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Jetzt war die Jahreszeit wirklich schön. Vollbusige Amseln hüpften wie Hühner in des Doktors Garten und zerrten aus dem Rasen die Würmer heraus. Zum Dank für die Speise ließen sie ihr Lied ertönen, ein Lied, viel schöner als Nachtigallenruf, denn es verkündet. Voll und weich erklingt es in der laulichen Dämmerung des Frühlingsabends; es weckt Gefühle der Wehmut, trotzdem Jubel im Amselruf ist. Vielleicht gerade darum. Der Jubel der Frühlingsverkünderin läßt den Gealterten doppelt empfinden, wie weit sein Leben vom Frühling schon abgerückt ist.
Doktor Hirsekorn dachte oft an den Tod – auch in diesen Frühlingstagen –, aber er dachte nicht mehr an ihn mit dem bangen Schauder des Herbstes. Es war jetzt nichts mehr von der Traurigkeit da, die mit dem Sterben der Natur über ihn gekommen war. Roch jetzt die Erde nicht lockend? Ein warmer Schoß, in dem sich's gut ruhen läßt.
Wie hatte Marianne zu ihm gesprochen in seinem Traum? ›Ein Glück gibt es, das ist ganz vollkommen – laß Blumen wachsen auf meinem Grabe, bunte, heitere, glückliche Blumen!‹
»Nur auf dieser letzten Scholle, die der Mensch sein eigen nennt, blüht das vollkommene Glück. Habe ich dich recht verstanden, Marianne?!«
Der Doktor unterhielt sich noch immer mit seiner verstorbenen Frau. Das war ein großer Kummer für Julie Zimmer. Sie hatte sich so viel versprochen von dem Alleinsein mit dem Herrn Doktor hier draußen, wo er keinen hatte, nur einzig sie. Und nun war es doch so, als ginge die erste Frau durch die Räume. War es nicht wirklich, als hörte man das Rauschen des schwarzseidenen Kleides, wenn es ganz nächtliche Stille geworden war im Haus?
Julie Zimmer hatte eine Freundin in Berlin, die öfters zu Séancen ging und auch solche bei sich abhielt – ob sie nicht einmal eine mitmachen sollte und versuchen, den Geist der verstorbenen Frau Doktor zu zitieren? ›Unterfangen Sie sich nicht nochmals, uns zu stören!‹ würde sie zu der Erscheinung sprechen. Aber es fehlte ihr doch der Mut zu solcher Unternehmung. Es war ihr jetzt überhaupt immer so graulich, daß sie nicht mehr allein im Zimmer schlafen mochte, die Köchin mußte zu ihr übersiedeln. Einen Spaziergang allein unternommen hätte sie nie, sie begriff die Mädchen nicht, die es wagten, Sonntags nachts erst spät nach Hause zu kommen. Sie beschwor ihren Herrn Doktor, um Gottes willen nicht so weite und einsame Wege zu gehen.
Aber der Doktor sagte ihr ins Gesicht: »Ich bin keine alte Jungfer!« Das war beleidigend; obgleich sich Julie Zimmer noch durchaus als ›jung‹ rechnete, nahm sie das doch für eine Anzüglichkeit. Nein, sie würde nicht lange mehr hier bleiben, der Frühling, der anderen Leuten Hoffnungen anregte, ihr nahm er sie. Wenn man doch wenigstens jemanden hätte, um sich auszusprechen! Der Regierungsrat hatte längst von einem Telephon gesprochen, aber der Doktor wollte davon ja nichts wissen. ›Telephon? Ich brauche keins.‹
Er war wieder einmal recht unliebenswürdig. Doch als er Tränen in den Augen seiner Hausdame aufsteigen sah, sagte er milder und hielt ihr die Hand hin: »Wozu Telephon? Ich bin ja mit Ihnen völlig versorgt!« Da war sie denn wieder ganz hingerissen von ihm: nein, und wenn sie es denn auch nicht zur Frau Doktor brachte, nie, nie ging sie von ihm!
In der schönen Jahreszeit kam der Regierungsrat jetzt öfters zum Besuch. Das wunderte Fräulein Zimmer: Regierungsrats hatten doch sonst immer soviel vor. Sie schien ja auch noch viel vorzuhaben, er kam immer allein, brachte nur zuweilen die Kinder mit. Und wenn die dann in der gedankenlosen Fröhlichkeit der Kinder durch den Garten tobten, dann sah er ihnen still nach. Er schien gedrückt, verstimmt: was mochte ihm fehlen?
»Hilda reist nach Baden-Baden,« sagte der Regierungsrat an einem Sonntag, als er schon zum Mittagessen herausgekommen war. »Übermorgen.«
Das kam ganz unerwartet. Fräulein Zimmer machte große Augen. Wie kam das so plötzlich? Und sie ging allein? Leider fragte der Doktor nicht. Er sandte nur einen raschen Blick aus seinen grauen Augen hin zu dem Sohn, der mit einer Miene, in der eine heimliche Traurigkeit sich barg, am Tische saß.
Erst als die beiden Herren allein waren – sie wünschten sich gesegnete Mahlzeit – hielt der alte Mann die Hand des jungen mit einem festeren Druck als sonst. »Mein Sohn,« sagte Hirsekorn und klopfte auf die Hand, die er noch immer in der seinen hielt, »laß Hilda sich nur amüsieren. Du hast viel zu tun in deinem Amt, sie ist jung und hübsch – sie ist nicht ausgefüllt.«
»Aber sie hat doch die Kinder!« In einem heftigen Unwillen, fast in einer Erbitterung, zog sich die Stirn des jungen Mannes zusammen.
