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Sechzehntes Kapitel

Der Mord an den beiden Frauen unweit der Briesewerder Chaussee hatte nicht nur die nähere Umgegend in Aufregung versetzt, auch in Berlin wurde viel darüber gesprochen. Manch einem, der daran gedacht hatte, sich in diesem Frühjahr irgendwo draußen anzubauen, sei es auch nur, eine Laube aufzurichten, verging die Lust dazu. Wie konnte man es denn wagen, Frauen und Kinder allein draußen zu lassen?!

Die Bröse, die sich verkrochen hatte in ihrer dunklen Höhle wie ein Nachtgetier, wurde herausgezerrt ans helle Licht des Tages. Da blieb nichts mehr verborgen; nicht ihre geheime Tätigkeit, durch die sie ein kümmerliches Dasein gefristet hatte, nicht ihr Kartenlegen, und nicht ihr aus dem Zauberbuch-lesen.

Es war unglaublich, daß so etwas noch vorkommen konnte in der heutigen aufgeklärten Zeit! Sozusagen vor den Toren Berlins. Daß sich doch immer noch Leute fanden, die dem Hokuspokus einer alten Hexe Glauben schenkten! In allen Zeitungen stand darüber zu lesen. Eine Wallfahrt von Neugierigen zog am nächsten Sonntag zu der Bröse Haus an dem öden Feld. Man ging um die verlassene Hütte herum, die wie ein schmutziges Geheimnis, halb eingesunken, in einem Morast lag, und schüttelte sich vor Grausen.

Die Bröse war begraben und mit ihr das Mädchen, das bei ihr gelebt und für ihre Enkelin gegolten hatte, und doch ruhte die Neugier noch nicht. Aus welchem Grund war die armselige Alte ermordet worden? Hatte man Schätze bei ihr vermutet? Oder war Habgier nicht der Grund gewesen, vielleicht Rachgier? Vielleicht war einer der Täter, dem ihre Quacksalberei einen üblen Streich gespielt hatte? Oder hatte das Mädchen, das sie nach allen Aussagen schlecht behandelt hatte, einen angestiftet und war dann doch auch selber zum Opfer gefallen? Man wußte es ja, die schwarze Anna war nicht spröde gewesen. Und unsicher war es da draußen auch lange schon.

Die Polizei entwickelte eine lebhafte Tätigkeit. Bis jetzt hatte man freilich noch nicht die richtige Spur gefunden, gar keine Spur. Die roten Zettel klebten an allen Litfaßsäulen, an allen Bahnhofsecken: ›Tausend Mark Belohnung‹.

Da meldeten sich zwei Burschen aus Hohenfelde und eine Frau aus Briesewerder. Die zwei waren eines Abends der schwarzen Anna begegnet, wie sie mit einem jungen Menschen herumstrich. Der hatte sich nicht sehen lassen wollen, sie hatten ihn aber doch erkannt: es war der junge Reschke gewesen, dessen Vater eine Laube draußen hatte. Und die Frau hatte einige Zeit darauf, als sie an einem Nachmittag – es war ganz einsam – oben auf der Chaussee ging, unten am Haus der Bröse einen herumspionieren sehen und heimlich in das Fenster gucken und an der Tür sich zu schaffen machen. Er hatte sich zwar schnell geduckt, aber sie würde ihn doch wiedererkennen.

Auch bei Reschkes wurde viel über die Sache gesprochen. Sie hatten ja die Bröse gekannt, waren sozusagen Nachbarn von ihr gewesen.

»Daß du mir nu nich mehr alleine rausgehst auf das verfluchte Feld,« grämelte Arthur. »Überhaupt nich mehr. Ich will gar nischt mehr davon wissen; nischt als Unglück haben wir davon gehabt!« Und seufzend stützte er den Kopf in die Hand. Seine Tochter immer so vor Augen zu haben, das machte ihn ganz schwermütig. Wenn das Feld nicht gewesen wäre, und die Laube nicht, und die ganze verfluchte Geschichte nicht, dann –!

