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Dreizehntes Kapitel

Auf dem Feld, das so lange stillgelegen hatte, eine einsame Heide, war jetzt viel Leben. Man schachtete aus. Mit Hacken und Spaten waren Arbeiter anmarschiert gekommen von der Bahnstation, eine ganze Kolonne.

Noch im Herbst mußten die Ausschachtungsarbeiten vollendet sein für die Fundamente der Gebäude, für die Röhren der Wasserleitung. Dann konnte man im zeitigen Frühjahr anfangen mit dem Bau. Hohe Wälle von Sand türmten sich schon. Auch wo nicht gebuddelt wurde, war es jetzt nicht so ruhig mehr. Der Wind trug die Stimmen der Arbeiter in alle Weite, vom frühen Morgen bis Feierabend war stetiges summendes Geräusch in der herbstlichen Luft, und ein Poltern von Schollen.

Traurig lagen die drei Lauben, wie verloren, beim Pechpfuhl. Sie würden wohl auch bald verschwinden, wer mochte sich jetzt noch hier ansiedeln, so dicht bei der Irrenanstalt? Wenn erst irre Schreie über die Mauern gellten, vergitterte Fenster die Freiheit ausschlossen, dann war für andere kein Bleiben mehr.

In der Laube des Butterhändlers hatten sich die Arbeiter eingenistet: auch die Riedelsche war schon leer. Mit Sack und Pack, wie sie gekommen, war die Familie abgezogen: die Mutter mit dem Bettenpack auf dem Rücken, mit Waschgeschirr und Petroleumkocher der Vater, Fräulein Ella mit Hängelampe und Spiegeltoilette, Fräulein Elsa mit Almyra und dem japanischen Sonnenschirm. Das übrige holten sie noch nach.

Nur die jüngste trug nicht mehr den Wasserkessel als Helm auf dem Köpfchen; Irene Riedel lag krank zu Hause. Seitdem der tote Butterhändler sie so erschreckt hatte, war sie krank, und ein großer Ernst lag auf ihrer Stirn, eine tiefe Sehnsucht lag in ihren Augen.

Mutter Riedel sah das gar nicht: die Irene war eben bleichsüchtig, das tat weiter nichts, das gab sich von selber. Die Schwestern sahen es auch nicht, sie suchten zum Winter jetzt ›Ankaschemang‹ und neue Liebhaber. Nur Herr Riedel sah es. Noch ging er in die Biergärten bei gutem Wetter Silhouetten schneiden; bis nach dem Osten und dem feinsten Westen fuhr er hinaus, und zur Nachtzeit klapperte er die Stadtrestaurants ab, aber er fand doch immer eine Stunde, um am Bett seines Kindes zu sitzen. Dann hielt er die kleine Hand in der seinen, und seine Augen blickten betrübt. Die Großen hätten getrost so daliegen können, er hätte sich weiter nicht viel daraus gemacht – aber die Kleine! Eine schmerzliche Kümmernis bedrückte sein Herz: es war doch nicht schlimm mit seiner Irene?

»Die nimmt sich bloß alles zu tief,« sagte die Nachbarin. Herr Riedel sprach jetzt öfters mit Frau Reschke. Diese streckte, wenn sie ihn fortgehen hörte, immer den Kopf zur Küchentür heraus: »Tut's besser sein mit der Kleinen?« Und wenn er dann verneinte: ›es ginge noch immer soso‹, dann seufzte sie mit ihm.

So ungern Mine zu den Riedels hinüberging, nun paßte sie die Zeit ab, wenn keiner von den anderen zu Hause war, und sah nach Irene. »Tut der was weh? Wo fehlt's der denne?« Darauf antwortete die Kleine nur mit verneinendem Kopfschütteln. Aber wenn Mine von ihrer Jugend anfing zu erzählen, von Feldern, die nicht umgebuddelt wurden, wie jetzt draußen das Feld, von fruchtbaren Äckern und gelben Kornbreiten, dann wurde sie lebhaft. Ach ja, da möchte sie auch sein, draußen, weit draußen! Von allem ab.

