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Wenn man vom Reschkeschen Land bis zur Chaussee ging und dann jenseits geradeaus, noch vielleicht hundert Schritt, lag in der Bodensenkung, mitten im Ödland, ein kleines Gehöft. Es hatte früher zum Vorwerk Stolpe gehört, jetzt war es verfallen. Altersgrau hob es sich kaum ab von der Farbe des Bodens und duckte sich ganz. Die Winde, die über die freie Fläche wehten, taten ihm nichts an, darum wohnte die alte Bröse auch winters hier. Sie hätte in Briesewerder wohnen können, oder in Hohenfelde, sie hatte es gleich weit zu dem einen wie zum andern, die Leute hätten's ihr auch nicht verwehren dürfen, aber sie dachte gar nicht daran. »Wer zu mir will,« sagte sie, »kommt auch hierhin!« Auf das junge Mädchen, das bei ihr wohnte, nahm sie keine Rücksicht. Was hatte die Anna denn im Dorf zu suchen? Die sollte ganz still sein und froh, daß sie ihr nicht die Tür wies.
Es war kein Einvernehmen zwischen Großmutter und Enkelin. Die Leute lachten darüber: in der hatte die Brös'sche ihre Meisterin gefunden. »Du bist zu frech,« schrie die Alte, »hol dich der Teufel!« »Dich holt er zuerst!« sagte die Junge. Und wenn die Bröse dann drohend nach dem Besen griff, schlug die Anna ihn ihr aus der Hand, schnellte sich auf vor dem bösen Weibergesicht und zischte es an: »Schlägste mich, geh ich gleich zum Schandarm!« Dann verschluckte die Bröse ihre Schimpfworte. Sie ging in den Verschlag neben ihrer dunklen Stube, wo der Peter, der Ziegenbock, stand, kauerte sich nieder bei dem Tier und ließ sich von ihm das schmutzige Gesicht ablecken.
Das ganze Häuschen war erfüllt von beißendem Bockgeruch, aber die Bröse hätte den Peter nicht in das Ställchen hinters Haus getan, wo die Ziegen standen. Den mußte sie bei sich haben. Sie umschlang den Hals ihres Lieblings, kraute ihn und flüsterte ihm Worte ins Ohr, Worte, wie sie sie keinem Menschen gönnte. War das Tier nicht auch besser als die Menschen, die nur zu ihr kamen, wenn sie sich nicht zu helfen wußten, und die nachher taten, als kennten sie sie nicht?! Hundertmal besser als die, die sie erst angingen mit Bitten und die nachher, wenn sie ordentlich etwas zahlen sollten, mit Anzeige drohten?! Es flammte wie heller Triumph auf in ihrem schmutzigen Gesicht: sie sollten nur anzeigen, sie zeigten sich ja selber mit an. Wer konnte ihr etwas beweisen? Von ihrem Mann, dem Schäfer, hatte sie's überkommen, wie man Beinschäden heilt, Verrenkungen wieder einrichtet, die Rose bespricht, wie man Einreibungen mischt für den Rheumatismus, und wie man allerlei Trünkchen kocht – – – oho, sie sollten sie nur anzeigen!
Ihren Peter hätte die Bröse der Anna nie anvertraut, der ging nur mit ihr – mochte das Mädchen die Ziegen treiben! Was die sonst tat, darum kümmerte die Alte sich nicht. Wenn mittags ein dünnes Rauchsäulchen aus dem kleinen Schornstein des verwahrlosten Daches aufstieg, kam das Mädchen wohl heim: »Essen!« Oft gab es nichts; die Alte saß mit ihrem Peter, mit ihrem Söhnchen, sie futterten aus dem gleichen Napf. Er speiste mit, Kartoffeln und Salz, und sein langer Bart tunkte in die Schüssel mit Milch. Wenn das Mädchen dann voller Ekel den Napf von sich stieß, lachte die Bröse: »Nich viele sind's wert, daß man mit ihnen aus einer Schüssel frißt. Wer weiß, wessen Maul reinlicher is!«
Das Mädchen warf nur einen verächtlichen Blick, trat zum Schrank, schnitt sich ein Stück vom Brot herunter und ging dann stumm wieder fort. Es suchte die Winkel auf, wohin die Hühner ihre Eier vertrugen, und dann legte es sich auf der Heide unter die Mutterziege und trank sich vom Euter weg satt.