»Unsre Laube kann aber doch nischte dafor,« sagte Mine. Sie verteidigte das, was ihrem Herzen so teuer war. »Was kann das unschuldige Stückel Land for unser Unglück!«

»Ich erneuere die Pacht nich mehr. Du kannst sagen, was du willst. Brauchst gar nich mehr anzufangen mit Säen und Pflanzen, ernten tust du es doch nich mehr!«

Wenn Arthur aus der Zeitung vorlas von dem Morde, dann ging Max weg. Das konnte er nicht anhören. Er fühlte, wie es ihm über den Rücken rieselte, und wie es ihm heiß in die Augen schoß: das arme Mädel! Nachts schlief Max nicht; immer sah er die Anna vor sich mit den schwarzen Haaren und den blinkenden Zähnen, sah sie, wie er sie damals gesehen hatte mit seinen roten Korallen um den Hals, sah sie, wie er sie belauscht hatte im Pechpfuhl, umsprüht von blinkenden Tropfen. Er konnte gar nicht mehr böse auf sie sein. Und wenn er schlief, dann träumte er so entsetzlich, immer von ihr, sah sie ermordet daliegen und schrie so überlaut auf, daß die ganze Nachbarschaft wach wurde.

Heute las Reschke wieder vor: noch immer hatten sie den Mörder nicht, aber ein Verdacht war aufgetaucht, der wohl zur Entdeckung führen konnte. Doch hielt man das vorderhand noch streng geheim.

Mine, die erst jetzt am Abend dazu kam, das Geschirr abzuwaschen, stand, einen Teller in der Hand, mit weitaufgerissenen Augen: wer, wer konnte nur so ein schrecklicher Mensch sein?!

Selbst Frida, die nicht mehr zur Arbeit ausgehen konnte, sondern jetzt Blusen und Unterröcke zu Hause nähte, von morgens bis in die Nacht hinein, ließ auf einen Augenblick die Maschine stillstehen. Die Frage riß auch sie aus ihrer traurigen Versunkenheit: ja, wer, wer?!

Max, der eben von der Arbeit gekommen war, frisch und rot, wurde jetzt blaß, am Schnurrbärtchen nagend, stand er da: daß sie auch nie aufhören konnten mit dieser gräßlichen Geschichte!

Da tappte etwas draußen auf der Treppe. Männerschritte. Ihrer mehrere mußten es sein. Hart klopfte es an die Küchentür.

Mine öffnete.

»Nanu?« Reschke guckte vom Lesen auf.

Zwei Herren schoben sich herein, und hinter ihnen wurde noch ein dritter sichtbar, ein Mann in Uniform, ein Polizist. Sie sagten kaum ›Guten Abend‹, sie waren gleich mitten in der Küche, und der in der Uniform verstellte die Tür.

Was wollten die hier?! Arthur war aufgesprungen. Er hatte noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt, darauf war er stolz. Sollte er jetzt auf seine alten Tage etwa noch mit denen zusammengeraten? Denn es war eine Unverschämtheit ihm hier so mir nichts dir nichts hereinzulaufen. »Sie haben sich wohl in der Nummer geirrt,« sagte er mit höhnischer Höflichkeit, »'n Haus weiter, wenn ich bitten darf. Ich stehle nich, ich habe auch keinen umgebrungen – was wollen Sie denn hier?«

»Ist das Ihr Sohn?« fragte der eine und richtete den Blick scharf auf Max.

Mine guckte verwundert: Der Maxe hatte sich noch nie was zuschulden kommen lassen. Und doch trieb es sie an, sich vor ihn hinzustellen, gleichsam als wolle sie ihn decken mit dem eigenen Leib.

»Ja, das is mein Maxe!«

»Na denn, Max Reschke, kommen Sie man!« Der Beamte war ganz gemütlich.

