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Seit Doktor Hirsekorn den Hund hatte, ging er mehr spazieren als sonst, das große Tier mußte Bewegung haben.
»Gott, wie entsetzlich, der häßliche Köter!« hatte die Zimmer anfänglich gesagt; sie war wenig entzückt gewesen von des Hundes Erscheinen, aber als sie sich es klar machte, welch ein Schutz er doch war, wendete sie ihm ihre Gnade zu. Pluto mußte sogar im Hause schlafen, und zwar vor ihrer Tür. Man war jetzt wirklich seines Lebens nicht mehr sicher hier. Nun auch nebenan die Villa noch leer stand, war sie in beständigem Zittern. Früher, da hatte man doch wenigstens den jungen kräftigen Menschen, den Albert, auf Rufweite zur Hand gehabt. Sie würde ihren Herrn Doktor auch nicht ohne Kampf weit haben gehen lassen, hätte ihn der Hund nicht immer begleitet.
Pluto war jetzt stets satt, und das sänftigte seinen Charakter; auch daß er tagsüber nicht immer an der Kette liegen mußte. Drüben war nie jemand mit ihm spazieren gegangen, nun aber konnte er draußen austollen. In einer wilden Freude sprang er das erstemal vor seinem Herrn her.
Hirsekorn folgte ihm; es war ja ganz gleich, wohin er ging; es war jetzt überall Frühling. Und ohne daß er eigentlich wußte, wie – er hatte sich an den glücklichen Sprüngen des Tieres gefreut und seine kräftigen und doch so geschmeidigen Bewegungen beobachtet – waren sie schon durch den Wald und draußen auf der Heide. Und der Hund war mit gewaltigen Sätzen über das sandige Feld gefegt und hatte ein paar erschrockene Kaninchen vor sich her gejagt. Dann war er verschwunden. Hirsekorn hatte gerufen, gepfiffen, das ihm sonst so gehorsame Tier folgte nicht. Endlich fand er den Hund. Pluto kam mit hängender Zunge aus dem kleinen Tunnel des Bahndammes herausgestürzt, seine Lefzen trieften vor Aufregung. Er rannte immer vor der Unterführung hin und her, und dann steckte er wieder schnüffelnd die breite Nase durch das Brombeergestrüpp, das jetzt wie ein leicht hellgrüner Vorhang den Eingang deckte.
Da saß wohl eine Katze drin, oder vielleicht gar ein Fuchs? Hirsekorn schob mit seinem Stock die Ranken beiseite: eine feuchtkalte, halbdunkle Höhlung gähnte ihm entgegen. Nichts war darin, aber der Hund stürzte sich hinein und gab Laute von sich, die dröhnend von der niedrigen Wölbung widerhallten. Man mußte ihn am Halsband nehmen und fortführen, sonst war er nicht wegzubringen.
Es war wirklich merkwürdig mit dem Hund. Immer, wenn sie auf dieses Feld gingen, war er aufgeregt. Und überall schnupperte er. Und als Hirsekorn sich einmal bis ans Haus der Bröse verlor, wiederholte sich dasselbe wie bei der Unterführung im Bahndamm. Pluto war nicht wegzubringen, er schnoberte unter dem kleinen Fenster neben der Haustür, er stellte die Pranken aufs Fensterbrett, er rannte dann hinters Haus, blieb eine Weile fort, kam dann schwanzwedelnd und leise winselnd wieder. Seine klugen Augen schienen förmlich zu sprechen – aber was, was sagten sie?!
