordentlich rührend anzusehen, mit welcher Sorgfalt er den großen Haufen Schafe fütterte, tränkte und pflegte. Mich wollte es beinahe wundern, daß die Schafe und Lämmer dabei immer noch so laut blökten und mickerten, daß sie sich nicht auch gewöhnten, ihre Angelegenheiten stillschweigend zu besorgen.

Wie im Winter auf dem Hofe, so war der Schwiegervater im Sommer auch im Felde immer der erste und der letzte. Kam die Erntezeit, gab's keinen thätigeren und natürlich auch keinen 357 schweigsameren Menschen auf unsern Äckern, ja im ganzen Lutterbeker Felde, als den alten Vater Tolle; manchen Bauern in Lutterbeken hörte ich sagen: »Ja, wenn wir auch so'n Schwiegervater hätten« . . .

Manchmal, wenn sich's darum handelte, wieviel Tagelöhner mitgenommen werden sollten, pflegte er plötzlich aus seinem Schweigen herauszufallen und zu antworten: »Wenn eck mant Sineken be meck hew,habe. denn brukebrauche. eck kemmestenkeinen. mähr.« Er hielt sehr groß auf mich; ob er's auch nicht sagte, leuchtete es doch aus allem hervor, und mir war es eine Freude, bei diesem alten Manne mit dem wunderbaren Arbeitsgeiste in so großem Ansehen zu stehen, und wenn er am heißen Erntetage für zwei band, war es mir auch eine Lust, für zwei einzulegen und ihn aufs dritte Bund zu kriegen. »Meken, nöu maut eck ja 'n half Ord geben,«Mädchen, nun muß ich ja ein halb Ort (vierter Teil einer Kanne) Branntwein geben. lockte das Wohlgefallen ihn dann zu rufen, wenn ich, während er ein Bund mit dem Bindelstocke band, hin- und herstürzend drei Bund voraus eingelegt hatte. Es war nämlich so alte Sitte im Dorf, daß der Garbenbinder in diesem Falle ein Ort 358 Branntwein zum besten geben mußte, was allerdings mehr gesagt als gethan wurde.

Eine liebe, immer vergnügte und immer willige Helferin hatte ich übrigens in unserm Minchen, der zwölfjährigen Tochter unserer Herrschaft, die den Geist ihres Großvaters geerbt haben mochte und mir schon manches von der Hand wegarbeitete. Wenn wir Heu wandten oder häuften, oder Klee oder Korn zum Einfahren banden, war's allemal, als wenn der Wind über den Acker fegte, wie ein Feldnachbar sagte; nicht selten blieben die Leute stehen und sahen uns verwundert zu.

Kam's an die Vesperzeit, so pflegte der Alte, den ich nie etwas essen und trinken sah, oft zu sagen: »Kindere, dat Vesper gönn' 'ck jöck woll, ower de Tied nech!«Kinder, das Vesper gönne ich euch wohl, aber die Zeit nicht.

Da gab es dann kein gemächliches Hinsetzen wie auf den Nachbaräckern, da wurde rasch etwas in die eine Hand genommen, während man mit der andern schon wieder einlegte, drehte oder harkte. Und so sehr war der Geist des Alten über mich gekommen, daß ich es auch gar nicht anders gemocht hätte. 359

Hatten wir ein großes Feld vor uns, dessen Anblick unsere Augen und Hände hätte ermüden und unsere Lust hätte dämpfen können, so überschlug er gleich, wie weit wir bei fleißigem Zugreifen bis zum Abend kommen müßten. Bald nach Beginn der Arbeit pflegte er eine Furche, einen Stein, Busch oder Horst zu bezeichnen und zu versichern: dort würde Feierabend gemacht, und wenn's auch noch so früh wäre. So selten er sprach, so sicher war aber auch sein Wort, so gewiß ging kein Haar davon und dazu.

Und das war ein Sporn, vor dem es immer wacker fleckte. Manchmal, wenn wir im Felde Feierabend machten, stand die Sonne noch hoch am Himmel, und wir hatten doch schon mehr hinter uns gebracht, als unser Ackernachbar, der mit einem ganzen Trupp Tagelöhner ein gleich großes Stück bearbeitete. Und ich war gewiß nicht so stumpf und müde, als wenn ich in einem solchen Trupp hätte schneiden, hacken oder harken müssen. Oft mußte ich da an die weißen Tauben denken, die mir und Stineliesen einmal bei dem Kartoffelhacken vor dem kleinen Hagen geholfen hatten.