Aber Vater Reschke verstand keinen Spaß. »Wollen Sie gefälligst meinen Jungen ungeschoren lassen?!« Er erhob drohend den Arm. »Wie kommen Sie dazu? Wer sind Sie eigentlich? Was unterstehen Sie sich?«

Der Kriminalbeamte zeigte seine Marke. »Machen Sie sich keine Ungelegenheiten, Herr Reschke. Wir machen kein Aufhebens, machen Sie nun auch keins. Wenn Ihr Sohn imstande ist, sich von dem Verdacht zu reinigen, der auf ihm lastet, so braucht kein Mensch weiter was drum zu wissen. Also los!«

Max stand da, blaß, den Blick zu Boden gesenkt; er war wie auf den Mund geschlagen vor Überraschung. Was, was sollte er denn?! Er war sich nicht des Geringsten bewußt, er wäre auch ruhig mitgegangen, aber die Mutter hatte das Wort ›Verdacht‹ aufgefangen, und das flößte ihr Schrecken ein.

Mine schrie auf: ihr Max weggeführt, von der Polizei weggeführt?! Nein, das ließ sie nicht zu. »Hier bleibste!« Sie zerrte den Sohn wieder zu sich hin, und als er sagte: »Reg dich doch nich auf, Mutter, ich muß aber doch mitgehn,« da schrie sie noch viel lauter: »Verdacht?! Verdacht! Auf meinen Maxe braucht keener 'n Verdacht zu haben, der tut nischt Unrechts!«

Und Herr Reschke fing auch an zu schreien: war das eine Manier, harmlose Leute so zu überfallen? Verdacht – ?! Was war denn das für ein Verdacht, der auf seinem Jungen ruhen sollte? Das war ja eine ganz unerhörte Sache. »Maxe, haste denn was ausjefressen?« brüllte er seinen Sohn an.

Der wurde ganz unsicher. »Ich weiß doch nich!«

Der eine Beamte hatte Max Reschke die Hand hinter die Schulter gelegt und schob ihn so zur Tür, der zweite trat an die andere Seite, den Rücken deckte ihnen der Uniformierte. Aber sie hatten nicht mit der Mutter gerechnet. Mine stieß den Polizisten weg: ihr Kind war ja wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Sie riß ihren Max am Rockschoß zurück und schrie gellend, wild geworden: »Mein Sohn!«

Was die Beamten hatten vermeiden wollen, ein Aufsehen, das war nun da. Die Riedel hatte längst durch ihre ein wenig geöffnete Küchentür dem Wortwechsel drüben gelauscht, nun schoß sie hinaus auf den Vorplatz, und Ella und Elsa, und die schon zur Feerie halb eingekleidete Irene, schossen ihr nach. Und im Stockwerk tiefer klappten die Türen, und darunter die Türen auch, das ganze Haus war plötzlich lebendig geworden. Schon polterten welche die Treppe herauf, andere stürmten nach: was war denn los, was war denn da oben los bei den Reschkes?!

Die Beamten konnten kaum die Treppe gewinnen, so dick war der Knäuel bereits. Max ging ohne Wort, stumm in ihrer Mitte; er war wie betäubt. Hinter ihm jammerte die Mutter: »Mein Sohn!« und der Vater hämmerte sich mit der Faust vor die Stirn: was war denn los, was war denn los?! War's noch am Ende wegen der aus der Koppenstraße, die sie damals vom Felde gejagt hatten? Aber da war ja der Max gar nicht dabeigewesen. Oder vielleicht wegen einer Schlägerei? Der Max trank ja nicht, der prügelte sich auch nicht. Oder war er verklagt auf Alimente? Da holte einen aber doch kein Kriminal ab, und zu drei Mann hoch. Oh, die Schande, die Schande! Arthur hörte gar nicht auf das, was die Nachbarin sagte.