Der Doktor blieb eine Weile vor dem Hause stehen. Eine traurige Stille war um dasselbe und eine große Verlassenheit. Aber doch roch es hier nach Veilchen, und unterm Sparrenwerk des niedrigen Daches klebte ein Schwalbennest. Auf der Rückseite des Hauses, hinter dem der Morast jetzt eingetrocknet war, hatte man den Blick hinüber nach den feuchten Wiesen der Briese. Langsam spazierten zwei Störche dort auf und ab, nickten und bückten sich, und tunkten ihre langen Schnäbel nieder. Plötzlich erhoben sie sich und flogen mit Geklapper übers Haus der Bröse. Auf dem First saßen sie einen Augenblick und hielten Ausschau. Gleich darauf spazierten sie am Pechpfuhl. Ganz so gemieden war das Haus also doch nicht. Auch hier könnten Menschen wohnen und das Haus könnte fröhlich aussehen – aber wo, wo waren diese Menschen? Es gab deren nicht viele! –
Eigentlich seinem Hund zuliebe ging Hirsekorn jetzt häufig auf das Feld. Es gab schönere Spaziergänge, aber seltsam, auch er verspürte etwas wie eine leise Erregung, wenn sein Hund so aufgeregt wurde. Und es beschäftigte ihn: was hatte Pluto nur hier, was brachte ihn so sehr in Eifer?!
Ob er hier öfters gewesen war? Er war ja aber nie vom Hippeltschen Grundstück weggekommen. Ob es die zahlreichen Kaninchen waren, deren Spuren er nachschnoberte? Nein, er verfolgte eine andere Spur. Weite Kreise zog er auf dem Feld, jagte munter, aber hielt sich nicht auf. Doch sobald sie sich dem Bahndamm näherten, veränderte sich sein Wesen. Je näher sie dem kleinen Tunnel kamen, desto aufgeregter gebärdete er sich; er stellte sein lautes Bellen ein, er gab nur ein ganz leises aufmerksames Schnaufen von sich, die Nase am Boden, schnüffelte er bald rechts, bald links, bis er mit einem plötzlichen Sprung ins Brombeergestrüpp hineinsetzte, dieses durchstöberte und in der Höhlung verschwand. Das gab Hirsekorn zu denken.
Und machte der Hund es nicht ebenso beim Haus der Bröse? Sollte dies seltsame Gebaren des Tieres mit der Ermordung des Weibes in irgendwelchem Zusammenhang stehen? War das möglich, konnte das sein?! Der Doktor fing an, darüber nachzudenken, aber es fand sich für diese Gedanken kein rechter Weg. – – –
Heute war Hirsekorn wieder auf dem Felde. Er war in die Nähe der früheren Laubenkolonie gekommen. Da sah er eine hingestreckte Gestalt auf dem Boden liegen, und es durchzuckte ihn: war da wieder etwas passiert?! Er hatte sich in der letzten Zeit so viel mit dem, was hier geschehen und nicht aufgeklärt war, beschäftigt, daß ihn der regungslos daliegende, langausgestreckte Körper beunruhigte. Er pfiff seinem Hund. Und als Pluto kam, faßte er ihn am Stachelhalsband und ging aufmerksam näher: »Such, such!« Der Hund gab Laut. Da hob die hingestreckte Gestalt den Kopf.
Es war Mine Reschke. Als sie jemand auf sich zukommen sah, sprang sie verlegen auf.
* * *
Das war das Schwerste für Mine Reschke gewesen, daß sie nun bald nicht mehr draußen auf ihr Land gehen sollte. Wenn sie auf ihrer Scholle da gegraben, gepflanzt und gejätet hatte, da war es ihr jedesmal so, als gehöre die ganze große Welt ihr. Sie war sich dann nicht mehr arm vorgekommen, sie war ja so reich. Und all ihre Sorgen hatte sie da mit untergegraben: ihre Sorge um Frida, auch manche Sorge um ihren Arthur – wo sollte sie nun ihre Sorge hintun um Max? Da bringt man nun ein Kind zur Welt, gibt sich viel Mühe, es groß zu ziehen, und dann reißt es sich los und geht fort, so weit fort, als wäre die Mutter gar nicht mehr da!