»Ach, ich möchte nich mehr sehen, was ich nu sehe. Ich möchte gar nich wissen, was ich alles weiß!«

Mine verstand nicht, was Irene damit meinte, aber sie sah, daß des Mädchens Augen sich mit Tränen verschleierten, und sie fühlte: die paßte nicht hier herein. Die glich nicht Mutter und Schwestern. Und die sollte Barfußtänzerin werden?! Mine machte sich keinen Begriff von diesem Beruf, aber der war gewiß etwas Schreckliches. Sie tröstete: »Nu, du brauchst doch nich zu tanzen, wenn de nich willst!«

»Was soll ich denn werden?!« Zum erstenmal klagte Irene an. »Ich habe ja gar nichts anderes gelernt. Von sechs Jahr an auf der Ballettschule. Zu Schularbeiten hatt' ich nie viel Zeit. Nu bin ich bald vierzehn, ich komme Ostern schon aus Schule, dann geht's erst recht los!« Sie streckte ihr sorgsam gepflegtes, milchweißes Füßchen mit den blanken Nägeln zum Bette heraus. »Sehn Sie, Frau Reschke, da tut Mutter was für. Aber ich hätte lieber andere Füße. Ich möchte Lehrerin werden, oder auch Schneiderin wie Fräulein Frida!«

Wie Fräulein Frida – ach, du lieber Gott! Es war Mine jedesmal ein neuer Schmerz, wenn jemand Frida erwähnte. Und die wurde beneidet?! Die war nicht zu beneiden. Einmal, ja einmal war Frida glücklich gewesen, aber ach, nur einen einzigen Sonntag lang! – – –

Mit ihrer Tochter hatte Mine auf den Bräutigam gewartet, vielleicht ebenso sehnsüchtig, als diese selber es tat, denn Frida hatte noch den Glauben, und wer den Glauben hat, hat auch die Hoffnung, während die Mutter nicht so fest mehr glaubte. Herr Albrecht schickte den Ring nicht, er blieb selber aus – o weh, ob Max wohl recht hatte, der ihm nicht traute?

Frida war merkwürdig still; auf die Klagen der Mutter hatte sie nur ein leises: »Ach laß doch!« und daß der Vater auf den Ungetreuen schimpfte – »'n Ausreißer, 'n wortbrüchiger Lump!« – das litt sie nicht. Sie hoffte trotz allem noch immer. Es konnte ja nicht sein, daß er sie verließ. Wer weiß, was ihn jetzt veranlaßte, sie eine Zeitlang zu meiden?! Wenn sie beim Nähen saß und die Maschine schnurrte, dann stieg in ihr schmal gewordenes blasses Gesicht ein leises Rot: wer weiß, wenn sie heut abend nach Hause kam, dann war er da! Oh, dann würde sie ihm entgegenfliegen, sich jauchzend in seine Arme werfen! Und wenn er auch nur Hausdiener wäre, wie Max sagte. Und wenn sie auch mit ihm wohnen müßte viele Treppen hoch oder unten im Keller, das machte nichts. Sie begriff jetzt ihre Ansichten von früher nicht – hochmütig war sie gewesen – sie war es nicht mehr. Wenn er nur kam, wenn er nur wiederkam!

»Du,« sagte Mine zu Arthur, »geh doch mal bei Michels hin, erkundige dir nach dem Herr Albrecht! Vielleicht, daß du 'n da zu fassen kriegst!«

Aber das wollte Arthur nicht. »Und wenn er nu gar nich da is? Wenn sie nu sagen: ›Unbekannt‹, wie stehe ich denn da? Einfach lackiert!«

Da entschloß sich Mine, selber zu gehen. Sie sagte keinem Menschen etwas davon. Viele schwere Gänge hatte sie schon gehen müssen in ihrem Leben, diesen Gang würde sie auch noch über sich gewinnen. Es war ein weiter Weg von ihrer Novalisstraße dahin; sie hatte Zeit, zehnmal mutig und entschlossen zu sein, und zehnmal wieder verzagt und bange zu werden. Hier auf der Asphaltstraße der Stadt flatterte keine Hoffnung vor ihr her, wie damals auf dem Waldweg zur Gartenstadt; aber die Notwendigkeit, endlich die Wahrheit zu wissen, stampfte neben ihr her mit ehernem Schritt.

Sie hatte das Beste an, was sie besaß: ein Kleid, das Fridchen ihr geschneidert hatte, und einen Hut mit Blumentuff. Die großen Spiegelscheiben der Leipzigerstraße warfen ihr ihr Bild ganz stattlich zurück, zu schämen brauchte sich Herr Albrecht der Frau nicht, die nach ihm fragen kam.

In den Schaufenstern des roten Eckhauses blendeten herrliche Stoffe, rote, blaue, grüne, gelbe; alle bunten Strahlen flossen nieder, und breite, seidige Bänder warfen Blumen, die wie lebend waren, dazwischen. Nun trat sie doch voller Scheu ein. Aber es war mehr der große prächtige Raum, der sie niederdrückte, als das, deswegen sie kam; damit hatte sie sich abgefunden: es mußte sein. Ihre Arme fest an sich pressend, um nichts zu streifen, stand sie am Ladentisch.