Die Riedel tröstete: »Lassen Se man jut sein, Reschke, was können Sie denn dafür? Wer weiß, was der Bengel pekziert hat. Man is aber doch nich verantwortlich für seine Kinder. Un 'n Kopp kürzer wer'n se 'n ja ooch nich jleich machen!«

Frida hatte weinend die Mutter umfaßt gehalten: »Mutter, beruhige dich doch, unser Maxe hat ja nichts getan, er hat sicher nichts getan!«

Da schrillte es von unten durchdringend herauf, eine spitzige Kinderstimme hatte gerufen: »Der hat jewiß die Olle draußen umjebracht, nu hol'n se 'n ab!« Und ein wirres Getöse folgte dem Ruf aus Kindermund, ein Aufkreischen, ein Durcheinanderschreien, ein Trappeln und ein aufgeregtes Gesumse. Dann wurde es still. Alles war hinter dem Verbrecher dreingelaufen, den sie nun fortführten auf Nimmerwiedersehn.

Frida hatte den Ruf gehört, sie wollte die Mutter stützen, aber sie brauchte selber eine Stütze; wirr um sich blickend, schlug sie mit den Armen in die Luft. Und dann tat sie einen dumpfen Fall.

Frida war zu Boden gestürzt; von ihrer Stirn, die hart aufschlug, troff Blut. Aufkreischend wichen die Fräulein Riedel zurück. Auch Mutter Riedel schlug ihre Küchentür zu: wahrhaftig, man hatte heute schon genug Aufregung gehabt – und überhaupt wegen der, das lohnte sich gerade noch!

Nur Irene stand den Reschkes bei. Der Vater zitterte so, daß er das Haupt seiner Tochter nicht halten konnte; er konnte und konnte nun einmal kein Blut sehen. Irene faßte statt seiner mit an; sie achtete es nicht, daß ihr Theaterstaat rote Flecke bekam, sie half der Mutter die Ohnmächtige in die Stube tragen. Da legten sie Frida aufs Bett.

* * *

Und draußen war es Frühling geworden. Als sei alles gut und schön, so glänzte das Feld im hellen Sonnenschein. Von dem, was der Winter verbrochen hatte, war ihm jetzt nichts mehr anzumerken. Ganz friedlich lag es im Frühlingsglanz; fleißige Ameisen rannten im warmen Sand und schleppten vom Kieferngestrüpp her sich Nadeln, Maulwürfe warfen Haufen auf, im Pechpfuhl schwammen die eben ausgeschlüpften geschwänzten Kaulquappen, und ein großer schwarzer Salamander mit goldgelben Flecken kroch bedächtig das Ufer entlang.

Der Bau des städtischen Irrenhauses war in Angriff genommen. Was die Bröse so gefürchtet hatte, das war nun im vollen Gang: Gefährte rasselten, Karren, schwerbeladen mit Sand und Steinen, Peitschen knallten, Zurufe ertönten, unter blauem Himmel hantierten die Arbeiter schon in Hemdsärmeln, Bretterschuppen waren aufgeschlagen für das Baumaterial, und in einer kleinen Kantine gab es Kaffeewasser, Schrippen und warme Würste zu kaufen.

Und doch war noch Platz genug da, um einsam zu sein. Die Bröse hätte noch einmal umgebracht werden können, so abseits lag ihr Haus; kein Arbeiter verirrte sich bis dahin. Es war wie gemieden. Ein Plakat war zwar auf einer ragenden Stange so angebracht, daß man es lesen konnte schon von weitem: ›Preiswert zu vermieten oder zu verkaufen.‹ Aber die beiden Gemeinden, Hohenfelde und Briesewerder, die sich, da keine Erben sich meldeten, in die Hinterlassenschaft teilten, würden kein Glück damit haben, und wenn sie den Preis noch so niedrig setzten: wer mochte wohl in das Haus ziehen?!