Mine konnte ihren Max nicht begreifen: er war doch ganz unschuldig befunden worden, warum ging er?! Aber Arthur erklärte es ihr, und Frida schlug sich auch auf des Vaters Seite: die Ehre war dem Jungen eben gekränkt. Und wenn er auch frei ausgegangen war, solange kein anderer entdeckt wurde als der Täter, solange der Schuldige nicht gefunden war, so lange blieb doch an Max etwas haften. Und das war ihm zu schrecklich, und darum hatte er fort gewollt. Nun mußte Mine es ja wohl glauben, wenn sie alle beide es sagten.
Mine konnte es doch nicht lassen, und wenn ihr vom Juli ab da draußen auch nichts mehr gehörte, jetzt fuhr sie noch hinaus. Und wenn sie auch nichts zu bestellen mehr hatte, so riß sie wenigstens noch das Unkraut aus den Beeten und sammelte von den Stachel- und Johannisbeerbüschen, die dieses Jahr eine reiche Ernte versprachen, das Ungeziefer ab. Die Laube selbst hatte Arthur schon verkauft, einer der Bauarbeiter hatte sie sich abgetragen und würde sie nun aufschlagen ganz irgendwo anders. Arthur war froh, wenigstens etwas dafür bekommen zu haben. Es war zwar längst nicht die Hälfte von dem, was sie gekostet hatte, und nicht der hundertste Teil von der Mühe und Arbeit, die Mine daran gewandt hatte.
Wenn Mine sich jetzt draußen hinsetzen wollte, mußte sie schon Platz nehmen auf der flachen Erde. Eine Bank gab's nicht mehr. Aber eintönig quarrten im Pfuhl die Frösche, und sie durfte den Pirol noch hören, der irgendwo unablässig seinen regenkündenden Ruf erschallen ließ.
Heute aber hörte Mine das nicht. Der erste Brief von Max war gekommen. Schon vor Wochen hatten sie einen erwartet, aber das Hoffen war immer vergeblich gewesen. Nun schrieb er's: es ging ihm nicht sonderlich. Das Amerika gefiel ihm ganz und gar nicht, es war alles so anders, als er es sich gedacht hatte. Arbeit hatte er freilich gefunden, er war vorderhand noch in Neuyork bei einem Maler- und Anstreichermeister; und von Alaska redete ihm der ab. Aber er würde doch noch nach Alaska gehen. Und Heimweh hatte er auch.
Der arme Maxe! Ach, daß er hatte gehen müssen! Mit bittrem Kummer war Mines Herz voll, sie seufzte, und dabei spielte ihre Hand in der losen Erde, zerbröckelte ein paar Krumen zwischen den Fingern und nahm wieder neue auf. Ein würziges Duften stieg auf aus der Scholle, sie glaubte den erquickenden Duft noch nie so stark empfunden zu haben – und jetzt, wo sie ihn so nötig hatte, sollte sie ihn nicht mehr einatmen?! Eine bange, hilflose Verlassenheit kam über die Frau. Wenn sie dies nicht mehr hatte, nicht mehr die Freude an den paar Stauden, an den ersten Pflänzchen, und an jedem Blümchen – was hatte sie dann noch?! Ach, sie war ja hier schon so angewachsen – nein, sie konnte, sie konnte hier nicht fort! Ihre Finger krallten sich förmlich ins Erdreich, wie Wurzeln, die eindringen, die tief hinabgreifen. Ach, wenn ihr doch dies hier wenigstens bleiben würde! Aber noch vierzehn Tage, und es war damit vorbei. Dann trampelten harte Füße ihr Gärtchen tot, der Weg zum Bau ging vielleicht hier darüber hin!
In einem Schmerz, der die sonst so Ruhige außer sich brachte, warf sich Mine der Länge nach hin und drückte ihr heißes Gesicht in die kühle Erde. – – –
»Ach, sieh da, die Reschke! Guten Tag, liebe Frau!« Hirsekorn hielt ihr die Hand hin. »Was machen Sie denn, wie geht's?« Seine Stimme klang so freundlich. Die Verlegenheit wich von ihr, es zwang sie förmlich, ihn anzusehen.