Ging das Kornschneiden an – damals wurde noch aller Roggen und Weizen sorgsam mit der Hepe (Sichel) geschnitten – so mußte ich die 360 Grubesche, die alte Riepenhüsesche und die kleine Göbelsche bestellen, die uns auch gewöhnlich beim Flachsbrechen und beim Waschen halfen. Wir waren ihre Ackerleute, und sie mußten entweder eine gewisse Morgenzahl in Akkord schneiden, oder sie gingen mit uns in den »Jein«, das heißt, sie schnitten für einen bestimmten Tagelohn, nämlich vier Groschen nebst Essen und Trinken. In hiller Zeit kriegte auch Großmanns Wilmine noch Bescheid, sie war ein Mädchen, nicht viel älter als ich, aber ein mannsmenschartiger großer »Gorre«Name für ein wüstes, unförmiges Weib..

So groß ich auf die Grubesche, Riepenhüsesche und Göbelsche hielt, weil alle drei Prachtfrauen waren, die auch auf mich nichts kommen ließen, so wenig konnte ich das große Gorre ausstehen. Sie hatte etwas Unausstehliches an sich und wußte jedem was; sie sah hinter allen Knechten her und gab anderen die Schuld, daß sie ganz und gar kein Glück bei den Knechten hatte. Sie wüßte gar nicht, hatte sie 'mal zu den Frauen gesagt, was die jungen Knechte immer von mir ein Rühmens machten, denn ich hätte ein so langes Gesicht wie ein – Kirchenfenster.

Meine braven drei Mütter haben's ihr aber immer ganz gehörig wieder herausgegeben. Es 361 wetterte manchmal nicht schlecht, wenn die vier zusammen waren. Manchmal mußte gar unser alter Schwiegervater dazwischen kommen, mit geheimnisvoller Miene, als wenn er Baute thäte (bespräche), rief er den Zankhähnen oder vielmehr Hühnern dies Zaubersprüchlein zu:

»Friede, nicht zanket,
haltet in Schranken
des Zornes Wut;
Reicht euch die Hände
Und sprechet behende:
Wir sind nun wieder gut.«

Schon die einfache Thatsache, daß Vater Tolle sprach, übte eine merkwürdig hemmende und besänftigende Wirkung auf die erregten Gemüter aus. Ich erinnere mich, daß der wunderbare Alte mit diesem Sprüchlein nicht nur bei uns, sondern auch bei der Nachbarschaft und sonst im Dorfe solche Wunder gewirkt hat. Heute noch, wenn ich zwei häßlich miteinander zanken und streiten höre, meine ich immer, Vater Tolle müßte daher kommen und mit seinem Zaubersprüchlein – Bante thun.

Derartige kleine Leibsprüchlein gingen überhaupt in Lutterbeken sehr im Schwange; auch meine wackern drei Mütter hatten immer ein Sprüchlein zur Hand. Waren wir beim Essen und gab's was besonders Gutes, so spaßte die kleine Göbelsche: 362

»Dat is gaut in mienen Rachen,
Andre möget hülenheulen. oder lachen.«

Im Ernst war das Sprüchlein auf den gierigen und habsüchtigen Reichen, der nur an sich denkt, gemünzt.

Die alte Riepenhüsesche hatte auch manch merkwürdiges Wort an sich, und wenn einmal etwas besonderes vorkam, so traf sie immer den Nagel auf den Kopf, nur daß es sich nicht reimte. Um so besser reimte sich's bei ihrem Manne, der ihr übrigens nur knapp an die Schultern reichte, aber ein großes Herz hatte. Er kam jeden Morgen, den Gott werden ließ, in aller Frühe mit raschem, kurzem Schritt auf unsern Hof, stieg gleich auf den Futterboden und kam nicht eher wieder herunter, bis er an der alten Futterlade, die er mit dem Fuße treten mußte, eine ganze Stiege Futter, das sind zwanzig Bund Stroh und Klee oder Heu oder Esparsette geschnitten hatte. Als er nun mehrere Morgen aufeinander zum Kaffee bloßen MatzJunger, fließender Käse, auch »Hotte« genannt. hingesetzt bekommen hatte, hörte ich ihn auf einmal ganz vergnügt rufen:

»Guten Morgen, Herr Matz!
Schon wieder am Platz?
Ich habe mir verheißen, 363
Dich nicht wieder zu beißen.
Kriege ich keine Butter,
So schneide ich heute und morgen keine Stiege Futter.

Na, seitdem ist der Matz nicht mehr als Junggeselle auf den Tisch gekommen.