Und doch blühten in dem verwahrlosten Gärtchen jetzt schon Hunderte von Veilchen, und an der Hinterwand des leeren Ziegenstalls kroch eine halbwilde Rose herauf, und trieb hartnäckig oft schon abgefrorene und doch immer wieder neu sprossende rötliche Blättchen.

Sonst hatte der Bock alles abgenagt, was sich herauswagte. Aber er war nun fort, ein Bauer hatte das Prachtexemplar zur Zucht gekauft. Aber der Peter hatte es nicht lange gemacht – war er schon zu alt oder hatte er etwas Schädliches gefressen? – eines Morgens fand ihn der Bauer tot im Stall. Da sah man es erst, er war zu sehr abgemagert. »Die Bröse hat ihn sich nachgeholt,« raunten die Leute.

Die Bröse ging noch immer um; die würde man auch so bald noch nicht vergessen. Denn der Mörder der beiden Frauen war noch immer nicht entdeckt. Alle Spuren, die die Polizei aufgenommen hatte, waren im Sande verlaufen. Man hatte mehrere Handwerksburschen aufgegriffen, lungernde Strolche, Bettler, die ihr Alibi nicht lückenlos nachweisen konnten; auch bessere Leute waren vernommen worden, Arbeiter, die vorigen Herbst bis Anfang Winter draußen gegraben und Sand gekarrt hatten. Vor allem aber war der Malergeselle und Anstreicher Max Reschke aus der Novalisstraße belastet gewesen; den hatten sie aber auch wieder gehen lassen müssen.

Sie hatten ihn weidlich gezwiebelt; sie waren mit ihm hinausgefahren, und er hatte um das Haus der Bröse geduckt schleichen müssen, und die Frau aus Briesewerder ging oben auf der Chaussee: ja, ja, der war's gewesen, den sie damals hatte schleichen sehen! So hatte er ins Fenster gespäht, so hatte er sich geduckt, so, gerade so! Das stimmte überein mit der Aussage der beiden Burschen aus Hohenfelde. Warum hatte er sich denn mit dem Mädchen nicht zeigen wollen und war doch um ihr Haus gestrichen wie ein lauernder Fuchs?!

Auf alles hatte Max immer nur sein stetes: ›Ich weiß nich!‹ War das die Sicherheit der Unschuld, oder ein angeborenes Phlegma, oder etwa eine schlau-angenommene Dummheit?! Nach vier Wochen Untersuchungshaft durfte Max Reschke wieder nach Hause.

Als Max unvermutet die Wohnung der Seinigen betrat, traf er nur Frida an. Sie saß beim Fenster an ihrer Maschine. Als er, ohne vorher zu klopfen, mit scheuer Hast eintrat, starrte sie ihn an, als könne sie es nicht glauben: war er's, war es der Max denn wirklich? Sie war schon so an Unglück gewöhnt, sie konnte nichts Gutes mehr glauben. Dann flog sie ihm weinend an den Hals. Würde sich die Mutter freuen! Die war bis zum Abend auf Arbeit; sie würde aber gleich hinlaufen zu ihr, damit die es eher erfuhr. Gott, die Freude! Und der Vater würde sich auch so freuen. Der war seit der Zeit ganz merkwürdig, ganz unzugänglich, saß manchmal stundenlang und schimpfte vor sich hin; und wenn der Prinzipal nicht Rücksicht nähme – der Vater war doch so weit ganz ordentlich und ließ sich auch sonst nichts zuschulden kommen – dann wäre er sicher schon wegen völliger Unbrauchbarkeit entlassen worden.

»Und du?« fragte Max. Er hatte sich sonst nicht sonderlich um die ältere Schwester gekümmert, es war nicht viel Gemeinsames zwischen ihnen, nun aber fühlte er doch, wie gut er ihr war. Sie sah so elend, so blaß aus und so dünn, so mager. »Wie is es dir denn gegangen?« Er überflog ihre schlank gewordene Gestalt mit einem verwunderten Blick.