Und da war es ihr, als blickte sie in Gottes Angesicht. So, gerade so, hatte sie sich als Kind immer den lieben Gott vorgestellt: als einen schönen allen Mann mit einem weißen Bart und mit weißen Haaren, die ein bißchen lang waren und noch sehr dicht, und mit blauen Augen, die einen durch und durch schauten, und noch mit roten Backen.
Mit ihren verweinten Augen Hirsekorn vertrauensvoll ansehend, sagte sie: »Uns tut es gar nicht gutt gehn!« Und als ob sie es dem vertraute, dem allein man alles vertrauen kann, so erzählte sie, rascher als es sonst ihre Art war, und flüssiger und folgerichtiger aneinandergereiht, was geschehen war seit jenem Tage, an dem sie ihn zum letztenmal gesehen hatte.
»Wissen Se noch, Herr Dokter, als ich bei Ihnen war, um für Fridchen was gegen die Bleichsucht zu holen? Dazumal sagten Sie: ›Man kann seinen Kindern 's Glücke nich schaffen, da sind wir ohnmächtig‹ – dadran habe ich schon so oft denken müssen, Herr Dokter. Ach,« sie faßte seine Hand und beugte sich über sie, um ihre Tränen nicht sehen zu lassen, »was mit der Frida passiert is, das 's ja noch nich so schlimm, vielleicht daß sie sich doch noch verheirat', wenn se's erscht verschmerzt haben tut, aber das mit dem Maxe! Ach, wissen Se denn nich, Herr Dokter, was mit dem tut sein?!«
»Erzählen Sie mir's,« sagte er gütig. Er sah in ihr zuckendes Gesicht, sie tat ihm leid. – –
Lange gingen sie auf und ab. Sie sagte ihm alles. Der Doktor war ja so ein kluger Herr, der würde sie schon verstehen, auch wenn sie es nicht so herausbringen konnte, wie sie es inwendig hatte.
»Und der Bräutigam Ihrer Tochter, sagen Sie, war bei Michels im Seidenhaus?«
»So hat er gesagt, aber 's tut ja nich wahr sein. Der Maxe hat gleich gesagt: ›Ich weiß nich, ich weiß nich‹, der hat ihm gleich nich getraut. Aber so 'n hübscher Mensch war er, schwarz, mit 'ner Tolle und mit schwarzen Augen, die hielt er immer niedergeschlagen, so bescheiden war er. Un erzählen tat er, erzählen, grad als wenn einer aus'm Märchenbuch liest!«
»Es scheinen ja auch Märchen gewesen zu sein. Wie alt war er denn?«
»Jünger als der Maxe. Anfangs die Zwanzig. Un groß, schlank, aber doch kräftig, sehr ansehnlich; nur so 'ne schlechten Zähne hatte er, da tat ihm grad vorne schon einer fehlen.«
Hirsekorn stutzte: warum er bei dieser Beschreibung nur immer an Herrn Hippelts Albert denken mußte? Der junge Mensch stand plötzlich ganz deutlich vor ihm. Er hörte nicht mehr recht zu, was Frau Reschke weiter erzählte: von dem Warten ihrer Frida auf Herrn Albrecht, von ihrem Glauben, in dem sie so schmählich betrogen worden war, von all den zunichte gewordenen Hoffnungen und von dem schrecklichen Verdacht, der auf ihrem Max gelastet hatte.
Albrecht – Albert! Und der Hund, der Hund! Der hübsche Mensch mit der schwarzen Haartolle, mit den scheuen Augen und der auffallenden Zahnlücke! Der Albert war drüben verschwunden gewesen seit der Nacht, in der die beiden Frauen ermordet worden waren! Weder die Zimmer noch die Dienstmädchen hatten ihn mehr gesehen. Und was redete Hippelt von ›verreist sein‹?! Und gerade in jener Nacht war es auch gewesen, daß der Hilferuf Hippelts ihn aus dem Schlaf geweckt hatte! Des Doktors Augen blickten sehr ernst: wie gehörte das alles zusammen? Denn daß es zusammengehörte, das glaubte er jetzt zu wissen.
