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Unsere Mutter wußte, daß das Glück, zu dem man andern verhilft, auf einen wieder zurückfällt, ohne daß der andere es darum verliert. Ach, weil das so wenig große Leute erfahren, haben auch so wenig große Leute rechte Freude am Wohlthun! Unsere Mutter aber hat es oft erfahren in ihrem Leben. Wohlzuthun und mitzuteilen war ihr ein innerstes Bedürfnis, und wir Kinder haben an ihrem Beispiele lernen können, daß man gar nicht eigentlich reich an Hab und Gut zu sein braucht, um seinen Mitmenschen Gutes zu thun, denn auf der Gabe des Geringen liegt allezeit ein besonderer Segen Gottes. Kein Armer hat an die Lindenhütte geklopft, unsre Mutter hat ihm von ihrem Wenigen doch so viel zugeteilt, daß er, wie sie wohl zu sagen pflegte, von einem Hause zum andern kommen konnte.
Und manche arme Tagelöhnerin, wenn sie in heißer Sommerzeit einmal Verlangen trug nach 81 einer BriweAuch Satte, Napf von Thon. Milch, ging nicht zu der großen Landhöferschen oder der dicken Kuhlmeyerschen, die viele Kühe im Stall hatte, sondern kam zu unsrer Mutter und fragte: »Deer, häste nech 'n beten afgerohmete Melk?«Deer, eigentlich soviel wie Dirn (zärtliche Anrede), hast du nicht ein bißchen abgerahmte dicke Milch?
»Jo, Deer,« so darauf dann die freundliche Antwort der Mutter, »eck will 'r gliek emol nah seihn.Ja, Dirn, ich will gleich mal danach sehen.« Und sogleich stieg sie auf die Bank, um die runden Briwen erreichen zu können,. die auf dem Balkenbrette standen. Wenn sie dann eine Briwe abrahmte, so ließ sie doch immer noch einzelne Streifen »SmandRahm, Sahne.« darauf. »Geben armet nech«, war ihr Wort und ihr schöner Glaube.
Wie waren aber auch die armen Frauen im Dorfe bei der Hand, wenn sie unsrer Mutter einmal wieder einen Gefallen thun konnten!
Die großen Leute – ich sag' es noch einmal – wissen nicht, wie den armen Leuten zu Sinne ist, welche Erquickung für sie schon in einer entrahmten Briwe Milch liegt, wissen darum auch nicht aus dem Antrieb des eigenen Herzens zu 82 helfen, sich unter den Armen und Kleinen auch keine Freunde zu machen.
Noch viel mehr habe ich es an unsrer Mutter bewundert, daß sie bei ihrer eigenen großen Kinderlast auch immer noch für andre arme Kinder sorgte und sich mühte. Wenn sie uns zu essen gab und es standen andre Kinder mit hungernden Augen da, so war es ganz selbstverständlich, daß sie ihnen wie uns gab. Und wenn's nur ein Krümchen fürs »Herzbluten« war, wie sie sagte. Ja, wenn sie unterwegs ein hungerndes Kind sah, so nahm sie es mit und erfreute und erquickte es; uns war es dann allemal, als wären unsere Brocken nicht kleiner, sondern viel größer und viel nahrhafter geworden. Hatte die Mutter einmal ein Kind stehen lassen müssen, ohne ihm etwas geben zu können, so konnte sie lange nicht davon kommen. Sie war zu gut, unsre Mutter. Ich glaube nicht, daß ein Mensch zu viel Gutes thun kann; aber von unsrer Mutter müßte man's sagen.
Nun wurden einmal fünf junge Waisen in unserer Gemeinde ausgeboten, von denen die Eltern, arme, durch Krankheit heruntergekommene Schneidersleute, kurz nacheinander hingestorben waren; der Vater noch vor der Geburt des Jüngsten, die Mutter, als das Jüngste kaum acht 83 Tage alt war. Sie stammte aus Nikolausberge hinter Göttingen und hatte ihn während seiner Gesellenzeit in Göttingen kennen gelernt. Die Trostlosigkeit der armen Kinder war um so größer, als sie keine Verwandte und keine Fürsprecher im Dorfe hatten.