Die Dorfjungen waren hinter der Anna Bröse her. Oft jagte ein ganzes Rudel die Flüchtende, die wie eine braune Hindin dem Walde zusprang.
Heut lagerte sie nicht weit vom Pechpfuhl in einer Kuhle, im Sand halb eingegraben. Ihren Kopf mit den schwarzen Haaren, die schlicht und schwer, wie Rabengefieder glänzend, hingen, trotzdem sie nicht gekämmt wurden, hatte sie weit nach hinten gebogen. Sie hatte die Augen geschlossen und ließ sich die Sonne voll aufs Gesicht scheinen, auf den Hals, der schon braun war wie ein Rehfell, auf die Brust, die noch weiß war unter dem groben Hemd. Ihre Ziegen meckerten auf, sie öffnete die Augen: da stand der junge Mensch, den sie gesehen hatte die Laube bauen. Er stand da, eine große Gießkanne in der Hand und sah sie an.
»Was kuckste?« Sie zog nicht einmal das Hemd auf der Brust zusammen.
Max Reschke, der allein draußen war – die Mutter war waschen, der Vater kam erst später, wenn es kühler wurde – vergaß, daß er Wasser schöpfen wollte, um junge Setzlinge zu begießen. Mit einem verdutzten Gesicht starrte er das Mädchen an. Er hatte es schon öfters, aber nur von weitem, gesehen – was ging ihn das häßliche Frauenzimmer an? – Doch nun stand er starr.
Die mittägliche Schwüle gloste über der sandigen Heide. Kein Wind regte sich, kein Haus war in Sicht und auch kein Mensch. Max hatte schon die ganze Langeweile der Einsamkeit empfunden. Und die da, die war ja gar nicht häßlich! Er schmunzelte sie an.
Sie veränderte ihre Stellung nicht. Nur ein bißchen Sand schüttelte sie ab und warf das eine Bein über das andere, so daß man den blauen Strumpf, mit einem alten Bändel umwickelt, und darüber das nackte Knie sah. Max wußte nicht recht, wie er es anfangen sollte; die Hand, mit der er sie vorsichtig, wie ein fremdes Tier, das der Knabe aber doch gern fangen will, antappen wollte, traute sich nicht recht. Sie schlug ihm auch schon auf die Finger. Er tappte wieder zu, da sprang sie auf und schleuderte mit einem kräftigen Ruck eine ganze Ladung Sand über ihn. Der knirschte ihm zwischen den Zähnen; schimpfend rieb er sich die Augen. Da lachte sie ihn aus. Er mußte nun auch lachen: einem Mädel verzeiht man ja so was.
Sie nickte zur Laube hinüber: »Was woll'n Se denn hier? Hier is 's doch wahrhaftig nich schön!«
»Nee, wahrhaftig nich!« Er spuckte aus, noch immer hatte er Sand im Mund. Aber dann sagte er: »Nu gefällt's mir aber ganz gut hier, Fräulein,« und lachte sie dabei an.