Es ging Hirsekorn wie seinem Hund. Er konnte von der Spur nicht los, die er jetzt plötzlich bei der Erzählung der Reschke zu entdecken schien. Er glaubte einen Weg zu sehen, schmal, kaum kenntlich, aber jetzt doch ganz deutlich zu verfolgen.
»Ach, Herr Dokter, daß unser Maxe die Bröse umgebracht haben soll, das war das Allerschlimmste! Mein Maxe, der keinem Tier was zuleide tun kann. Un nu is er so weit weg. Sehn Se, Herr Dokter, die Sorge um 'n Kind, das so weit fort is, die bringt einen beinah um. Und nu habe ich von Juli an nich mal meine Laube mehr, nich 'ne Handvoll Erde, wo ich zu sagen kann: ›du bist mein‹. Wo ich mir was pflanzen kann, un wo mir's förmlich raufrufen tut wie lauter Trost!« Sie wollte das Weinen herunterschlucken, aber sie schluchzte doch: »Ach Herr Dokter, Sie wissen ja nich, wie es tut sein, wenn mer nischte, gar nischte mehr zu eigen hat!«
»Aber das hier war doch nicht einmal Ihr Eigentum, liebe Frau!«
»Nee – eigentlich nich!« Mine blickte ganz verdutzt: das hatte sie gar nie mehr bedacht, daß es ja hier doch nicht ihr zu eigen gehörte. Aber dann brach aus ihren verweinten Augen ein Strahl der Liebe: »Herr Dokter, 's war aber doch so gutt wie meine – ich durft doch drauf arbeiten. Sehn Se« – sie raffte ein wenig Erde auf und hielt sie ihm hin auf der flachen Hand – »als ich hier hinkam, tat's bloß Sand sein, nu is es doch Erde. Gute Erde.« Sie sagte es mit Stolz. Sie hatte ihren Kummer schon halb vergessen, sie pries und pries das Stückchen Erde, diese arme Scholle, die ihr nicht einmal zu eigen gehörte. –
Hirsekorn ließ sich von der Frau noch ein Stück Weges begleiten. Sie schritten über das große Feld, der Hund zog seine Kreise um sie her in munteren Sprüngen.
Der Doktor ging in tiefen Gedanken, er sprach nicht. Plötzlich blieb er stehen, sah nach dem großen Gebäude hin, dessen unteres Stockwerk sich schon zu heben begann, und sah dann nach dem Häuschen der Bröse zurück, das, wie versunken, jenseits der Chaussee lag. ›Zu verkaufen oder zu vermieten‹. Verkaufen –! Man müßte es dann wohl ein wenig ausbauen. »Hm!« Er zeigte mit dem Finger: »Glauben Sie, Frau Reschke, daß da wohl Leute hinziehen!«
»Warum denn nich?« Sie sah ihn verwundert an.
»Nun, es haftet doch immerhin keine angenehme Erinnerung daran. Und auch keine saubere!«
»Nu die Bröse nich mehr tut drinne sein, tut's doch ooch sauber da sein!« Mine lächelte über den Herrn, daß der denken konnte, es läge am Hause. »Ich tät mer nich fürchten, ich wohnte gleich drinne!« –
Er nickte ihr zu; und dann schüttelte er ihr die Hand, und sie schieden. Als er sich noch einmal umwendete nach ihr, sah er ihre Gestalt, ganz allein. Sie erschien ihm seltsam groß, ragend aus der Fläche. Mit ruhigem Schritt ging die Frau über das jetzt schon dämmerig gewordene, einsame Feld.