In der Gemeindeversammlung, die wegen der Unterbringung der Kinder auf dem Thi abgehalten wurde, schob man von vielen Seiten die Ursache dieser Last auf den Bauermeister, wenn auch nicht aus Überzeugung, so doch aus Absicht: Man wollte ihn für die Zukunft härter schmieden. Hätte der Bauermeister dem Schneider, dem man damals schon die Schwindsucht wollte angesehen haben, den Wohnschein nicht gegeben, so hätte er das Mädchen von »Klausberg« nicht ins Dorf holen, auch keine fünf Kinder zeugen können, die nun der Gemeinde zur Last fielen. Das war der alte Geist der Gemeinde, hart und unbarmherzig gegen alles Schwache und Schwankende, – aber am Ende doch auch wieder wohlthätig und opferbereit, wenn einmal nichts mehr zu ändern war.
Die Kinder waren bald untergebracht, nur »das kleine Wurm« wollte niemand nehmen. Da meldete sich eine rohe Person aus den gräflichen Arbeiterwohnungen. Ihr kam es natürlich 84 nur auf die paar Groschen an, welche die Gemeinde für das Kind zahlte.
Unsre Mutter, die gerade mit unserm Christinchen lag, seufzte immerfort: »Ach, das arme Schneiderskind!« Und sie konnte sich nicht beruhigen, bis der Vater seine Einwilligung dazu gab, daß sie das arme Wurm noch mit an ihre Brust nahm.
Etliche Wochen später ist ein fremder alter Mann vor die Lindenhütte gekommen, kurzatmig und krumm, und hat nach dem kleinen Schneiderskinde gefragt. Weil es um die Pfingstzeit gewesen ist und die Sonne so warm geschienen hat, sitzt unsre Mutter, mit beiden Kindern an der Brust, in der Lindenhüttenthür, und die Hühner kakeln um sie her und wollen auch was haben.
Und der alte Mann betrachtet die Kinder eine Weile, betrachtet das eine besonders und betrachtet das andre besonders, sieht, daß das eine so blank ist wie das andre und fängt plötzlich an laut aufzuschluchzen. Es ist der Großvater des Kindes, der trotz seines Alters und seines kurzen Atems eigens von Nikolausberge hergekommen ist, um vor seinem Tode noch die Kinder seiner Tochter zu sehen. Lang und fest hat er unsrer Mutter die Hände gedrückt und aufschluchzend gerufen: 85
»De leiwe Gott mag 't SeiSie. weerWieder. recht moken, leiwe FröueMachen, liebe Frau., und siene Engele mötet von Himmele komen und helpen, dat Sei ak kennen Schaen te leggen bruketSchaden zu leiden brauchen., leiwe Fröue. Eck stoh met ennen FauteFuße. in Growe, ower met mienen Armen recke eck in 'n Himmel, un eck will bet tau 'erZu der. leßten Stunne vor Sei bäenBeten, leiwe Fröue.« – – – Und langsam ist er davon gegangen. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Seine letzten Worte sind uns nicht mehr aus dem Sinne gekommen; wenn uns etwas Gutes widerfuhr, haben wir unwillkürlich daran denken müssen.