»Was befehlen?« fragte ein Verkäufer. Sie tat, als höre sie nicht. Nein, dem konnte sie nichts sagen, der hatte so ein lustiges junges Gesicht.

Dann kam ein anderer: »Werden Sie schon bedient?«

Der hatte graue Haare und sah müde aus, zu dem hatte sie mehr Zutrauen. Der wußte ja, wie's zuging im Leben. Und mit fester Stimme fragte sie ihn nach Herrn Albrecht.

Ja, ein Herr Albrecht war hier. War der es vielleicht, den sie suchte? Er zeigte auf einen ihr gänzlich Fremden.

Nein, der war es nicht! Sie erzählte dem Herrn mit den grauen Haaren ihre ganze Geschichte. Es waren augenblicklich nicht viel Käufer im Laden, er hörte sie an; aber ein leises Lächeln konnte er dabei doch nicht unterdrücken: wie konnte man nur so leichtgläubig sein! Die Frau schien sehr dumm. »Ich werde mal nach hinten ins Kontor gehen, da noch einmal nachfragen. ›Albrecht‹ ist so ein landläufiger Name, vielleicht ist doch einer dieses Namens hier, und ich weiß es nur nicht.«

Nun stand sie wieder und wartete; sie wußte es schon, was der Herr ihr für Bescheid bringen würde. Ihre Frida, ihre arme Frida! Sie fühlte die Blicke der Kommis auf sich ruhn; sie guckten jetzt alle nach ihr hin, einige lachten, einige tuschelten. Sie wurde rot, vor ihren Augen schwamm es wie ein Nebel. Und durch den Nebel sah sie den Grauhaarigen zurückkommen, er zuckte die Achseln: »Leider nicht da!« Und durch einen Nebel tappend, suchte sie den Ausgang; der galonierte Portier mußte sie beim Arm nehmen und durch die Glastür führen. Und dann stand sie auf der Straße und mußte nach Hause. Nach Hause? Nein, das konnte sie jetzt nicht. Ihre Frida, ihre arme Frida! Sie mußte jetzt hinaus, hinaus auf ihr Feld!

Wie eine Flüchtende stürzte sie zum Bahnhof. Noch nie war ihr die halbe Stunde hinaus zu einer solchen Ewigkeit geworden.

Es tröpfelte leise, als sie von Hohenfelde zu den Lauben eilte. Und es würde bald dämmern. Sie ging nicht über die Chaussee, die war ihr zu sehr belebt, sie lief am Bahndamm entlang durch den tiefen Sand unter den Birken hin, den Weg, den Arthur sie geführt hatte das erstemal. Nun war's ein und ein viertel Jahr her, daß sie die Laube hier hatten. Viel hatte sich seitdem verändert. Oh, sehr viel!

Zwei Männer kamen ihr auf dem schmalen Pfad entgegen: waren es welche von den Arbeitern oder Landstreicher? Sie hatte gar nicht Zeit, das zu unterscheiden, der eine packte sie gleich an, und der andere vertrat ihr den Weg.

Was wollten sie? Sie war eine alte Frau, und Geld hatte sie auch nicht! Mit einer Kraft, die selbst ihren stämmigen Armen niemand zugetraut hätte, stieß sie die Angreifer zur Seite. Und dann fing sie an zu laufen, lief quer weg über die Heide; die Strolche nahmen die Verfolgung nicht auf. Sie sah die beiden nicht mehr, als sie noch einmal den Kopf wendete. Aber sie lief immer noch, lief, bis sie ihre Laube erreichte. Da warf sie sich auf das Bänkchen vor der Tür und schnaufte erst aus.

Es war nicht mehr sicher hier; aber erschrocken war sie nicht sehr, der Gedanke an Frida beherrschte sie ganz. Wie sollte, wie konnte sie es der Tochter beibringen, daß es noch schlimmer war, als Max prophezeit hatte?! Nicht einmal Hausdiener war er da! Eine große Verzagtheit fiel über sie her; die packte sie derber an als vorher die Männer. Mit starren Augen sah sie drein: wie fing sie's nur an, wie fing sie's nur an?!

Da sah sie sich etwas bewegen zwischen den Beeten. Gleich sprang sie auf. Sie brauchte gar nicht so behutsam von weitem zu stehen: ein junges Häschen saß da, ein spätgeborenes schwaches Tier – oder war es angeschossen? Es konnte nicht fort. Klagend wie ein kleines Kind saß es mitten im Weg. Aber die Alte hatte sich zu ihm gefunden, sie beschnupperte es. Als Mine näher trat, schrak die Häsin wohl auf, aber sie blieb. Sie beschnupperte weiter ihr klagendes Kind, und dann packte sie es am Fellchen im Genick, und den Kopf mit der schweren Last steif hebend, sprang sie mit ihm zwischen die Grünkohlstauden.