Unter den Lutterbeker Mädchen hatte ich nach kurzer Zeit zwei gar liebe Freundinnen gewonnen: Wiegmanns Wieschen von dem kleinen Hofe, der uns gegenüber auf der anderen Seite der Straße lag, und Gruben Minechen, die Pastormagd. Wir drei hatten kein Geheimnis voreinander; wenn ich einen Brief von meinem Lorenz kriegte, waren sie die einzigen, die es erfuhren. Wieschen, eine kreuzbrave, aber sehr zurückhaltende Natur, hatte leider nichts in ihrem Äußeren, was in die Augen stach, und wurde trotz ihres hübschen kleinen Ackerhofes von den jungen Knechten fast gar nicht beachtet. Minechen dagegen war schlank und schön von Gestalt, lustig und offenherzig, und wenn die Knechte an der Pfarre vorbei kamen, konnte man wohl merken, wie ihre Augen nach dem Mädchen gingen. Aber Minechen durfte nirgends hin, nicht in die Spinnstube, nicht auf den Tanzboden. Der Lutterbeker Pastor war ein ganz anderer als der Hilgenthaler und der Ebersteiner, konnte das Jungvolk nicht leiden und hielt alles, was es that, selbst 364 das starke Singen, von vornherein für Sünde und Schande. Weil er nicht, wie seine Amtsbrüder aus Hilgenthal und Eberstein, unter die Jugend ging, in gar keinem herzlichen Einvernehmen mit ihr stand, so hatte er auch gar keine Macht über sie, und weil er als stadtgeborener und von fern gekommener Herr das Dorfvolk gar nicht kannte und auch nicht kennen lernte, so machte er sich ein Bild zurecht, in dem alle Farben schwarz oder schwefelgelb waren, wie etwa das Bild von Sodom und Gomorrha gewesen sein wird.

Es war die Lutterbeker Kirmes, und als ich die Trompeten so wundervoll durchs Dorf schmettern hörte, dachte ich an meinen Lorenz in der Fremde, und ich setzte mich auf meine Kammer und weinte. Und dann las ich seine letzten Briefe noch einmal. Es war ein so eigener schwermutsvoller Zug in allen seinen Briefen; er schrieb, daß er immer und immer an mich denken müsse und keine Ruhe hätte bei Tage und bei Nacht, und er klagte, daß er kein rechtes Glück hätte und lieber tot wäre . . . Ich weinte mich satt und schrieb ihm einen langen Brief und schrieb darin, er solle doch wieder der alte lustige Lorenz sein und nicht verzagen, ich hätte mir nun schon soundsoviel erspart und ich wäre ihm treu bis in alle Ewigkeit, und wenn ich 365 mit ihm durch ein tiefes, tiefes Meer gehen müßte, der liebe Gott würde gewiß noch alles gut machen.

Ich war noch nicht mit dem Briefe zu Ende, als die beiden Freundinnen zu mir heraufgestürzt kamen.

Gruben Minechen war außer sich vor Freude, weil der Pastor gleich nach der Kinderlehre eine Reise angetreten, die Pastorin aber darein gewilligt hätte, daß Minechen bis zur Dämmerung auf den Thi ginge. Da mich die beiden so sehr bestürmten, so bezwang ich mein Herz und ging mit ihnen, nicht um zu tanzen, sondern nur um ein bißchen zuzusehen. Ich hatte auch nur meinen guten Beiderwandsrock an, während Wieseken und Minechen in hübschen gedruckten Kattunkleidern waren. Es sollte aber anders kommen; kaum waren wir gesehen, als auch schon mehrere flotte Burschen auf uns zustürmten. Ich wehrte mich, ich bat, ich könne nicht tanzen und ich dürfe nicht tanzen. Aber was half's! Schon hatte mich der Kühnste bei den Händen ergriffen, und ich mußte mit in das wirbelnde Volk, ich mochte wollen oder nicht. Gruben Minechen, die schon zweimal herum war, nickte mir zu, lachte und jauchzte und schwamm förmlich in Luft und Wonne. Aber wo war Wiegmanns Wieseken? Ach, sie stand noch ganz allein an der Seite und blickte verlegen in das 366 Gewirbel hinein; kein Tänzer nahte ihr. Ich bat den meinen, mich loszulassen und meine gute Freundin »herzukriegen«, aber er zuckte die Achseln, lachte und wirbelte mich von neuem herum. Beim folgenden Tanze ging es ebenso, und dann – und dann – sah ich auf einmal den guten, braven Burschen von Eberstein auf den Saal kommen, und ich merkte wohl, wie er mich aufs Korn genommen hatte. – Ich sah mich um, suchte, wie ich unbemerkt von dannen kommen könnte; aber Gruben Minechen, die meine Absicht sogleich gemerkt hatte, hielt mich am Rocke fest. Lieber Gott, ja, dachte ich dann, sollte ich dem armen Menschen, der gewiß viel Herzenskummer hatte, nicht wenigstens für einen guten Tag stand halten, nicht auch ruhig einmal mit ihm tanzen? Da war er auch schon bei mir, ganz rot und verlegen im Gesicht, und kaum, daß er ein Wort sagen konnte. Ich that so unbefangen wie möglich, reichte ihm die Hand und grüßte ihn, wie man einen lieben alten Bekannten grüßt.