Und er stand und sah ihr noch immer nach: ja, das war eine, die taugte für hier draußen! Andere kamen, andere gingen, die wenigsten hielten aus. Und jetzt baute man da ein Irrenhaus, und das Öde wurde noch öder, das Traurige noch trauriger. ›Selig sind, die reines Herzens sind‹ – nur denen konnte das Leben hier fröhlich sein!
Er kehrte sich endlich von der schwindenden Gestalt ab und ging dann heimwärts, lächelnden Mundes, und doch mit ernster, von Gedanken durchfurchter Stirn. – –
An diesem Abend hatte Doktor Hirsekorn noch ein langes Gespräch mit seiner Frau. Das Fräulein, das an der Türe lauschte, hörte ihn sagen: »Soll ich es tun? Was meinst du, Marianne? Ich nehme unseren Kindern ja nichts fort dadurch; für die ist es ja nur so wenig, für jene aber so viel!«
Und dann, nach einer Pause: »Du meinst also auch, daß ich es ihr kaufen soll? Dann hat sie doch endlich etwas eigen!«
Was, was? Wem wollte er etwas kaufen, wer hatte dann etwas eigen?! Fräulein Zimmer draußen vor der Tür zitterte vor Neugier. War sie gemeint? Wer denn sonst – wer, was?! Sie hörte leider nicht deutlich mehr.
Die Stimme drinnen wurde jetzt ganz flüsternd. Sie flüsterte: »Gute Nacht, mein geliebtes Herz! Ich danke dir!« Und dann mit einem Seufzer: »Ach, was habe ich denn eigen, so ganz eigen? Sage es mir, Marianne!«
* * *
Rentier Hippelt war in sein eigenes Haus gezogen, in die zweite Etage des großen Eckhauses am Oranienburger Tor. Das brausende Geschäftsleben der großen Stadt sauste da vorüber. Aber er genoß nichts davon. In seinem Schlafzimmer, hinten heraus, lag er im Bett, unterm Kopf den rotgewürfelten fettigen Schutzlappen, und stierte gegen die Decke. Seine Hände ballten sich: das hatte ihm sein früherer Nachbar angetan, der scheinheilige Tugendbold, der Doktor Hirsekorn! Der Teufel sollte den holen! Nun waren sie doch dahintergekommen, daß Albert fort war, fort, seit jener Nacht!
Wenn Hippelt heimlich jener Nacht gedachte, schlugen ihm noch die Zähne zusammen; und nun hatte er es offen eingestehen müssen, daß auch ihn der Albert bedroht hatte. Er hatte es freilich so milde gemacht wie nur möglich: der Bursche war eben ein wenig frech gewesen – mehr dummdreist als böse – nein, bewahre, schlecht war der Albert nicht, nur leichtsinnig! Schlimmeres war völlig ausgeschlossen. Er war ein guter Junge, ein tüchtiger Junge – wie konnte man den Albert nur eines Mordes verdächtigen?! Und warum Albert fortgelaufen war? Weil er sich eben der Unbescheidenheit gegen seinen Herrn so geschämt hatte. Und wohin er fort war? Ja, das wußte er nicht. Das mit der Reise nach Ostpreußen, das war nur so gesagt gewesen, weil er eben nicht wollte, daß müßige Neugier ihn ausfragte. Der Albert würde schon bald wiederkommen – es würde ihm ein leichtes sein, sein Alibi nachzuweisen, des konnten sie gewiß sein.
Bei seiner Vernehmung war Hippelt ganz ruhig gewesen. Sie hatten ihn vereidigt – aber hatte er denn nicht die Wahrheit gesprochen, die volle Wahrheit? Er konnte ruhig schwören. Man braucht doch nur zu sagen, was man gefragt wird. Und der Hund, was war das mit dem Hund? Die Kanaille, hätte er ihr doch lieber Gift gegeben!
Daß Hippelt auf Alberts Rückkehr hoffte, das war in der Tat wahr. Er wunderte sich selber, daß er auf den Jungen noch hoffte. Wenn er doch käme, der verfluchte Bengel, und mit seiner eisigen Ruhe dem Richter gegenüberträte! Die ganze Justiz war aufs Maul geschlagen, wenn er seinen Mund aufmachte. Der Albert war unschuldig, ganz unschuldig. Das würde er sicher beweisen!