Fridas blasses Gesicht wurde glühend rot, den Blick senkend, sagte sie leise: »Ich bin sehr krank gewesen. Aber der liebe Gott war mir gnädig – Mutter sagt so. Uns allen!« Die Tränen schossen ihr in die Augen, sie streichelte stumm dem Bruder mit beiden Händen die Wangen. Es war ihr, als hätte sie ihm etwas abzubitten: das Unrecht, das andere ihm angetan hatten. – – –

* * *

Aber Max wollte nicht mehr bei den Seinen bleiben, trotz all der Freude, die sie bei seiner Wiederkehr bezeigt hatten. Und nicht mehr in der Novalisstraße; da schämte er sich. Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß sie da nicht mit Fingern auf ihn zeigten; sie würden es doch tun – später. Nicht in Berlin mehr wollte er bleiben, das war ihm jetzt verhaßt – so 'ne blödsinnige Polizei! Nicht in Deutschland – da war ihm zu großes Unrecht geschehen. Er wollte nach Amerika. Da kümmerte sich keiner um den andern, und niemand wußte, daß er schon in Untersuchungshaft gesessen hatte. Die Untersuchungshaft, die Untersuchungshaft, die wurmte ihn zu sehr. Die war der Stein auf seinem Wege, er konnte nicht darüber weg.

»Reineweg 'ne fixe Idee,« sagte Vater Reschke, der wieder ganz munter geworden war, »Mensch, sei doch nich so dumm, du bist ja vollständig gerechtfertigt von 'rausgekommen!« Und die Mutter streichelte ihn, wie sie ihn als Kind gestreichelt hatte, wenn er sich weh getan hatte.

Mine trug Leid um ihren Sohn. Ganz verdüstert war er ihr wiedergekommen. Der Max hatte ja nie viel gesagt, nun aber sagte er gar nichts mehr. Stumm und verdrossen hockte er bei ihr in der Küche, er hatte eine Scheu, auszugehen. Was sollte sie nur mit ihm machen? All ihr Zureden half nicht. Er hatte immer einen dicken Kopf gehabt, nun war der erst recht dick. Das einzige, was er sagte, war: ›Amerika‹. Da wollte er hin, am liebsten schon morgen. Er studierte die Schiffsgelegenheiten. Wenn er sich als Heizer verdingte oder als Kohlenträger, kam er umsonst hinüber.

Ach Gott, ihr Max wollte über das große Wasser, darin schon so viele Schiffe untergegangen waren und noch immer untergingen! In unendlicher Angst verbrachte die Mutter ihre Nächte; am Tage mußte sie arbeiten, waschen, scheuern, Fenster putzen, da kam sie nicht zum Denken, aber nachts suchten die bangen Gedanken sie doppelt heim. Ihr einziger Sohn wollte so weit, so schrecklich weit fort?! Sie würde ihn nie mehr wiedersehn. Das war ihr fester Glaube, und aus diesem Glauben erwuchs keine Hoffnung. Es war ein harter Kampf, aber ihre Liebe war die größeste: »Denn geh man, mein Maxe!« Sie würde ihn nicht mehr halten.

»Nanu, Alte, und das sagste so ruhig?« Arthur sah seine Mine ganz verwundert an. Er selber war dem Plan seines Sohnes gar nicht so abgeneigt. Amerika war für ihn das Land der unbegrenzten Möglichkeiten; wo schon einmal ein schwarzer Neger Senator geworden war, da konnte sein Max doch gewiß etwas werden.

Er saß mit dem Sohn am Küchentisch, sie studierten in einem alten Schulatlas das Land der Freiheit. Da war Neuyork, und hier, weiter herunter, am Großen Ozean lang, lag Kalifornien, wo die prachtvollen großen Äpfel herkommen, all die schönen Früchte, die hier nur reiche Leute sich leisten können, die aber gar nichts kosten an Ort und Stelle. Und hier oben im Norden, ganz oben, wo es nicht mehr weit ist bis zum Nördlichen Eismeer, waren die Goldfelder von Alaska. Ob der Max nicht am besten daran tat, gleich dorthin zu gehen? Eine Handvoll Erde genügte da oft schon, um reich zu werden. Und wenn Max dann reich war, dann kamen die Eltern mit Frida ihm nach.