›Fräulein‹ hatte noch niemand zu ihr gesagt. Sie zupfte ihren verlumpten Rock zurecht und lief nicht fort, wie sie es sonst vielleicht getan hätte. Mit einer gewissen Neugier fragte sie ihn aus: war das seine Mutter, die Frau, die da immer hackte und pflanzte? Und war das sein Vater, der Mann, der immer auf dem Bänkchen saß und rauchte oder mit dem groben Kerl von da – sie zeigte nach der Richtung der andern Laube – Karten spielte? »Wenn dem mal de Laube abbrennt, na, denn –« ein schadenfrohes Funkeln kam in ihre Augen – »denn sollen se nich sagen, ich bin's gewesen. Wissen Se,« – sie kam ganz nahe an ihn heran, so dicht, daß ihr Kopf fast seine Schulter berührte, »Sie sind 'n ganz anständiger Mensch, aber der nich. Wenn dem seine Frau da is, tut er, als kennt er mir nich – seine Bälge schmeißen nach mir mit Steinen – aber wenn er allein is, na!« Sie fuchtelte mit der Hand durch die Luft und tuschelte geheimnisvoll: »Es gibt noch Schlangen hier, gift'ge. Wenn die Olle von denen eine fängt, kriegt se 'ne Prämie; wenn ich aber eine finde – na, denn warte man!«
»Sie werden doch nich?!« Erschrocken wich er von ihr zurück.
Sie lachte. »Das hab ich von der Ollen, gefallen lassen tut die sich auch nischt.« Sie zuckte die Achseln: »Was soll man machen!«
Es dünkte ihn, als sähe sie traurig aus; sie tat ihm leid. Max Reschke war gutmütig, Weibern gegenüber doppelt gutmütig. Er streifte mit einem flüchtigen Kuß die heiße Wange des Mädchens. »Er soll Ihnen schon nich mehr zu nahe treten, Fräulein!«
Sie kicherte in sich hinein, es war fast, als ob sie ihn auslachte, aber dann gab sie ihm die Hand: »Sie brauchen nich ›Fräulein‹ zu mir zu sagen. Ich bin die Anna. Die olle Brös'sche is meine Großmutter – sie sagt so. Ich glaub's ja nich.«
»Warum denn nich?« Max hatte immer gehört, daß die alte Frau, die da hinten über der Chaussee wohnte, die Großmutter des schwarzen Mädchens sei.
Das Gesicht der Jungen war alt und finster geworden; sie zuckte die Achseln: »Ich weiß selber nich!« Und dann sah sie ihn durchdringend an: »Wenn Ihre Schwester 'n Kind hätte, glauben Sie denn nich, daß Ihre Mutter das lieb hätte? Oder Sie mal eins – glauben Se denn nich, daß Großmutter ›Heia‹ machte oder ›Susu‹?!« Sie hielt die Arme, als ob sie ein Kind darin wiege. »Mich hat die Brös'sche nie gewiegt. Gepufft, geschimpft, geschlagen; grad daß sie mich nich hat verhungern lassen!« Sie lachte mißtönend.
Wie häßlich das hübsche Gesicht dabei wurde! Max fühlte sich von dem Mädchen zurückgestoßen und doch wieder zu ihm hingezogen. Die Anna rieb ihr brennendes Gesicht an seinem nackten Arm. Er hatte die Hemdärmel aufgestreift, er sollte ja Wasser schöpfen – wirklich, er mußte jetzt Wasser schöpfen – was die für ein weiches Fell hatte, trotz allen Sonnenbrands! Ihre Wange scheuerte hin und her. Er faßte sie um.
Da gab sie ihm einen starken Puff. »Was du dir denkst – du, du!« Sie blinkerte ihn mit verschmitzten Augen an, aber dann sprang sie schnell von ihm fort hinter das struppige Kieferngebüsch, und schon sah er sie weit von sich dem blauenden Waldrand zulaufen.