»Die Kinder?!« Der Vater nickte. »Du sagst: die Kinder. Können denn Kinder ganz ausfüllen, wenn eine große Leere da ist? Ich vermisse deine Mutter noch alle Tage – jede Stunde, jede Minute!«
Der Sohn sah den schmerzlichen Ausdruck in des alten Mannes Gesicht. Merkwürdig, heute fühlte er sich dem Vater um so vieles näher! Jetzt, wo er sich gleichsam verlassen vorkam von seiner Frau, die eine vergnügte Saison in Baden-Baden dem Zusammensein mit ihm vorzog, verstand er auf einmal, was es bedeutet, wenn einem eine geliebte Frau für immer gegangen ist. Und zugleich kam es wie Beschämung über ihn, er hatte das Gefühl: du hättest versuchen müssen, dem Vater mehr, viel mehr zu sein. Du bist auch seinem Schmerz nicht immer gerecht geworden. Hätte der Vater sich wohl hierher zurückgezogen, wenn diese äußere Einsamkeit nicht viel geringer wäre als seine innere?
Und war sie denn nicht auch wohltuend, diese Stille hier, dieser Friede? »Ich möchte mich auch draußen wo anbauen,« sagte der Regierungsrat, als sie jetzt durch den Garten schlenderten. Die alten Kiefern hatten heute nichts Einförmiges und nichts Düsteres. Sie waren von einem milden Ernst wie Greise, die niederlächeln auf fröhliche Jugend. Der Rasen unter den Bäumen lachte vom Gold und Lila und Weiß der Krokus. Bienen umsummten sie und krochen hinein in das zarte Haus der Blume. Ein feiner Wohlgeruch stieg auf.
Wilhelm Hirsekorn atmete tief und schleuderte den Rest der Zigarre über den Zaun. »Ich will die gute Luft nicht verderben. Sie ist köstlich. Ich möchte mich wirklich draußen anbauen, Vater – ohne Spaß!«
»Laß es noch bleiben!« Hirsekorn lächelte. »Ich habe ja auch einmal gedacht – früher, viel früher – als wir über Tempelhofer Feld gingen, deine Mutter und ich, und sahen, wie die Stadt das Land auffraß: das Stadttor ist nur ein Durchgang, die danach kommen, werden zur Scholle zurückkehren – wenn unsere Kinder vielleicht auch noch nicht, so doch deren Kinder und Kindeskinder – das glaube ich jetzt längst nicht mehr. Wen die Stadt geboren hat, der taugt nicht für draußen. Man müßte denn alt sein, und so viel verloren haben wie ich – unsereins flüchtet. Oder man müßte ganz wunschlos sein, selber so sein, wie ein Ackerwinkel, der froh ist, wenn er nur sein bißchen Sonne bekommt und sein bißchen Regen. Wer eignet sich sonst dafür? Ich wüßte es wirklich nicht. Du jedenfalls nicht, Wilhelm – noch nicht. Deine Frau wird in einigen Wochen zurückkommen, sie wird sich amüsiert haben, dir dankbar sein, daß du sie hast reisen lassen, sie wird sehr nett und liebenswürdig sein, und du wirst dich wieder ihrer freuen. Glaube mir, mein Sohn« – der Regierungsrat hatte etwas entgegnen wollen, der Vater legte ihm die Hand auf die Schulter – »mit deinem Herausziehen hat's noch gute Wege!« –
Wie nett der Vater war, viel milder und liebenswürdiger! Und früher war er oft so schroff gewesen! Der Sohn, der zur Stadt zurückfuhr, streckte noch einmal den Kopf zum Fenster hinaus und winkte mit der Hand. Da stand der alte Herr, trotz seiner weißen Haare noch jugendlich aufrecht. Er hatte sich hier draußen wirklich schon sehr erholt, und vor allem war er so viel umgänglicher geworden! Wilhelm Hirsekorn nahm sich vor, der Schwester nach Magdeburg zu schreiben: sie mußte nun auch bald einmal herkommen, sie hatte den Vater ja noch gar nicht hier besucht. –
* * *
Noch war es nicht ganz ein Jahr, daß Hirsekorn draußen wohnte. Er fühlte es selber, es hatte ihm gutgetan. Ein Stillesein war über ihn gekommen. Das Aufgehen in der Natur, das Anteilnehmen an jedem Blatt, an jeder Blüte, das hatte etwas so Sänftigendes. Seine Nächte waren ruhevoll, er schlief traumlos, erquickend. –
Auch Herr Reschke schlief ausgezeichnet. »Weißte,« sagte er zu seiner Mine, »wenn ich mich draußen so abgerackert habe, denn schlaf ich wie 'n Bär.« Das »Abrackern« bestand darin, daß er gleich nach dem Mittagessen hinausfuhr, ein gründliches Schläfchen hielt in der Laube und die übrige Zeit wie eine Eidechse sich unter dem Busch an der Sandwehe blinzelnd sonnte.