Die Lutterbeker Burschen waren aufmerksam geworden, und als die Musikanten abermals anfingen und der Ebersteiner mich bei der Hand nehmen wollte, kam ihm wie der Blitz ein anderer zuvor. Das ärgerte mich, und ich riß mich los, setzte über die Bank, brach durch die Maibüsche 367 und stürzte davon. Der arme Mensch soll dann noch obendrein eine gehörige Tracht Schläge getauscht haben. Das hat mir doch recht leid gethan.

Am anderen Morgen kam Wiegmanns Wieseken zu mir und klagte, während ich die Kühe molk, unter bitteren Thränen, daß sie keinen Tanz gethan und immer hätte stehen müssen. Ich war empört auf die Lutterbeker Knechte und schalt:

»Und so Burschen, wie ihr seid,
Ihr seid so recht falsch.
Sie wachsen auf der Wiese
Wie das Unkraut zum Klee.«

Da antwortete auf einmal einer:

»Und so Mädchen, wie ihr seid,
Ihr seid so recht stolz.
Sie wachsen in dem Garten
Wie die Rosen am Busch.« –

Die Kürassiere lagen gerade wieder auf vier Wochen im Dorfe, und wir hatten auch einen im Quartier, und der Schelm war's, der jetzt aus dem Loche guckte, durch das man zur Winterszeit aus dem Kuhstall in die Scheune hüpfen konnte.

Wieseken war heftig zusammengeschurrt und rannte, feuerrot im Gesicht, aus dem Stalle hinaus.

Der Kürassier, ein Baum von einem Kerl – er hatte sich schon zum drittenmal kaufen 368 lassenZur Zeit des hannoverschen Königreichs konnten bekanntlich die wohlhabenden Söhne des Landes, wenn sie wollten, Stellvertreter kaufen und für sich dienen lassen. – drehte lachend seine langen buschigen Schnurrbartsenden und fragte, was denn das Mädchen so geweint hätte?

»Ach«, so sage ich, »die abscheulichen Jungens haben sie gestern auf dem Pfingstbiere immer stehen lassen, und das kränkt sie so.«

»Was? so 'n prächtiges Deern? I, na, das kann sie aber auch wohl ärgern!« ruft er und ich seh' es seinem gutmütigen Gesichte an, daß er in der That entrüstet ist. Als ich mit meinem schäumenden Milcheimer unter den Kühen wegkomme, steckt er den Kopf noch einmal aus dem Wandloche und ruft: »Du, sag' ihr man, wenn sie heute wieder nach 'm Thi käme, dann sollte sie nicht zu stehen brauchen, hätte ich gesagt, der Kürassier Ilse. Sag' ihr das man, der armen Deern, hörste!«

Nun mußte ich aber doch lachen.

Und was meint ihr? Wiegmanns Wieschen hat an diesem zweiten Pfingstbiertage wirklich nicht einen Tanz zu stehen brauchen. Alle Kürassiere haben mit ihr getanzt, am allermeisten aber unser Kürassier Ilse. 369

Dafür habe ich ihm aber auch am dritten Morgen ein Extrafrühstück vorgesetzt. Und was soll ich noch weiter sagen?

Als dem Kürassier seine Dienstzeit um war, ist er stracks wieder nach Lutterbeken gegangen und hat um meine Freundin gefreit. Und da er sich mit seiner dreimaligen Stellvertretung ein schönes Kapital erübrigt hatte, so sagten die alten Wiegmanns auch gar nicht »nein«. Also hatte unser braver Kürassier einen hübschen kleinen Ackerhof und ein treues Weib, meine gute Freundin aber hatte einen Mann, um den sie selbst die schönsten Mädchen des Dorfes beneiden konnten. 370


 << zurück weiter >>