Der Pfuhl, über den er sich mit seiner Gießkanne bückte, spiegelte ihm sein Gesicht wider; das sah in der trüben Lache so dumm aus. Mit Eifer bemühte er sich, den kleinen Schnurrbart aufzuwirbeln, er reckte seine ein wenig untersetzte Figur: war er denn nicht schon bei den Soldaten gewesen? Er ärgerte sich, daß er das Mädchen so hatte laufen lassen. Darüber vergaß er ganz das Denken an die Setzlinge, die er gießen sollte. Er ließ die Gießkanne am Pfuhl liegen und schlich in die Laube zurück, warf sich da auf den Haufen Heidekraut, der, in der Sonne gedörrt, wie Bettstroh raschelte, und verschlief seinen Verdruß. –
Mine stieß einen hellen Schrei aus, als sie am Abend ihre jungen Kohlpflanzen sah. Sie war früher fertiggeworden auf ihrer Waschstelle und war nun doch noch herausgefahren. Es war Vollmond, sie konnte noch lange draußen schaffen, erst um eins fuhr der letzte Zug zurück nach Berlin. Hastig war sie gerannt, der Schweiß rann ihr, aber nun wurde ihr ganz kalt vor Entsetzen. Sie stand vor dem Beet: das hatte der Max doch gießen sollen! Die Pflänzchen hingen ganz vergilbt und vertrocknet, die Erde war wie Asche. Und sie hatte doch bei jeder Pflanze ein Kühlchen eingedrückt, damit das Wasser sich sammle. Wo war Max? Wo war Arthur? Der hatte doch auch herausfahren wollen. Beide nicht da. Und wo war die Gießkanne? Auch nicht da! Sie suchte; in der Laube in jedem Winkel; hinter der Laube in dem kleinen Verschlag, den sie als Geräteschuppen eingerichtet hatte; auf der Laube – vielleicht stand sie da? Auch nicht am Zaun hing sie. Ganz verstört lief die Frau an den Pfuhl.
Herr im Himmel, wenn der Max sich vielleicht beim Schöpfen zu weit übergebückt, wenn er das Gleichgewicht verloren hatte, hineingefallen wäre samt der Gießkanne?! Aus dem schwarzen Wasser kam nichts mehr herauf. Mit schreckensvollen Augen starrte die Mutter: sollte sie laufen, in Hohenfelde Hilfe holen, Leute mit Stangen, die bis auf den Grund stießen? Daß auch keiner, gar keiner da war! Sie rief: hörte denn niemand? Da antwortete aus der Ferne fröhlicher Zuruf. Herr Gott, da waren sie ja, und ganz vergnügt, ganz gesund, und die Pflänzchen hatten sie doch nicht begossen! Nun fing sie an zu weinen.
Die Tränen rannen ihr noch, als Mann und Sohn zu ihr traten. Sie kniete am Kohlbeet, versuchte einem Pflänzchen nach dem andern das Köpfchen zu heben – umsonst, gleich fielen sie wieder um.
»Na, was weinste denn?« Arthur klopfte sie auf den Rücken. Erst war er erschrocken gewesen – Mine weinte so selten – nun aber amüsierte er sich. »Die paar Kohlpflanzen!«
»Alle kaputt!« Mine unterdrückte ihr Schluchzen.
»Na, wenn schon! Verstehst du Muttern, Maxe?«
Aber Max sagte kein Wort, er stand betrübt: daß er das Gießen auch hatte vergessen können! Die schwarze Katze – verflucht! Er war so wütend über sich selber, daß er zu pfeifen anfing.