Das Krankenlager vom Winter ging Reschke noch nach; wenn das Wetter sich änderte, hatte er ein Pieken im Fußknöchel – und es gab ja Krankengeld, warum sollte er sich das nicht zunutze machen? Es war überdies so schön draußen, die in der Stadt hatten ja gar keine Ahnung, was das für einen, der sich sein ganzes Leben abgemüht hat, hier draußen bedeutet. Und in keinem Berliner Restaurant schmeckte die Weiße so gut. Arthur hatte in einer Ecke der Laube tief in den Boden ein Loch gegraben und mit einem Brett zugedeckt; wenn er es vorzog, falls er Durst bekam, nicht sein Stammlokal an der Bahnhaltestelle aufzusuchen, so hatte er da seine schönen kühlen Weißen. Abends aber kehrte er regelmäßig dort ein; er war gern gesehen bei der dicken Wirtin, er führte ihr auch Kunden zu.
Den Butterhändler aus der Koppenstraße brachte er oft mit; der trank und störte niemand. Ein stiller Mann. Sie wurden alle nicht recht klug aus ihm. Hatte er noch ein Geschäft oder hatte er keins? Hatte er Kinder oder hatte er keine? War er reich oder arm? Sie wußten nichts von ihm; nur daß er verheiratet war, hatte er dem Nachbar Reschke einmal offenbart. Aber lebte er denn nicht mehr mit seiner Frau zusammen, die besuchte ihn doch nie, selbst Sonntags nicht? »Sie hat keine Zeit,« murmelte er. Er kam immer allein heraus und blieb auch allein alle Tage.
Er und Reschke waren die fleißigsten Laubenbesucher; sie sprachen sich aber nicht immer, es konnten oft zwei, drei Tage vergehen, bis der Butterhändler sich zeigte; daß er da war, sah Arthur nur an dem dünnen Rauchsäulchen, das aus dem Laubenschornstein aufstieg. Die Tür blieb verschlossen. Er hatte wohl schon einmal mit der Faust gegengedonnert: »Na, Sie olle Blindschleiche Sie, kommen Sie doch man raus!« Ein unwilliges Grunzen war die einzige Antwort geblieben.
Ein komischer Mann, der Butterhändler! Die Fräulein Riedels wollten sich tot über ihn lachen. Wie er aussah mit den viel zu langen Hosen, die rund herum aufstauchten und doch noch unzählige Schrumpeln machten. »Det man seine Plattbeene nich sehen soll, dadrum trägt er se so,« belehrte Mutter Riedel. Man sah sie aber doch. Und alles an dem Mann hing schlapp, traurig, flügellahm.
»Der is wie 'ne Fliege in seine eigne Buttermilch jefallen!« Die beiden ältesten Riedels machten den stillen Mann zur Zielscheibe ihrer Witze. Ihr lautes Gelächter alarmierte die ganze Umgebung.
Es war überhaupt jetzt längst nicht mehr so still auf dem Feld wie im vorigen Sommer; nicht mehr, seit die Riedels angerückt waren wie bei einem Umzug. Voran Mutter Riedel, einen Ballen verschnürter Betten auf dem Rücken; Fräulein Ella, unterm linken Arm eine kleine Spiegeltoilette, rechts baumelte ihr die Hängelampe; Fräulein Elsa, links ihr kläffendes Hündchen Almyra, rechts einen großen japanischen Sonnenschirm aus buntem Papier. Herr Riedel durfte Waschbecken und Petroleumkocher nachtragen, und die Jüngste hatte den Zug beschlossen. Sie hatte den Wasserkessel wie einen Helm auf ihr blondes Köpfchen gestülpt, darunter sah ihr zartes Gesicht unlustig und müde in die Welt. Aber das war noch längst nicht alles, den halben Hausrat schleppten sie nach und nach heraus.
Wollten sie denn ganz und gar hier wohnen und nächtigen auch? Mine machte große Augen; sie hatte die Nachbarn freundlich willkommen geheißen, nun kam es über sie wie ein Schreck.
Gleich vom ersten Nachmittag an tönte es aus der Laube:
»Puppchen, du bist mein Augenstern –«
Fräulein Elsa hatte eine durchdringende Stimme und sprach deutlich aus, man verstand jedes Wort. Almyra kläffte; wenn's hoch hinaufging, heulte sie mit. Und Fräulein Ella hielt sich auch nicht zurück, sie sekundierte in einem Baß, der einem Jüngling alle Ehre gemacht hätte.
»Meine Töchter sind ebend Künstlerinnen,« sagte stolz die Riedel zur Reschke.
Also das war Kunst?! Die gefiel Mine aber gar nicht. Auch wie sich die Fräulein Riedel anzogen, gefiel ihr nicht. In Berlin gingen sie immer eingezwängt wie in einen Handschuh – ›Schneiderkleider‹ nannte es Frau Riedel, und Frida sagte ›Gelbstern‹ – hier zogen sie sich gar kein Korsett an. Mine schämte sich wegen Max. Alles lotterte und bammelte: schmutzige weiße Mullblusen, die keinen Halt gaben; Seidenunterröcke, deren zerschlissene Stellen tiefgehende Einblicke gewährten.
Arthur hatte sich erst amüsiert, nun wurde es ihm aber auch lästig. Den ganzen Tag das Geschnatter, das Gedudel, nicht mal mehr seinen Mittagsschlaf konnte man ungestört in der Bude halten; und lag man draußen im Sand eingebuddelt, so konnte man sicher sein, es tippte einen plötzlich eine Gerte auf den Kopf, oder es trompetete einem ins Ohr, daß man sich erschreckte:
›O du mein Pusselchen,
Mein kleines Dusselchen!‹ –
»Verstehste, wie 'n Mensch immerzu singen kann?« fragte Mine.