Da würde sie die Tierchen auch nicht verjagen! Mine gab sogar ihren Grünkohl preis. Ein gerührter Ausdruck war in ihrem Gesicht: ach, die Hasenmutter hatte sie etwas gelehrt. Ja, so würde sie's nun auch versuchen zu machen. Was konnte sie denn anderes für Frida tun? Sie würde ihre Frida fest in die Arme nehmen, damit die es fühlte: ›Ich, deine Mutter, verlasse dich nie‹.

Eine große Beruhigung war über Mine gekommen: mit der Liebe, mit der Liebe allein war's getan! Die tröstete. Jetzt nur schnell, daß sie daheim war, wenn die Tochter vom Nähen kam! Sie pflückte rasch ein paar Blumen. Viel war's nicht damit, die Arbeiter hatten schon gerupft beim Vorübergehen, aber von der rotgelben Kapuzinerkresse, von der letzten wohlriechenden Wicke und den herbstlichen Astern gab es doch noch einen Strauß. Davon bekam Frida die eine Hälfte, die andere würde sie der jüngsten Riedel ans Bett stellen.

Es war doch immer noch schön hier, oh, so schön! Mit einem Aufatmen sah Mine sich noch einmal um. Wie die andern nur sagen konnten, es sei nichts mehr los hier?! Auch Arthur hatte keine Sehnsucht mehr nach seiner Laube, sie war ihm verleidet. Warum? Wegen dem bißchen Bauen? Rein, man dächte hier bloß noch ans Sterben! Wegen dem Butterhändler?! Mine wiegte lächelnd den Kopf und blickte hin nach dessen früherer Laube: der ruhte nun sanft. Das war doch allen Menschen bestimmt, das wußte man doch schon von Kindheit an – ›Bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist!‹

Ihr war das kein Grauen. Ihr war das eine Zuversicht.

* * *

Wovor es Mine Reschke nicht graute, davor graute sich aber Rentier Hippelt im Kieferngrund. Nur nicht sterben, nur nicht sterben! Es wäre doch schrecklich, wenn er seine Geschäfte nicht zu Ende führen könnte; noch war die angefangene fünfte Million nicht voll.

Sowie Hippelt den letzten Anfall überwunden hatte, diese Herzschwäche, die zur tiefen Ohnmacht führte, ließ er sich den Agenten kommen. Er hatte zwar nichts mehr mit dem Bernhard zu tun haben wollen – aber nun verlangte ihn doch nach ihm. Er hatte keinen anderen Vertrauten.

Und Bernhard, der hinausgeworfen worden war in einer zornigen Stunde, kam mit doppelter Sicherheit jetzt wieder herein: »Nu, Herr Hippelt, wie steht's? Nu, Hippelt, was sagen Se zu Ihrem großen Projekt?« Er hatte die Grausamkeit, dem Kranken gleich davon anzufangen. »Hab ich nich immer gesagt: warten Se ab?! Hätten Se gewartet ab, hätt' die Stadt Berlin 's Gelände für das Irrenhaus von Ihnen gekauft. Aber Sie konnten nich abwarten, verschenkt haben Se's – ei weh, nu haben Se gar nischt!«

Hippelt wollte auffahren, aber der andere drückte ihn nieder und lachte: »Heißt 'n Grundstückspekulant!« Bernhard war jetzt lange nicht so unterwürfig mehr wie früher: was war der hier mit all seinen Millionen ohne ihn?! Jetzt war er, der armselige Schieber, nicht bloß Hippelts rechte Hand, jetzt war er auch noch die linke dazu. Früher hatte er sich mit kleiner Provision zufrieden geben müssen, jetzt aber schlug er auf.

Als Bernhard endlich gegangen war, verließen Hippelt die Kräfte. Mühsam hatte er sich aufrecht gehalten, mit einer zähen Willenskraft, die selbst den Agenten noch einmal getäuscht hatte. Er durfte nicht zeigen, wie schwach er war, er mußte es beweisen, daß er noch immer der alte Hippelt war, der große Mietshäuser besaß, am Gesundbrunnen, am Wedding, am Oranienburger Tor, Holzplätze, Stapelplätze, allerlei Grundstücke und einen Geldschrank, in dem soundso viele Wechsel lagen. Aber als die Tür sich hinter den karierten Hosen, dem langen schwarzen Rock geschlossen hatte, brach er zusammen.