»Na, un du feifst ooch noch?!« Jetzt war Mine empört. So hatten ihre Männer sie noch nie gesehen. Sich die Tränen mit dem Handrücken wegwischend, fuhr sie den Sohn an: »Hab ich der nich gebeten, du sollst se gießen? Hab ich der darum nich 's Geld gegeben for rauszufahren? Aber nee, was deine Mutter sagt, darauf hörste nich! Hättste der nich längst schon um Arbeit bemühen sollen? Sechs Wochen biste nu hier, un sitzt rum un hast noch immer keene!«
»Na, nu komm man bloß nich aus dem Hundertsten ins Tausendste!« Arthur nahm den Sohn in Schutz. »Wenn sich doch im Momang nichts für Maxen bietet! Mein Sohn kann doch nicht die Straße fegen oder den Müll abfahren.«
»Warum denn nich?« Das Schluchzen erstickte Mine fast. »Meine Pflänzchen, meine schönen Pflänzchen!«
Arthur klopfte sie auf den Rücken. Er fühlte sich auch nicht ganz schuldlos; als er am Nachmittag herausgekommen war und den Sohn schlafend fand, hätte er sie ja gießen können. Aber er hatte Max mit zurückgenommen ins Restaurant an der Bahn, wo zufällig der Bernhard saß mit einem Manne aus der Koppenstraße, der sich Land ansehen wollte hier draußen. Sie hatten da ganz gemütlich zusammengesessen, sich nichts Arges gedacht. Daß seine Alte auch so einen Krach machte! Schmeichelnd fuhr er ihr mit der Hand in den Nacken, und dann bückte er sich zu der Niedergekauerten und preßte ihren grobhaarigen Kopf an seinen Rock: »Na, na, Mineken, du kriegst doch deinen Grünkohl. Ich kauf dir wieder neue Pflanzen. Und zum ersten Hasen, den ich schieße, kochste den dann!«
Mitten aus ihrem Schmerz heraus mußte Mine lachen. »Ach, Arthur, 'n Hasen?! Wenn 's nur man en Karnickel tät sein. Laß man, laß man die Pflänzchen, nu wird's doch zu spät dermitte!«
»Na, ich denke doch, Grünkohl soll Frost haben.«
»Ach, Arthur, da kriegst du dein Leben keinen Verstand von. Doch nich Frost, wenn se noch so kleine tun sein!« Sie stand auf und wischte sich übers Gesicht: das war nun vorbei. Und sie schickte sich drein, wie sie sich schon in manches geschickt hatte, was ihr aufgegrünt und doch nichts geworden war. Sie holte Spaten und Rechen und machte sich ans Werk, die verdorrten Pflanzen herauszureißen und das Beet wieder sauber zu harken.
Max suchte die Gießkanne. Beim Pfuhl hatte er sie liegen lassen; aber nun war sie nicht mehr da.
»Was suchste denn?« fragte der Vater und suchte mit. O weh, wenn die neue Gießkanne weg war, Mutter würde schön jammern! »Komm,« sagte Reschke, »fix! Vielleicht, daß wir die beiden noch treffen, wenn wir jetzt gehen!« Und Max war dabei.
Mine blieb allein zurück auf dem dämmernden Feld. Sie fürchtete sich nicht, allein zu sein; es war ihr wie eine Erlösung, nun konnte sie weinen, ohne sich schämen zu müssen. Daß man so weinen konnte um ein paar Kohlpflänzchen, das verstanden die beiden eben nicht. Und sie wiederum wußte nicht, daß es nicht nur die Kohlpflanzen waren, um die sie weinte.
Träne auf Träne rann ihr, aber sie schaffte fleißig dabei, ihre Hände feierten nicht. Da stand so viel Unkraut, sie riß es aus, jätete und lockerte um die paar Kartoffeln. Dieses Jahr mußte man eben noch hereinstecken, immer wieder hereinstecken, im nächsten Jahre würde es dann schon weit besser sein. Nicht umsonst hatte sie doch Eimer auf Eimer aus dem Pfuhl geschöpft und hierher getragen und den fetten Morast mit dem locker rieselnden Sande vermischt. Das gab guten Dung, die verwesenden Pflanzenteile, die toten Fischchen und Frösche. Wenn nur der Max erst Arbeit hätte! Jetzt war die stille Zeit: wer ließ jetzt malen und anstreichen? Im Frühjahr wär's besser, sagte Arthur. Ach, Arthur, der hatte ja immer Aussichten! Sie stieß einen Seufzer aus. Aber gleich darauf erhellte ein freundlicherer Ausdruck ihr bekümmertes Gesicht: ihr Fridchen, ihre gute Frida, wenn sie die nicht hätte! Nichts als Freude hatte ihr die gemacht ihr ganzes Leben!