»Geschäft,« sagte Arthur und rieb sich das Kinn. Dann aber fuhr er auf: jetzt hatten die da drüben auch noch ein Grammophon! Das quäkte und tutete immer dasselbe, Himmel noch mal, das war wirklich nicht zum aushalten!
»Halt dir de Ohren zu,« riet die geduldige Mine.
Nein, das hatte er nicht nötig, er verbat sich das! Arthur wollte aufspringen.
Mine hielt ihn fest: »Du wirst doch nicht!« Sie hatte ein bißchen Angst vor der Riedeln. Nur kein Streit, sie waren doch Nachbarn!
Herr Reschke schimpfte: »So 'ne Bande, verfluchte! Den ganzen heiligen Sonntag verschimpfieren sie einem! Sollen gehn, wohin se gehören, aber nich hier –«
»Se sind doch Künstlerinnen,« entschuldigte Mine.
»– sich unanständig aufführen!« fuhr Arthur fort. »Wo is Maxe? Er soll man gleich rübergehn: 'ne Empfehlung von Vatern, und –«
»Ach nee, nee!« Mine bat inständig. »Nich Maxen hinschicken!«
Max war auch gar nicht da. Er war in die Heide hineingeschlendert. Er hoffte die Anna zu finden, sonst wäre er gar nicht mit herausgekommen. Es war ja ganz hübsch in der Laube, aber lieber wäre er doch irgendwohin gegangen, wo er Kameraden traf, und wo er vielleicht auch ein Tänzchen machen konnte. Nicht, daß er ein ausgezeichneter Tänzer gewesen wäre, dazu war er ein bißchen zu linkisch, aber ein unermüdlicher war er, mit einer unbekümmerten Fröhlichkeit drehte er sich wie ein Kreisel.
Nun suchte er, die Hände in den Hosentaschen, leise vor sich hinpfeifend, das schwarze Mädchen. Die Laubenkolonie lag schon weit hinter ihm. Jetzt war es so still auf der Heide, daß selbst das zarte Gezirp der Grillen laut erschien. Nun, die Musik war doch besser anzuhören als das Gequieke der Weiber! Max fand keinen Geschmack an den Riedels – so frech war die Anna noch lange nicht. Hatte ihn doch neulich die Ella gekniffen, als er vornübergebückt am Pfuhl stand und einen Eimer Wasser schöpfte, und die Elsa war unverschämt genug, ihn an seinem Schnurrbart zu zupfen und zu trällern: ›Donnerwetter tadellos!‹
Wo die Anna nur stecken mochte? So weit er sehen konnte, nichts von ihr zu erspähen. Er querte die Heide. Irgendwo mußte sie doch sein, sie würde bei dem schönen Wetter nicht zu Hause sitzen. Eine Ungeduld erfaßte ihn, er lief hin und her, er spähte hinter jeden Busch. Das Brombeergestrüpp, das mannshoch den kleinen Eingang der Unterführung im Bahndamm deckte, durchstöberte er, aber nur eine langsame Kröte kam vorgekrochen. Er hätte sie am liebsten mit dem Absatz zermalmt, so zornig war er vor Ungeduld, aber er dachte daran, daß seine Mutter gesagt hatte, die Kröte wäre ein sehr nützliches Tier. Sie hatte ihm ja auch nichts getan. Vorsichtig trat er zur Seite. Und dann lief er wieder weiter, suchte alle Plätze ab, an denen er schon mit der Anna gesessen hatte. Er wurde ganz heiß und rot, die Sommersonne meinte es gut, sie prallte ihm auf den Rücken; aber heißer machte ihn eine inwendige Hitze.
War er denn in die Anna verliebt? Dessen war er sich nicht bewußt. Sie fehlte ihm eben hier. Was war denn hier los ohne das Mädchen? Ihn peinigte die Sehnsucht.
Und wie der Sehnsucht voll lag die Heide, so dürr und ausgebrannt. Gelbe Immortellen streckten ihre saftlosen Stengel wie bittende Finger aus dem grauverstaubten, wuscheligen Strandgras; nicht einmal die Erika blühte hier makellos, sie zeigte nur verkümmerte, mattrötlich gefärbte Blütchen. Aber die Bienen waren genügsam, sie summten und schwärmten, sie fanden auch hier das Süße heraus.
Dem planlos Herumtappenden kam plötzlich ein glücklicher Gedanke: er würde sich gegen die Hütte der alten Hexe zu konzentrieren. Wenn die Anna zu Hause war, würde er sich ihr schon bemerklich machen durch den gewohnten Pfiff. Nun fing er an zu laufen, seine jungen Beine waren auf einmal ganz flink.
Weit oben überschritt er die Chaussee, er wollte nicht gesehen werden von den Lauben aus. Nun sah er erst, wie elend ihr Haus lag; von hier aus noch viel schlimmer. Es hing ganz nach der einen Seite, als wollte es in den Erdboden sinken. Er umschlich es; hinterm Haus patschte er in einen jauchigen Schlamm. »Pfui Teufel!« Das arme Mädel, das hier wohnen mußte!
Wieder empfand er das Mitleid, das er schon so oft mit ihr empfunden hatte. Wenn sie jetzt herauskäme, würde er sie in den Arm nehmen: ›Armes Anneken du!‹ Er hatte ihr noch nie ein Geschenk gemacht, aber nun würde er sparen, ihr etwas mitbringen: eine Bluse, eine Schürze, eine Kette, einen Ring, irgend etwas, was Mädchen erfreut.