Zum erstenmal wurde es Frau Sophie angst: sollte sie nicht lieber nach dem Doktor schicken? Wer weiß, ob Hippelt schon ein Testament gemacht hatte, und wie sie bedacht war?! Von weiteren Verwandten wußte sie nichts – sie, sie allein würde doch alles erben?! Wie eine Katze, die nicht recht weiß, ob sie zulangen darf oder nicht, schlich sie um den Kranken herum. In ihren niedergetretenen Pantoffeln schlurfte sie aus und ein und spähte nach der Nase, die abgemagert und spitz aus den Kissen ragte.

Hippelt sagte nichts, bis ihm dies beständige unruhige Aus- und Einschlurfen, dieses Spähen zu viel wurde. »Geh 'raus,« sagte er kurz. »Ich kann's nicht vertragen.« Und als sie nicht gleich ging, sondern stehen blieb und ihn mit ihren Augen, die rund und groß in ihrem kleinen Gesicht standen, wie eine Eule anstarrte, knäulte er sein Kissen zusammen und schleuderte es nach ihr. Ächzend fiel er dann zurück: nun war er allein. Allein, wie er es wünschte.

Und doch hatte er Verlangen, nicht allein zu sein; das Alleinsein war gräßlich. Es verstärkte noch das Pochen, das ihm den ganzen Körper so erschütterte, als schlüge in der Brust ein Hammer auf einen Amboß. Es machte ihn noch unruhiger, noch rastloser, so daß er sich bald aufrichtete, bald wieder streckte. Und das alles tat er mit stöhnendem Seufzen. Weg da, weg da von der Brust, was ihn so drückte! Er stieß mit den eiskalten Händen in die leere Luft: das war der Tod, der sich ihm aufhocken wollte. Weg, ha, weg da!

Als Albert am Abend eintrat, um dem Kranken eine dünne Suppe zu bringen, hielt der ihn fest. Er krallte seine Finger bittend in des Burschen Rock: »Bleib, bleib die Nacht bei mir!« Seine erstorbenen Augen forschten nach einem Zeichen der Teilnahme. »Bleib du bei mir!«

Da sagte Albert: »Wenn Sie mir zwanzig Mark dafür geben, dann bleib ich!«

* * *

Es war wirklich großartig, wie der Diener den alten Hippelt pflegte! Fräulein Zimmer bat dem jungen Menschen den ganzen Verdacht ab, den sie gegen ihn gehabt hatte. Ein Leichtfuß war der ja, aber nun ließ er völlig das Herumtreiben. Vergebens wartete die junge Grete, das Hausmädchen, auf eine Aufforderung von Albert zu einem Vergnügen. Er machte auch keinen Besuch mehr drüben. Da kündigte sie und stürzte Fräulein Zimmer in jammernde Sorgen. Wo bekam man nun gleich ein neues Hausmädchen her, jetzt gerade, wo es zum Winter ging?!

Hirsekorn hatte den Winter kommen sehen, aber nicht mit der Bangnis des vorigen Jahres. Nun war er schon daran gewöhnt. Der Sohn hatte ihm zwar vorgeschlagen: »Willst du nicht doch für den Winter lieber in die Stadt ziehen?« und die Tochter hatte aus Magdeburg Brief auf Brief geschickt:

›Komm doch zu uns für die schlimmsten Wintermonate. Unser Haus ist so groß, wir würden uns gegenseitig gar nicht stören oder uns auf dem Hals sitzen. Ich kann ja so schlecht hier abkommen, um Dich zu besuchen, die Kinder werden größer, ich überlasse sie nicht gern den Dienstboten. Wir haben auch so viel vor, aber komm Du doch zu uns! Wir würden uns herzlich freuen. Ich bin immer besorgt um Dich, es ist dort gewiß sehr kalt und einsam.‹

Hirsekorn blieb bei seiner Weigerung. Er hatte aber freundlicher, ja dankbarer darauf geantwortet, als er es je früher getan hätte. Er erkannte an: seine Kinder meinten es gut. Aber Jugend muß zu Jugend; Menschen, die selbst noch voller Leben sind, gehören mitten ins Leben, sie müssen schwimmen mit der vollen Flut. Es war ihm selber merkwürdig, aber er empfand es, bittere Regungen waren von ihm abgefallen, wie Blätter, die im Herbst fallen müssen, damit der Baum sich wieder neu begrünen kann, wenn ihn ein Lenz ruft.