Obwohl also die Mutter zwei Kinder an der Brust hatte, die ihr Tag und Nacht keine Ruhe ließen, mochte sie doch nicht zugeben, daß unser Vater oder Hanfrieder unsrer eigenen Feldarbeit wegen einen Tagesverdienst versäumten, denn es wäre auch gleich zu fühlbar gewesen. Margretchen und Hanneliese waren schon außer dem Hause; Margretchen diente im Schlosse, Hanneliese lernte bei einer Nähefrau in Brackenstein das Weißnähen. Unsre Mutter hatte es lange mit uns Kleinen gezwungen und meinte darum, es würde immer so gehen. Unserm Vater gegenüber machte 86 sie sich viel stärker als sie in Wirklichkeit war, und da er alle Tage draußen sein mußte, so merkte er es nicht recht, wie blutsauer es ihr manchmal wurde. Mit uns Kindern war doch nicht so viel zu beschicken, so fleißig wir auch alle Tage und Stunden mit zugriffen; auch wollte sie uns in ihrer Gutherzigkeit nicht übernehmen. Manchmal klagte sie, daß wir in diesem Jahre die Kartoffeln auf unserm entlegensten Lande, vor dem kleinen Hagen, ausgepflanzt hatten. Sie konnte die beiden Kleinen nicht gut mit ins Feld nehmen, konnte aber, da sie die Brust kriegten, auch noch nicht so lange fortgehen. Kaum hatte sie ein Stündchen vor dem kleinen Hagen gehackt, so mußte sie schon wieder nach Hause zurückhasten. Dabei war sie doch arg von Kräften gekommen, und schließlich mußte sie sehen, daß unsere Kartoffeln noch nicht halb gehackt waren, als andere Leute schon zu behäufen anfingen; an einzelnen Hörsten hatte sie gar schon Knospen entdeckt. Und sie hatte sonst immer ihren Stolz und ihre Freude darin gesucht, mit den ersten fertig zu werden. Krank und matt seufzte sie eines Tages, als Stineliese und ich aus der Schule kamen: »Kinder, ihr müßt heute allein nach dem kleinen Hagen und sehen, daß wir doch die Kartoffeln fertig gehackt kriegen. Ich kann nicht, so gern ich auch 87 wollte. Thut, was ihr könnt. Der liebe Gott möge euch helfen.«
Stineliese und ich, wir haben uns niemals so gut vertragen können als an diesem Tage, und unsre Antwort war so voll Eifer, daß die Mutter schon gleich mahnen mußte: »Daß ihr's aber nur nicht zu eilig habt und keine Hörste abhackt. Ihr wißt, Kinder, es sind ihrer nicht zu viele für uns.«
Also steckten wir uns ein wenig Brot in die Tasche und gingen, die Hacken auf der Schulter. eilig aus dem Dorfe hinaus.
Die Mutter hatte wohl schon ein erkleckliches Stück hinter sich gebracht; doch ebensoviel blieb uns noch zu thun übrig. Wir brauchten noch gut zwei oder drei Nachmittage dazu, hatte sie gemeint, und es schien auch so. Also fingen wir nun an, teilten uns je zwei Reihen zu und hackten, daß der Staub aufwirbelte. Als wir mit den Reihen auf der Mittelfurche anlangten, warfen wir die Jacken ab; an der Grenzfurche angekommen, streiften wir auch den Überrock ab. Nun teilten wir uns je drei Reihen zu, und als die hinübergebracht waren, hielten wir eine kurze Beratung, worauf jeder vier Reihen zugleich vornahm. Wir dachten, mit vier Reihen eher fertig zu werden, als mit zweien. – Der helle Schweiß tropfte 88 uns vom Gesicht, und auf einmal standen wir in bloßem Hemde da.
Eine Hummel kam vorbei und rief: »Hast 'n Meister nicht vernommen?« »Doch, doch!« riefen wir und hackten weiter.
Eine Bremse kam angesaust und fragte: »Habt ihr den Kuhhirten nicht gesehen?« Wir wußten wohl, wo er hütete, aber wir sagten's ihr nicht, denn sie hatte Blutdurst.
Die Steine schrieen, so hackten wir. Nach einer geraumen Weile richteten wir uns für einen Augenblick auf, um das Ackerende zu übersehen, es auf seine Länge zu veranschlagen. »Morgen Abend müssen wir damit fertig werden,« meinte ich. »Das hat Last,« zweifelte Stineliese. Nun bissen wir erst mal an unser Brot; danach sollte es besser gehen.