Er wagte einen leisen Pfiff. Niemand zeigte sich darauf. Er pfiff noch einmal – sie kannte doch seinen Pfiff so gut – sie mußte nicht da sein. Aber fortzugehen entschloß er sich doch noch nicht. Immerwährend umschlich er das Haus. Er wagte es, vorne ins Fenster zu sehen: da war die Küche, aber niemand darin. Und nun unterstand er sich gar, auf die Klinke zu drücken, aber die Tür war verschlossen.
Wie er noch so stand und zögerte, kam eine Frau die Chaussee entlang. Sie guckte herüber, er duckte sich rasch: die brauchte ihn hier nicht zu sehen. – – –
Die, die Max Reschke suchte, war weit drinnen im Walde, abseits vom Weg, der nach der Gartenstadt führt. Hier war sie im Schatten, das weiche Moos tat ihren Füßen wohl nach dem heißen Sand. Im Pechpfuhl hatte sie sich kühlen wollen, ein paarmal untertauchen, aber die wilden Frauenzimmer, die jetzt dort hausten, hatten sie davongetrieben mit ›juch‹ und ›hetz, hetz‹! Steine hatten sie nicht zum Werfen, aber was herumlag an alten Scherben, das schleuderten sie hinter ihr drein. Sie war geflüchtet.
Nun lag sie hier, lang ausgestreckt, die Hände im Nacken. Wie rächte sie sich an denen am besten?! Sollte sie ihnen die Bude anstecken? Oder nachts, wenn die schliefen, auf das Dach hinaufklettern, ein Loch bohren, ihnen einen Eimer voll Wasser aufs Bett gießen? Das wäre ein Spaß! Sie stellte sich's vor und lachte schadenfroh.
Eine Waldtaube girrte, sie gurrte mit. Hier war's gut sein! Die grüne Dämmerung umwob ihre bösen Gedanken und besänftigte sie. Die schwarzen Augen noch offen und doch wie im Schlaf, träumte Anna.
Einen Hübschen, einen Feinen hatte ihr Großmutter aus den Karten versprochen, als sie einmal guter Laune war. Und im Kaffeesatz hatte sie den gleichen gesehen. Wenn der doch käme! »Ich hab's nu bald satt bei der Ollen!« murmelte Anna. Der Max konnte doch nicht damit gemeint sein, der war nicht hübsch und nicht fein. Sie schnellte den jungen Leib begehrlich in die Höhe, zog die Arme unter dem Kopf vor und streckte sie aus: er sollte nur kommen, der Hübsche, der Feine! Da hörte sie das leise Schnurren eines Rades.
Mitten aus dem goldig-grünen Licht heraus, das den Waldweg dunkel machte und doch hell, kam ein Radfahrer. Er huschte heran. Als er das einsame Mädchen im Moos sah, sprang er ab. Er blieb vor ihr stehen, die Lenkstange noch in der Hand; man sah seinem Gesicht die angenehme Überraschung an. So etwas hatte er hier gar nicht vermutet auf seinem Weg zum Sonntagsvergnügen im ›Schützenhaus‹.
War das der Hübsche, der Feine, der plötzlich, wie aus dem Gefunkel der Sonnenstäubchen herausgezaubert, vor ihr stand?! Sie sahen sich in die Augen. Und der Hübsche ließ sein Rad los, daß es umfiel, und setzte sich neben sie. Er nahm sie gleich in den Arm und küßte sie; und sie ließ sich's gefallen. Sie hätte gar nicht anders gekonnt.
Sie fragte nicht: ›Wie heißt du?‹ Was ging sie das an! Er gefiel ihr, das war genug. Wie hübsch er war! Sie spielte mit seinem seidenen Schlips, sie bewunderte seine Kleidung. Und sie ward plötzlich nachgiebig, fast schüchtern, wie noch nie in ihrem Leben. Bereitwillig sagte sie ihm zu, daß sie sich wieder hier treffen wollten. Sie würde ihm den kleinen Durchgang zeigen unterm Bahndamm, denn hier könnte einer vorbeikommen. Aber da, wo es dicht verwachsen war mit lauter Brombeeren, da guckte keiner herein.
Willenlos hing sie ihm am Halse: nein, er sollte nicht fortgehen, bei ihr bleiben, sie war ja so allein! Er war der Hübsche, der Feine, der für sie in den Karten stand, und was Großmutter da gesehen hatte, das war wahr. Er gehörte ihr! Tändelnd wand sie ihre schwarzen Haare um seine Hände, die sollten festhalten wie ein Seil.
»Was sagste denn da?«
Sie lachte verlegen und sagte es nicht. – – –
Spät am Abend kam heute Albert heim. Fräulein Zimmer hörte das Schließen der Gartentür, so behutsam dies auch geschah. Und dann die leisen Tritte auf dem gepflasterten Weg zum Nachbarhause hin. Sie weckte die Köchin: »Sehen Sie doch mal heraus, ob er's wieder ist!«
Die Einäugige fuhr ans Fenster, mit Gepolter riß sie dabei einen Stuhl um – sie kam zu spät, drüben wurde die Haustür grade geschlossen. Aber natürlich war er's! Wo er nur wieder gewesen sein mochte? Heute war er nicht mit der Grete gegangen, die hatte ein dickgeschwollenes Gesicht, hatte vor Schmerz heulend den ganzen Nachmittag und Abend Kamillenumschläge gemacht. Wen er heute wohl beglückt haben mochte? Das war einer, der poussierte überall herum.