In einem dankbaren Gefühl falteten sich die Hände der Mutter. Sie hob den Blick zum Mond auf, der jetzt sein weichwangiges rundes Gesicht über den verdämmernden Rand des Waldes erhob. Er schaute so gut übers stille Feld. Mine lächelte in sich hinein. Als Kind, da war sie dem Mond immer nachgerannt, sie hatte gemeint, sie müßte ihn fangen – jetzt hinterm Busch – jetzt dort im Kornfeld – nun hier am Flachs. Und der Bello war immer mit ihr gerannt und hatte gebellt, gebellt gegen das bleiche Gesicht, das am Himmel stand ganz schief vor Lachen.
Mine hatte sich auf das Bänkchen vor die Laube gesetzt; nun ließ sie die Arbeit sein, und das ganze leise Wehegefühl, das sie noch immer im Herzen hatte, schwand. Jetzt war es, als wäre das nie gewesen.
Groß stand der Mond über der stillen Weite, er war schon näher geschwebt, und ein silbriges Licht machte das dämmernde Feld hell. Selbst der Pfuhl, der im Zwielicht schwer und schwarz gelegen hatte wie Pech, glänzte jetzt, als wäre er das hellste, reinste Wasser, in dem sich nichts barg von Unrat und Schmutz. Das Feld war verklärt. Alles was öde und traurig war, unfruchtbar, jeder Hoffnung bar, war verschwunden. Es war das schönste, das reichste, das gesegnetste Land, eine Scholle, auf der Hoffnungen sproßten wie Frühlingssaat.
Mine dachte nicht mehr an die schwertragenden Ähren, an den blaublühenden Flachs, an die üppigen Kleeäcker, an die Felder voll nährenden Duftes, durch die ihre Jugend gegangen war. Schöner, besser war es da nicht gewesen; hier war es auch schön, o wunderschön! Ein befreiender Atemzug hob ihre Brust, ihre arbeitsharten Hände legten sich sanft in ihren Schoß. Sie fühlte sich wie in der Kirche, aber in einer großen, ganz großen Kirche, in einem Gotteshaus, so erhaben und herrlich, wie es die Menschen nicht bauen können. Und Gott war ihr nahe. Er sah auf sie nieder, von da, von dort, von überall her; sie empfand seine Gegenwart mit andächtigem Schauer.
O wie gut, daß sie hier so allein saß! Jetzt hätte sie kein Wort hören mögen. Still, nur ganz still!
Langsam zog der Mond weiter, nun stand er schon anders als vorher – wo ging er nun hin? Der Traum der Kindheit kam noch einmal über die alternde Frau; noch einmal war sie harmlos, so harmlos wie damals, als sie mit Bello über die Äcker lief, um den Mond zu fangen. Ein ungeheurer Friede stieg vom Himmel herab. Mine hätte hier sitzen mögen die ganze Nacht, sie fühlte keine Müdigkeit nach arbeitshartem Tag. Ein Odem stieg auf von der taufeuchten Scholle, der sie frisch machte und zu neuer Arbeit tüchtig. Sie sog ihn in vollen Zügen ein, es war ihr sehr leicht um die Brust.
Vom Pfuhl her ertönte ein zartes Sümmchen. Was andere erschreckt hätte in nächtlicher Einsamkeit, das ließ sie aufhorchen. Sie kannte das ›Unk, unk‹. Wie ein silbernes Glöckchen klang's durch die Nacht, immer ›unk, unk‹. Den Kopf hintenüber an die Wand der Laube gelehnt, hörte sie zu. Ihr Gesicht, auf das Mondschimmer fiel, war verklärt wie das Feld.