»Was sollen so alte Leute wie ich in Berlin,« sagte er zum Sohn. »Wir taugen nicht mehr fürs Getriebe.« Und an die Tochter schrieb er:

›Ich danke Dir, liebe Hanna, für Deine Einladung. Es freut mich, daß ihr mich bei euch haben wollt, aber ich bin nun bereits hier so eingewurzelt, daß ich mich nur herausreißen könnte mit Verlust. Du brauchst Dich nicht zu sorgen, es geht mir gut. Ich habe das Bild Deiner Mutter – nicht das an der Wand meines Zimmers meine ich – eines, das hier unendlich lebendig ist. Wenn ich mich einmal allein fühle, dann rufe ich sie. Ich weiß, was sie mir gewesen ist, und was sie mir noch ist, und das macht mir die Eintönigkeit unterhaltsam, die Kälte warm, mein stilles Haus voller Leben. Ich fühle keine Einsamkeit mehr. An mein Fenster kommen die Vögel, Finken, Meisen, Drosseln, Rotkehlchen, selbst der Specht findet sich ein. Der Wald schickt mir seine Kinder, die klopfen bei mir an – nein, ich kann nicht fortgehn, liebe Tochter! Auch der Winter ist schön hier.‹

Und so war es wirklich. Es war keine Redensart von Hirsekorn, um die Absage zu bemänteln. Die Tochter wollte erst weinen, als sie den Brief bekam – wie wenig sich der Vater doch eigentlich aus ihnen machte! – aber dann regte es sich ganz leise in ihr wie eine Erleichterung. Der Vater schien sich auch wirklich dort sehr wohl zu fühlen. Und wer weiß, ob sie's ihm hier hätte so zu Dank machen können. Und Wilhelm schrieb ja auch: ›Vater ist heiterer, als ich ihn seit Mutters Tod je gesehen habe, ist äußerst frisch, und gegen Hilda so liebenswürdig, daß sie mir immer seine Galanterie zum Muster aufstellt.‹

Die Frau Regierungsrat hätte nie geglaubt, daß sie sich mit dem Schwiegervater noch einmal so gut stehen würde. Sie hatte immer etwas Angst vor ihm gehabt, er konnte so unangenehm geradezu sein; die schöne Frau war es gewohnt, daß man ihr überall nur das sagte, was sie gerne hören wollte. Jetzt fühlte sie einen kleinen Triumph: aha, nun hatte sie doch auch ihn bezwungen! Jetzt war ihr der Stettiner Bahnhof nicht zu entlegen und die Fahrt nach draußen auch nicht zu weit. Und jedesmal, wenn sie den alten Herrn besuchte, sagte er: ›Such dir etwas aus!‹

›Gerade, als ob er mich damit ärgern wollte,‹ dachte Julie Zimmer.

Aber der Doktor dachte weder hieran, noch daran, sich an der kindischen Freude der jungen Frau und dem leichten Kuß, den sie ihm dann auf die Wange drückte, zu ergötzen. Was er der Schwiegertochter Freundliches tat, tat er des Sohnes wegen; er trachtete, durch Äußeres langsam Einfluß zu gewinnen auf Inneres. Wie eine Rose, die im Garten steht mit flattriger Blüte, das zarte Häuptchen nach der Sonne dreht und es gleich entblättert hängen läßt, sowie ein Wind dagegen pustet oder ein Regen tröpfelt, so dünkte ihn Wilhelms Frau. Und wie ein Züchter mit Sorgfalt die empfindliche Blume langsam zu erhärten sucht und sie nicht gleich einpackt beim ersten Frost, so versuchte er es mit der Frau seines Sohnes. Mit kleinen Listen fing er es an. Was machte das aus, was sie forttrug an lieben Andenken? Die lockten sie an ihn. Und wenn sie dann erst voll an seine Güte für sie glaubte, ihm näher kam, dann traute er es sich wohl zu, dem Sohne etwas zu gewinnen. Wie sollte es sonst werden, wenn die Stürme kamen, die jedes Leben umsausen? Dann hatte Wilhelm ja nichts an dieser Frau.

Über den früher oft Heftigen war jetzt Geduld gekommen. Man lernte hier draußen das Warten. Lernte das Warten mit der Natur.

Noch war kein Hauch von Frühling in der Luft, kein Silberduft webte um die Birken, und die Kiefern standen stumm und starr trotz ihres ewigen Grüns. Und doch fühlte man, wenn man nur recht fühlen konnte, und doch sah man, wenn man nur recht sehen konnte, dieses Warten der Natur. Bald, bald! Noch war das Gras unter den Waldbäumen fahl geblichen, vom Winter ausgefroren; noch war kein Trieb in den Büschen, aber tief, tief unten in der Erde schlief das Herz schon nicht mehr, dessen Sehnsucht die Scholle zum Duften bringt, und den Boden zum Sich-begrünen. –

Das weite Feld zwischen Hohenfelde und Briesewerder lag noch ganz verlassen; die Winde schnoben darüber hin, und Regengüsse peitschten es. Noch rührte sich hier nichts, noch lag es in stillgeduldigem Warten.