»Und haben Sie schon gesehn, Fräulein,« sagte die Köchin, »was der jetzt immer fein geht? Sonntags piknobel. Wo der bloß 's Geld dazu her hat?«
Das wunderte Fräulein Zimmer auch: sollte Hippelt dem Diener soviel zugelegt haben? Jetzt trat der Albert auf wie ein Herr; er hatte sich wirklich sehr herausgemacht.
Sie sprachen noch lange über den Burschen von nebenan, bis die Stille der Sommernacht auch ihre Neugier wieder einlullte. – – –
Auf leisen Sohlen kam die Morgendämmerung übers Feld. In Reschkes Laube wurde früh Tag gemacht, das heißt: nur Mine stand so zeitig auf, Herr Reschke schlief noch fest.
Zum erstenmal waren die Eheleute heute über Nacht draußen geblieben. Aber Mine, die sich aus der sargähnlichen, von ein paar Brettern und einer großen Kiste zusammengeschlagenen Bettstatt erhob, zeigte ein Gesicht mit vielen Schrumpeln und Falten. Arthur hatte sich breitgemacht, ihr war nur ein schmales Plätzchen geblieben, die Glieder taten ihr weh von der harten Kante, aber das war es nicht, was ihren Schlaf gestört hatte. Etwas anderes war es gewesen.
Arthur hatte sich gestern so wütend geärgert über das Grammophon in Riedels Laube, daß er, als Max sich nicht sehen ließ, selber hinübergegangen war, um sich das zu verbitten. Hier war kein Rummelplatz, hier war ein friedsamer Erholungsort für anständige Leute! Und wer das nicht respektierte, den zeigte er an beim Amtsvorsteher in Hohenfelde: nächtliche Ruhestörung, die war nicht erlaubt. Er war hinübergegangen, trotzdem Mine ihn zurückhielt. Und er kam nicht wieder.
Mine wartete lange voller Ungeduld – waren sie sich drüben nicht einig geworden? Aber schallendes Gelächter erklang von dort, und das Grammophon fing immer von neuem an. Gut, daß Fridchen heut hatte zu Hause bleiben wollen, für die wäre das nichts!
Die einsame Frau stützte den Kopf in die Hand; sie hatte sich so gefreut auf den Abend hier draußen. Den ganzen Tag hatte sie gejätet, gegraben, Steine und Scherben aus ihrem Garten gelesen; es mußte da früher einmal Schutt abgeladen worden sein, denn grub man kaum einen Fuß tief, so kam der zutage. Und das Unkraut wucherte, es drohte die Gemüsepflanzen zu ersticken. Nur eine Woche war sie nicht draußen gewesen, und schon hatten sich an die jungen Erbsen die Schnecken gemacht, und die Bohnen, die noch nicht einmal blühten, zeigten sich auch schon zerfressen. Nur die Erdbeeren, die kamen prächtig im leichten Sandboden: wenn man ihre großen frischgrünen Blätter aufhob, hingen darunter schon dicke Beeren; nur wenige Tage noch, und die waren ganz rot. Das war eine Freude!
Stundenlang, selbst in der größten Mittagshitze, war Mine an ihren Beeten auf und nieder gegangen mit gebücktem Rücken, und hatte die weichen grauen Schneckenleiber abgelesen, die wie Blutegel am jungen Gemüse saugten. Wenn nur der Kohl von Raupen verschont blieb!
Zum Mittag hatte sie die Schrippen und die Wurst ausgepackt und Kaffee gekocht, und dann, während die Männer schliefen, war sie wieder an die Arbeit gegangen; sie mußte den Sonntag ausnutzen. Erst als die Sonne im Westen die Wolken rötete, hatte sie mit der Arbeit aufgehört. Aber nun kam sie doch nicht zur Ruhe.
Sie seufzte: wie schwer hier alles voranzubringen war! Zu Hause, in ihrer Jugend war alles viel rascher gewachsen und so viel üppiger geworden. Lag es vielleicht an ihr, verstand sie es nicht mehr so gut wie früher? Ja, es mußte wohl ihre Schuld sein, vielleicht auch, daß sie so wenig Zeit hatte, sich darum zu kümmern. Ach, wenn Arthur sich bloß ein bißchen mehr mühen wollte, der kam doch oft genug hierher!
Sie wischte sich den noch immer perlenden Schweiß ab und sah mit müden Augen auf ihren Acker. ›Dornen und Disteln soll er dir tragen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Lebelang‹, – das fiel ihr ein. Als sie das gelernt hatte in der Schule, hatte sie sich nichts weiter dabei gedacht; jetzt wußte sie, was es bedeutete. Schwerfällig aufstehend, reckte sie ihren krumm gewordenen Rücken: nun würde sie aber hinübergehen, Arthur holen.
Mit lautem Hallo war sie empfangen worden, als sie in die Riedelsche Laube trat. Da saßen sie eng beieinander, Ellenbogen an Ellenbogen; so viele Menschen in der kleinen Laube, man merkte nichts mehr von der frischen Luft. Zwei junge Männer waren auch noch da; der eine küßte Fräulein Elsa – er wurde vorgestellt als der Bräutigam – der andere war Fräulein Ellas geschiedener Mann. Fräulein Ella war aber gar nicht mehr böse mit ihm; er hatte den Arm um ihre Taille gelegt.