Erst als der Mond hinter der letzten Bodenwelle verschwand, als ein starkes Wehen anfing, das Feld zu durchschaudern, stand sie auf. Durch die jetzt unsichere Dämmerung stapfte sie der Chaussee zu. Hinter ihr riefen noch immer die Unken vom Pfuhl, und ein leises Lachen mischte sich in den vielstimmigen Chor. –
Wenn die wüßte, wo ihre Gießkanne hin war! Die schwarze Anna tauchte plötzlich hinter der Laube auf; als Beute schwenkte sie das blecherne Ding.
Die Gestalt der Frau war schon nicht mehr sichtbar, aber des Mädchens Augen entdeckten jetzt zwei andere Gestalten, die, wie aus heimlichen Wegen, oft stehenbleibend und sich umsehend, und dann um so rascher vorwärts eilend, am Feldrand vorbeistrichen. Ein Mann, eine Frau! Er hatte sie umgefaßt, er schob die Zögernde vorwärts. Jetzt bogen sie ab.
Der Anna Augen funkelten auf: aha, da kriegte die Bröse mal wieder Besuch! Fern blinkte ein Lichtchen. Ei, ei! Das Mädchen kletterte behend auf Reschkes Laube, von da ließ sich's weit sehen. Wie das Licht dort im Felde wanderte, es schimmerte schon so groß wie ein Stern! Die Alte kam ihnen entgegen mit der Laterne. Aha, darum hatte sie heute weichen müssen, mit dem Besen hatte die Alte sie fortgejagt!
Das Mädchen hüpfte auf dem Dach der Laube herum, der hungrige Magen knurrte ihr, aber die Genugtuung half den Hunger ertragen: nun hatte sie es doch gesehen, sie hatte es doch gesehen. Hopp, hopp. Die Dachpappe knirschte unter den heftigen Sprüngen, die leichte Bretterbude zitterte unter dem Gewicht. Mit einem Satz sprang das Mädchen herunter, mitten in Mines Kartoffelstauden: das wollte sie denn doch nicht den Leuten antun, die Bude eintreten. Sie schleuderte die bereits verbeulte Gießkanne von sich, und dann kroch sie hinein in die Laube; da nächtigte sie heut. – – –
Die Mitternacht war vorbei, als Mine durch das noch erleuchtete Fenster des Restaurants an der Bahn in die Wirtsstube guckte. Ein weißlackierter blecherner Vorsteller ersetzte die Scheibengardine, sie sah darüber hinweg. Da saßen noch Arthur und Max und der Herr Bernhard, den sie nicht leiden konnte, obgleich sie durch ihn an das Land hier gekommen waren, und noch ein Mann, der den Kopf in beide Hände gestützt hielt und nicht einmal aufsah bei ihrem derben Pochen.
Arthur winkte ihr: »Komm doch rein.« Sie schüttelte den Kopf: es war höchste Zeit zum Zug! Da kamen sie denn heraus.
Arthur faßte sie unter: »Na, Alte?« Sie fühlte es wohl, er suchte Halt an ihr; ihren Max nahm sie sich an die andere Seite. Einen rechts, einen links – wie zwei schwere Körbe – so schritt sie mit ihren zweien durch die Nacht.
Vor ihnen ging Herr Bernhard mit dem Fremden, er schleppte den Mann mehr, als daß der ging.
Arthur streckte den Daumen aus: »Das 's der aus der Ko – Koppenstraße. Er über–ni–nimmt die Laube – dichte bei uns. Hat uns alle f–freigehalten, sehr nobel!« Es wurde Herrn Reschke schwer, ganz zusammenhängend zu sprechen, aber zärtlich drückte er seiner Mine den Arm: der da vorne war doch ein armer Teufel trotz seines Buttergeschäfts in der Koppenstraße. Er tippte sich auf die Stirn, und dann Juchzen durch die späte Stunde: »Der is nich ganz ri–richtig hier!«