Aber in seinen Träumen, die mehr Fieberphantasien als Träumen glichen, war es anders. Da sah Hippelt den Sohn mit mörderischen Händen. Und das zehrte an seiner schwachen Lebenskraft. Der Tod, gegen den er sich so gesträubt hatte, der Tod, der ihm als schlimmster Feind erschienen war, als der Räuber seiner Schätze, gegen den er ankämpfte mit hartnäckigem Widerstand, der war ihm jetzt fast Freund geworden. Willenlos streckte er die Waffen. Wenn Albert nicht wiederkam, wenn er nicht von der Sorge befreit wurde, in ihm einen Mörder zu sehen, dann, ja dann – !
Hippelt streckte sich im Bette lang und faßte nach dem Herzen, sein matter Blick suchte den Geldschrank, der, wie in der Villa der Gartenstadt, auch hier dicht bei seinem Bette stand. Es war ein langer, langer Blick; und ein abschiednehmender Seufzer.
* * *
Herrn Hippelts Albert kam nicht wieder. Die Untersuchung hatte es nun klar ergeben: er war der Mörder der Frauen. Die Alte hatte er erwürgt, des Geldes wegen, das er bei ihr vermutete, und das Mädchen war ihm zum Opfer gefallen, vielleicht weil sie ihm als Geliebte nun lästig geworden war, vielleicht auch, weil er fürchten mußte, sie würde ihn verraten. Niemand war mehr da, der das, was in geheimnisvoller Mondscheinnacht sich ereignet hatte, offenbaren konnte. Der Hund war nur ein Tier: er hatte die Spur des ihm vertrauten Burschen aufgenommen, aber weiteres verraten konnte er nicht. –
Mit einem Gefühl der Erleichterung hörte Hirsekorn diese Schlüsse ziehen. Ein langes Leben war über ihn hingerauscht, nicht immer hatte er das Recht siegen sehen und das Unrecht unterliegen. Wie oft nicht lacht das Böse und das Gute weint. Aber daß es ihm vergönnt war, es nun auch einmal anders zu sehen, das machte ihm Freude. Es war eine befriedigende Lösung, ein beglückender Abschluß seines Daseins, denn wie lange noch, und er würde in die Nacht eingehen, die ihm, trotz seines freundlichen Abends, willkommen war.
›Des Menschen Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen‹ – ja, es war köstlich gewesen! Der Doktor saß an seinem Schreibtisch, ganz allein mit der geliebten Frau. Es war so ruhig um ihn und sie, kein Wind rauschte, kein Sonnenschein hellte, ein stiller, silbrig-grauer Tag gab ruhevollen Frieden.
Und aus dem Herzen des alten Mannes stieg wiederum eine Stimme auf, ein Ruf. Aber nicht mehr der Notschrei: ›Ich sehne mich immer, immer noch‹ – jetzt war es eine Frage.
Der Armen hatte er eine Scholle gegeben, darauf sie säen und ernten konnte, endlich ein eigenes Stückchen von der großen Welt – aber war diese Scholle ihr denn in Wahrheit ganz eigen? Konnte kein widriges Geschick sie ihr wieder entreißen? Und würde sie immer glücklich darauf sein?
Er hob die Augen zum Bilde. Da neigte sich die Tote leicht zu ihm herab, es streifte seine Wange wie ein milder Hauch, und weiser, als sie je in ihrem Leben gesprochen hatte, sprach seine Marianne zu ihm:
»Eine Handvoll ist's: um die wir ringen, wir mühen uns darum unser Leben lang: eine Handvoll Erde. Aber siehe, einzig die letzte, sie, die uns deckt, macht uns ganz glücklich – nur sie allein! Und sie nur gehört uns ganz!«
* * *