Allein uns war die Zunge so trocken, daß wir den Bissen nur mit Mühe hinunterkriegen konnten. Zur Hagenholzquelle war es aber viel zu weit. Der anfängliche Mut zur Arbeit sank auf einen sehr niedrigen Grad. Als wir noch zögerten, kamen plötzlich viele weiße Tauben dahergeflogen; die ließen sich in kurzer Entfernung vor uns zwischen dem grünen Kraute nieder und hickten und pickten allda, als ob wir gar nicht vorhanden wären. 89
Ich fühlte mich auf einmal von neuem Mute beseelt und rief: »Stineliese, die weißen Tauben helfen uns! Wir wollen uns mal gar nicht aufrichten, bis wir dahin gekommen sind, wo jetzt die Tauben hicken.«
»Ja!« sagte Stineliese und nickte eifrig.
Nun nahmen wir gleich das ganze Ackerstück der Länge nach vor.
Eine Taube sagte: »Kumm Fru, kumm Fru!« Und da schwirrte der ganze Schwarm plötzlich dicht vor uns auf, um jedoch etliche Schritte weiterhin wieder herab zu kommen. Dabei kicherten und erzählten die lieben Täubelein, als ob sie eine große Freude hätten. Und eine mit einem weißen Häubchen nickte immer, wenn wir so lustig hackten und rief: »Gut, gut, gut!«
»Schwester, die weißen Tauben helfen uns!« rief ich leise. »Wir wollen wieder gar nicht aufsehen, bis wir an ihre Hickestelle gekommen sind.«
Und so fingen wir immer wieder an, sorgsam und vorsichtig, trotz des eilenden Eifers, daß wir ja keinen Stengel abhackten.
Nach kurzer Zeit, die nach unserer Meinung nur wenige Minuten gedauert hatte, flogen die weißen Tauben abermals auf und nieder.
»Stineliese, Stineliese, die weißen Tauben helfen uns!« jubelte ich. Und ohne Rast und 90 Ruhe, ohne Gackern und Gucken fuhren wir in unserer Hantierung fort; wir hörten aber, wie eine Taube immerfort rief: »Nu kucke mal, Fru! Nu kucke mal, Fru!«
Eine Krähe kam vorüber und schrie: »Kein Worm mang?Kein Wurm dazwischen?« »Nä, nä!« riefen wir bloß und hackten weiter.
Noch mehrmals sind die zutraulichen Tauben vor uns auf- und niedergestiegen, und auf einmal fing Stineliese zu jauchzen an: »Friedesinchen, wahrhaftig, die weißen Tauben haben uns geholfen!« Wir faßten uns lustig bei den Schultern und schwangen uns dreimal in die Luft, standen wir doch nur kaum noch zwei Schritte vom Ende. Die weißen Tauben aber flogen davon und flogen nicht mehr nieder. Glückstrahlend sahen wir ihnen nach, konnten indes nur noch sehen, wie sie fernhin dem duftigen Himmel zuschwebten. –
Als wir der Mutter am Abend frohlockend erzählten, daß wir unser Werk bis auf den letzten Horst vollendet und auch nicht einen Horst zu Schanden gemacht hätten, wollte und konnte sie uns nicht glauben. Und je mehr wir jubelten, desto mehr schüttelte sie den Kopf. 91
Aber am andern Tage ist sie mit uns nach dem kleinen Hagen hinaus gegangen, und da hat sie vor lauter Freude immer so die Hände zusammengeschlagen, immer wieder den Kopf geschüttelt und einmal über das andere gerufen: »Kinder, ich glaube, die weißen Tauben, die euch geholfen haben, das sind die Engel gewesen, die der alte Mann aus Klausberg aus dem Himmel gerufen hat!« – – –
Das kleine Waisenkindlein ist aber bald danach auch eine weiße Taube geworden, und wir haben es lange nicht vergessen können, weil wir es so lieb gewonnen hatten. 92