Aber die, die einsam darüber hinstrich, kannte keine Geduld. Die schwarze Anna wußte nicht, wie ihre Zeit hinbringen. Sonst hatte sie den Winter verschlafen, Tag und Nacht hatten sich ihr in eins verwoben, jetzt wartete sie am Tag auf die Nacht, und in der Nacht auf den Tag. Warum kam er so selten?!

Wenn sie gewußt hätte, wo er wohnte, sie wäre zu ihm hingelaufen – wo wohnte er? Es hatte sie früher nie verlangt, das zu erfahren; jetzt hätte sie es gern gewußt. Aber er hatte gesagt: ›Ich heiße Ludwig, und ich wohne – na, irgendwo! Und nu schweigste davon. Frag nich so dumm, sonst komm ich nich wieder!‹ Er kam auf dem Rad, er ging auf dem Rad, sie hätte bloß den Spuren des Rades zu folgen brauchen, aber sie getraute sich nicht. Wenn er das merkte, dann wurde er böse. Oh, so böse! Dann würde er nicht mehr wiederkommen, nie mehr.

Obgleich es rauh war, oft so unwirtlich, daß man ganz verklammte, so erwartete sie ihn doch immer noch am alten Platz: an der Unterführung des Bahndamms, in dem kleinen Tunnel. Aber da war jetzt kein heimliches Stübchen mehr. Das Brombeergestrüpp war nackt und dürr, durch die blattlosen Ranken pfiff der Wind, es deckte nicht schützend den Eingang mehr. Wieviel besser wäre es in Reschkes Laube gewesen! Die beiden anderen Lauben waren nicht mehr; die eine Bude hatte der Sturm umgerissen, die andere hatte ein Feuer verzehrt, das die Arbeiter sich darin angezündet hatten. Aber die Laube von Reschkes stand noch so schön und war wohlverwahrt. Anna dachte an die Nächte, die sie im vorigen Winter dort so behaglich verschlafen hatte. Wenn er doch da hätte mit ihr unterkriechen wollen! Aber ›Nein, nein!‹ – in die Laube wollte er nicht. Er wehrte hastig ab: was fiel ihr ein, in fremder Leute Eigentum sich einschleichen zu wollen, zu tun, als gehöre ihr das! Und wenn die nun darüber zukämen? Das könnte eine nette Geschichte werden!

Ach was, die kamen ja nicht, kein Mensch kam jetzt! Aber da war er böse geworden und hatte sie so heftig angefahren, daß sie zitterte: nichts mehr von der Laube, kein Wort mehr!

Nun duckte sie sich hier in der Unterführung, an deren gemauerter Decke die Feuchtigkeit noch gefroren war, und, wenn oben ein Zug darüber wegdonnerte, in kleinen Eiskristallen niederstäubte. Auf dem schwarzen Haar des Mädchens blieb es liegen wie Reif. Sie fror erbärmlich, ihr Gesicht war ganz blau vor Frost. Es war so moderig, so kellerig hier. Wenn er doch bald käme! Dann wurde ihr warm.

Bei den geheimen Offenbarungen im siebenmal versiegelten Buche stand: ›Der stärkste Liebeszauber‹.

›Sieben Fäden vom Hemd, sieben Fäden vom Haar
Flecht ich zu einem Seile klar,
Bind es ihm dreimal um die Händ,
Daß er sich nimmer von mir wend.'‹

Aber um die Mitternachtsstunde zwischen Donnerstag und Freitag mußte es sein, und der Vollmond mußte dazu scheinen. Heute schien er nicht. Das Mädchen trat vor die Höhle und starrte hinauf zum Himmel: noch nicht!

Zwischen zerrissenen Wolken schob langsam der Mond sein schiefes Gesicht vor und warf ein klägliches Licht herab auf die Heide. Die Einsame hob die Hände empor: da war er, da war er, und er würde schon voll sein in ein paar Tagen!

Sie fing plötzlich an zu hüpfen, immer im Kreise herum, bald auf dem einen Bein, bald auf dem andern, es machte ihr warm, und heiß schlug es ihr dazu vom Herzen zum Kopfe, eine Welle von Freude: wenn der Vollmond schien, wenn der Vollmond schien! Immer schneller hüpfte sie, sie drehte sich im Wirbel, ihre Haare lösten sich und flogen wie eine Mähne.

»Na, biste denn ganz verrückt?!«

Mit einem gellenden Schrei hielt sie an und warf sich ihm an den Hals: da war er ja! Sie hatte ihn gar nicht kommen gehört. Mit wildem Jubel umhalste sie ihn, sie küßte sein Gesicht, seine Hände, seinen Ärmel, seinen Rock.