Mine lächelte wehmütig: ihr Arthur machte mal wieder Pläne! Sie glaubte nicht an das Nachkommen. Und sie ging nebenan in die Stube, wo in der Kommode unter ihrem Sterbehemd, das Frida genäht hatte, ihr Sparkassenbüchelchen lag. Es war nichts zugekommen in den letzten zwei Jahren, die Laube draußen hatte doch viel verschlungen; die vierhundertzwanzig Mark waren noch da, aber keine Mark mehr.

Sie legte das Büchelchen vor ihren Sohn hin: »Da, Maxe, das nimmste dir mit!«

»Danke, Mutter!« Er nahm es ohne jedes weitere Bedenken – was wußte er denn, was er der Mutter damit fortnahm! Er zog den Mund breit zu einem erfreuten Lachen.

Mine sah ihn liebevoll an: Gott sei Dank, er lachte doch mal wieder. »Damit de doch was hast for den Anfang!«

Damit würde er wohl nicht allzuweit kommen! Frida seufzte, sie wußte besser Bescheid. Es kostete drüben alles viel mehr als hier. Und dann die riesige Reise! Leise ging sie in die Stube und an die Kommode, deren oberster Schub ihr gehörte. Und auch sie holte ihr Sparkassenbuch. Für was brauchte sie denn zu sparen? Bis sie alt war und nicht mehr nähen konnte, hatte sie die fünfhundert Mark – eigene Ersparnisse und Weihnachtsgeschenke ihrer Damen – längst wieder ersetzt. Sie drückte dem Bruder das Buch in die Hand: »Da, Maxe, auch was von mir!«

Mine wollte Einwendungen machen: nein, das ging nicht an, nein, das durfte sie nicht leiden, das war von Fridchen zu viel!

Aber Frida sah sie an mit einer so traurig-ernsten Bitte, daß sie verstummte. »Mutter, du hast so viel für mich getan – wie kann ich dir's besser vergelten?!«

* * *

Anfang April sollte Max Reschke abreisen. Er fuhr nach Kuxhaven, da kam er dann aufs Schiff. Herr Bernhard hatte ihm abgeredet, als Heizer zu gehen – ›Gott soll hüten, da kommen Sie ja halb geschmort drüben an!‹ – er kannte einen Schiffsagenten, der würde dem jungen Mann schon einen billigen Platz besorgen: Zwischendeck, fein! Und Max nahm es dankbar an.

Gott sei Dank, nun war er bald das Alte los, sein Fuß trat andre Erde. Die war drüben viel besser. Nur eine Handvoll Erde, und man konnte da so reich werden. Frohgemut schlug Max sich auf die Brust, wo er, in ein Ledertäschchen eingenäht, die Scheine trug, die er sich auf der Mutter und Fridas Sparkassenbücher geholt hatte. Er zeigte jetzt eine Lebhaftigkeit, wie er sie sonst nie gehabt hatte. Mutter und Schwester nähten ihm noch Hemden und Unterzeug, er trieb sie zur Arbeit an, es konnte ihm gar nicht rasch genug gehen mit der Ausstattung. Und seine Hoffnungsfreudigkeit steckte Herrn Reschke an.