»Komm, Arthur, komm rüber,« sagte Mine.
Aber Arthur war viel zu vergnügt, und es widerstrebte auch seinem Stolz, sich wie ein Kind abholen zu lassen. Er schüttelte den Kopf: »Bleib du man auch hier!«
Ja, das sollte Frau Reschke nur, man rückte eben noch ein bißchen mehr zusammen.
Aber Mine wollte nicht. Sie streckte ihre Hand aus, um ihren Mann beim Ärmel zu fassen, da schlug die Riedel sie auf die Finger: »Hände weg! Det is doch keene Art, det Verjnüjen zu stören – entweder, Reschken, bleiben Se hier, oder machen Se, det Se rauskommen!« Die Riedel war beleidigt: was machte diese dämliche Frauensperson denn für ein steinernes Gesicht?! Die schien das wohl unrecht zu finden, daß sie hier vergnügt waren? Mines Blicke auf die beiden jungen Männer hatte sie richtig gedeutet. »Meine Döchter sind anständ'je Mächens, un wer det nich find't, den schlag ick in de Fresse, det er nich weeß, ob er 'n Junge oder 'n Mächen is!«
»Rosa, Rosa!« Herr Riedel zupfte sie schnell, aber sie sagte verächtlich: »Ach du!« Und dann wurde sie anzüglich: aber es gab eben Leute, die waren neidisch, weil ihre Tochter nicht so schön und nicht so talentvoll war, man bloß nähen konnte, und noch immer keinen hatte, und –
Das ging auf Fridchen! Mine fuhr auf: Fridchen, ihr Fridchen herabsetzen?! Der ganze Stolz der Mutter erwachte in ihr und die ganze bäurische Grobheit. »Halten Se's Maul!« Sie trat ganz dicht an die Riedel heran: »Sie – Sie wissen ja gar nich, was 'n anständiges Mädchen tut sein!« Das Rot des Unwillens brannte auf ihrem Gesicht, empört schleuderte sie der anderen ins Gesicht: »Sie alte S …!«
Die Riedel hob laut aufkreischend die Arme, mit beiden Händen packte sie nach Mines Haar, aber die gab ihr einen kraftvollen Stoß: von der würde sie sich noch kein Härchen anrühren lassen! Die Riedel fiel zurück auf den Schemel und dann mit ihm gleich hintenüber.
Nun war es gut, daß die Laube so eng war, ihre Rückwand hielt den Fall auf. Zwischen Schemel und Budenwand eingeklemmt hing die Riedel. Sie schimpfte und jammerte, aber sie fand gar kein Mitleid. Ihre beiden Ältesten wanden sich vor Lachen, die Galane lachten nicht minder, Arthur lachte, selbst Herr Riedel erlaubte sich heute zu lachen. Nur die kleine Irene suchte angstvoll der Mutter aufzuhelfen.
Im allgemeinen Juchhe hatte Mine die Laube verlassen. Sie war unbehelligt fortgekommen, sich sehr gerade haltend, den Kopf ganz aufrecht.
Aber heute, jetzt am Morgen empfand sie nichts mehr von der gestrigen Siegesfreude: wie war das doch alles so häßlich gewesen! Es wurmte sie immer noch, was die Riedel über Frida gesagt hatte. Und wenn sie sich recht bedachte, schämte sie sich auch: wie hatte sie nur so grob werden können!
Arthur war erst spät in der Nacht von drüben wiedergekommen, und nüchtern war er da auch nicht mehr; er war sofort eingeschlafen.
Mine fühlte sich so schwer in allen Gliedern, als ob sie drüben mitgetrunken hätte. Und sie war doch heute bestellt zu einer großen Wäsche, mit dem Fünfuhrzug mußte sie schon hinein nach Berlin. Noch war es grauender Morgen. Rasch kleidete sie sich an; sie war noch nicht fertig mit dem Haaremachen, da hörte sie draußen etwas kraspeln. Die Morgendämmerung war unendlich still, noch nicht einmal ein Vogel piepste. Ganz deutlich hörte man verstohlene Tritte. Wer war da?!
Mine riß die Tür auf. Da huschte eben ein Unterrock, ein nacktes Bein mit einem Pantoffel daran, um die Zaunecke und verschwand hinter dem einsamen Busch an der Sandwehe.
Von einer unklaren Furcht gepackt, stürzte Mine in ihren Garten. Mit lautem Jammerruf sank sie dort auf die Knie: Erbsen, Bohnen, alles noch wie gestern, aber ihre Erdbeeren – oh, ihre Erdbeeren! Die hatten noch gestern gestanden so frischgrün mit den roten Beeren – heute alles hin. Eine schwärzliche Flüssigkeit war über sie ausgeschüttet, die schönen Blätter waren alle begossen, die Früchte nicht mehr zu kennen; und alles, das ganze Beet, verwüstet, vertrampelt.
Ein ungeheurer Schmerz erhob sich in Mine, er war so groß, daß ihre ganze Seele davon erfüllt war: oh, ihre Erdbeeren, ihre schönen Erdbeeren! Sie konnte nichts weiter denken, sie war wie betäubt.
Der jammernde Schrei hatte Herrn Reschke geweckt. Er erschien in der Laubentür mit ganz verschwollenen, blinzelnden Augen: was war denn los?!