»Still doch, still! Verrücktes Mädel, willste wohl gleich stille sein!« Er preßte ihr seine Hand hart auf den Mund. »Schrei doch nich 's ganze Feld auf!«

Sie lachte übermütig: das war ja ganz gleich, wenn sie ihn, ihn nur hatte!

Aber er zerrte sie ins Dunkel der Unterführung zurück – hierhin traf kein Mondstrahl. Sein Kuß war flüchtig, aber sie empfand das nicht, sie war wie berauscht von dem Glück, ihn bei sich zu haben, ihren ›Hübschen‹, ihren ›Feinen‹. Sie fühlte auch die kellerige Eisluft nicht mehr.

Aber er schauerte zusammen: »Donnerwetter, is das 'ne Kälte hier. Nun hab ich's aber bald satt!«

Sie schmeichelte ihm: »Heirat mich doch!«

»Du bist verrückt!« Er stieß sie von sich.

»Ja, heirat mich doch!« Sie blieb dabei. »Denn frieren wir nich mehr. Denn kannste in unser Haus ziehn!«

»In die dreckige Baracke?!« Er lachte roh.

Aber sie verstand dieses Lachen nicht. Ernsthaft sagte sie und rieb sich an ihm wie eine Katze an einer liebkosenden Hand: »Wenn dann Großmutter tot is, dann is alles dein. Oho, Großmutter hat Geld, mehr als du denkst!«

»So?« Etwas Aushorchendes kam in seinen Ton. »Na, was du viel nennst!«

Was? Er schenkte ihr keinen Glauben?! Wie ein Kind hatte sie das Bedürfnis, sich wichtig zu machen. Und unklar empfand sie: damit lockte sie ihn. »Großvater hat oft zu mir gesagt: ›Wenn du mal heiratst, denn kaufste dir 'n Haus in Berlin‹. Oh, der war gut zu mir! Ganz anders wie seine Olle. Ja, sehr gut; der hat mich nie geschimpft und nie –«

Was ging ihn das an?! Aber anderes interessierte ihn. Rücksichtslos schnitt er ihr die Rede ab: »Woher hatte der denn das Geld?«

»Na, er legte doch den Leuten de Hände auf und kuckte ihnen in de Augen. Un hat se gestrichen un was dabei gesprochen. Un denn hat er allerlei gekocht zum Einnehmen. Un Frauenspersonen sind auch bei ihn gekommen, gerade wie jetzt bei Großmüttern. Die verdient auch 'ne Menge. Aber Großmutter is schlecht zu mir!« Ihre Augen waren des Weinens ganz ungewohnt, aber nun kam ihr plötzlich etwas Nasses hinein. Sie drückte ihr Gesicht gegen seine Brust, ihre Arme umklammerten ihn: »Verlaß mir nich! Hab mir doch lieb!«

»Na ja, ja!« Was wollte sie denn, das hatte er ja! Er tätschelte ihren Nacken, er streichelte sie, und er küßte sie auch. Aber seine Seele war nicht dabei.

Geld, viel Geld besaß also die Alte? Geld, Geld! »Wo hat sie's denn?« Das entfuhr ihm so, er wußte nicht, daß er es laut sagte. Er erschrak fast über des Mädchens Antwort: »Na, bei uns doch, wo denn sonst? Da in unserm Haus. Da wo der Peter steht, der Bock! Im Stroh neben der Stube!«

Er schauderte zusammen.

»Frierste so?« fragte sie zärtlich. »Denn komm doch rein bei mir, ja, willste? Großmutter schläft fest, un wenn se auch aufwacht, na« – sie stellte sich trotzig auf, die Leidenschaft ihrer Liebe vertrieb ihr jede Angst – »na, denn wacht se eben auf! Komm nur, komm nur dreist!«

Aber er wehrte sich dagegen.

»Nein, heute nich! Nein, nein, heute nich!« Er streckte beide Hände abwehrend aus. Seine Augen flackerten scheu.

Sie sah es nicht im Dunkeln, aber sie fühlte das Erbeben seines Körpers. »Bist du so bange?« Es schüttelte ihn ja förmlich. Sie wollte ihn mit sich ziehen: »Komm, komm!«

Aber er wehrte sich, »'n andermal – 's nächste Mal!« »Nächste Donnerstagnacht, wenn der Vollmond scheint. Denn kommste aber. Ja? Bestimmt?!«

Sie faßte seine Hände, und eine Strähne ihres gelösten Haares wie ein feines Seil darum windend, murmelte sie lächelnd mit singendem Tonfall:

»Sieben Fäden vom Hemd, sieben Fäden vom Haar
Flecht ich zu einem Seile klar – – –«


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