»Na, deine Erdbeeren – wenn's weiter nischt is!« Aber als sie das vergrämte Gesicht zu ihm erhob: »Meine Erdbeeren, meine Erdbeeren, meine einzige Freude!« da schnitt ihm der Ton ins Herz. Die Wut packte ihn. Was, ihr die Erdbeeren ruiniert, ihre einzige Freude? Das war mehr als gemein! Er ballte die Faust und drohte nach der Riedelschen Laube hin: das konnte nur die, die gewesen sein. »Schweinebande, verfluchte! Aber warte man!«
Nein, das konnte nicht sein; so schlecht war die Riedeln denn doch nicht! Die Erdbeeren, ach, die Erdbeeren! Die wuchsen doch so unschuldig aus der Erde heraus, kein Mensch konnte so böse sein, daß er's die ließ entgelten!
»Na, du siehst es doch!« Arthur hatte eins von den schwarzen Blättern zur Nase geführt: »Das is noch von der Tunke, womit sie ihre Bude verpicht haben. Und noch was anderes is damang – pfui Deibel, wie stinkt das!« Er schüttelte sich. »Ich zeige sie an!« – – –
So traurig war Mine noch niemals von ihrer Laube fortgegangen; sie weinte nicht, ihre Augen waren ganz wie erloschen. Sie hatte erst geglaubt, sie wäre gar nicht fähig, sich aufzuraffen, aber – die Wäsche, die Wäsche – sie mußte doch. Und wenn sie zusammenbräche am Waschfaß, sie mußte jetzt gehen.
Gebeugten Hauptes schritt sie langsam über das einsame Feld. Der Tau näßte ihre Schuhe und sank in Tropfen auf ihre glühende Stirn. Der Himmel weinte, das tat ihr gut. Da war doch einer, der ganz mit ihr fühlte, der mit ihr trauerte. Es wäre unrecht, sich so zu haben, hatte Arthur gesagt. »Nu hör aber mal auf! Kaputte Erdbeeren sind doch keine Leichen.« Ach, er verstand das nicht! Seine Wut gegen die Riedels war auch kein Trost für sie. Wer, wer konnte sie trösten?!
Ganz versunken in ihren Kummer, den Blick starr zu Boden geheftet, trottete Mine. Da hörte sie plötzlich ein leises Stimmchen. Vor ihren Füßen, dicht an der Erde, eingebuddelt in diese fast, saß eine Lerche. Ein kleiner Klumpen, grau wie der Acker, unkenntlich fast. Hatte sie geschlafen, gerastet, war sie noch müde? Siehe, sie öffnete jetzt den kleinen Schnabel, sie schüttelte von ihren Flügeln den Staub der Erde, eine Sekunde noch, und schon wirbelte sie hinauf, so leicht, so geschwind, immer höher und höher. Sie warf ihr jauchzendes Lied in die Luft. Das klang von der Höhe herab zu der Tiefe, es schmetterte in alle Weite, es rief den Tag wach.
Die Sonne stand auf. Schon lange hatte der Himmel geleuchtet, ganz rosenfarben, Mine hatte es nicht gewahrt mit ihrem gesenkten Blick. Nun aber hob sie das Auge. Sie hatte lange nicht mehr die Sonne aufgehn sehen; seit Tagen der Jugend nicht mehr. Es war ihr altbekannt und doch heute so neu, dieses Wunder für die Welt – das größte Wunder.
Aus dem rosigen Himmel kam es geschossen gleich goldenen Pfeilen, die zuckten und blitzten. Dann wurden sie breit und breiter. Nun waren es Schwerter. Und die Schwerter schnitten hinein in das Grau, das sich da noch ballte. Und es zerstob zu goldigem Dunst. Man konnte plötzlich nicht hinsehen mehr, da war lauteres Gold; und noch viele Farben, alle Farben des Regenbogens – ein unendlicher Glanz. Eine Fülle des Lichts – nicht von dieser Welt.
Mines Augen weinten geblendet. Das war mehr, als sie heute ertragen konnte, das stürzte über sie her mit einer Gewalt, die sie klein machte, ganz klein, und die sie doch erhob. Mines gebückter Rücken richtete sich auf; es fiel etwas von ihr ab, was sie beschwert hatte, was sie nicht hatte abschütteln können, was auf ihr gehockt hatte wie ein widriges Ungetüm, das sie nicht los wurde – jetzt war der ganze Haß weg. Und wenn es die Riedel auch wirklich getan hatte – Arthur schwor drauf – sie wollte ihr darum nicht so gram mehr sein, und ihr auch nichts Schreckliches darum wünschen. Menschen sind keine Engel – war sie selber denn nicht auch garstig gewesen? Ach, und so grob! Sie würden sich eben jetzt nicht mehr umeinander kümmern. Aber die Riedel vor Gericht verklagen, nein, das tat sie nicht! Das durfte auch Arthur nicht tun.
Es kam eine Heiterkeit mit diesem Entschluß über Mine, es glätteten sich viele Falten in ihrem Gesicht. Durch den wunderbaren Morgen schritt ihre Seele erfrischt. Und ihr Körper war auch erfrischt. Rüstig ging sie zur Arbeit, sie war nicht ermüdet mehr. Jetzt begriff sie auch ihren verzweifelten Kummer nicht mehr: Erdbeeren können doch wieder wachsen. Und sie würden wieder grünen und Früchte tragen – im nächsten Jahr.