»Was weinste denn?« sagte Arthur zur Mine, wenn sie sich verstohlen eine Träne abwischte. »Der Maxe hat ja ganz recht. Wenn ich noch jung wäre, machte ich auch mit. Man klebt viel zu sehr an der Scholle. Apropos, was ich dir schon immer sagen wollte, draußen die Pacht habe ich nu nich mehr erneuert. Die olle Laube! Wenn's noch 'n Rittergut wäre, aber die paar elenden Handvoll! Man bloß Sand. Und die Pacht wird nu auch noch höher, sagt Bernhard, weil da nu gebaut wird.«

Mine sagte nichts darauf, sie wußte ja, alles, was sie an Geld besaßen, nahm Max mit. Es wäre kein Pfennig mehr übrig gewesen, um einzusäen und zu pflanzen. –

Max war doch weichmütig, als er von den Seinen Abschied nahm. Sie hatten ihn alle zum Lehrter Bahnhof gebracht. Und nun standen sie vor dem Abteil vierter Klasse, in dem noch ein paar junge Matrosen saßen und lustig qualmten, und sahen zu ihm hinauf. Er hatte sich zum Fenster herausgelehnt: »Adieu, Mutter!« Nun hatte er Tränen in den Augen.

Mine hielt seine Hand noch und sah ihn an, als wolle sie ihn mit ihren Augen so festhalten, daß nichts ihn ihr mehr entreißen könne: kein Meer und kein Land, keine Trennung und kein Nimmerwiedersehn.

Frida weinte, Arthur weinte, aber sie weinte nicht. Sie winkte dem Sohn nach, bis sie sein aus dem Fenster flatterndes Tuch nicht mehr sehen konnte, bis der lange schwarzlinige Zug ihr gänzlich entschwunden war. Dann drehte sie kurz um.

Frida wollte sich an sie drängen, und Arthur faßte von der anderen Seite nach ihrem Arm, aber sie winkte ihnen ab: »Geht ihr man nach Hause. Ich komme erst später. Ich tu noch rausfahren.«

»Wohin denn? Was will sie?« fragte Reschke.

Und Frida weinte aufs neue: »Nach ihrer Laube will sie. Da kommt sie zuerst zurecht!«

* * *

Am selben Tag, an dem Max Reschke auszog aus Berlin, zog Rentier Hippelt aus seiner Villa in der Gartenstadt. Er hatte gerade in Berlin in einem seiner Häuser eine Wohnung leer stehen, eine schöne Etage, die würde er nun selber beziehen. Es war nichts mehr für ihn hier draußen. Warum es nichts mehr war, das erklärte er nicht näher, das ging ja auch keinen Menschen etwas an, auch seinen Vertrauten, Herrn Bernhard, nicht.

Zu Doktor Hirsekorn, der ihm beigestanden hatte in schwerer Stunde, der ihn auch nachher noch mehrere Male besucht hatte, war Hippelt von einer seltsamen Frostigkeit und Zurückhaltung. Hirsekorn lächelte darüber: ein komischer Kauz. Aber merkwürdig, wie dieser schwerkranke Mann sich doch noch immer auf den Beinen hielt!

Die beiden Villen standen sich so nahe, daß man sehen mußte, wenn man auch nicht sehen wollte. Der Mensch im langen Gehrock und in den karierten Beinkleidern, der einzige, der drüben je zu Besuch gekommen war, besorgte den Umzug. Aber wo war denn der Diener? Hirsekorn glaubte den Albert schon seit vielen Wochen nicht mehr gesehen zu haben.

Fräulein Zimmer wußte Bescheid: ja, der Albert war schon lange fort. Der alte Hippelt hatte es ihr selber erzählt, sie angesprochen über den Zaun: Albert war in Berlin, er machte die neue Wohnung sauber und überwachte die Handwerker. Und als sie sich wunderte: Hippelts konnten ihn doch schwer hier entbehren, da hatte der Alte gesagt: »Meine Frau schafft es sehr gut alleine!« Albert war dann noch beurlaubt, er besuchte seine verheiratete Schwester in Ostpreußen; das war eine sehr große, eine sehr weite Reise.

Und so sagte Hippelt zu jedem, der etwa nach dem Burschen fragte.

Aber er hatte unruhige Nächte deswegen und unruhige Tage; die Unruhe darüber verließ ihn überhaupt nicht mehr. Was sollte er sagen, wenn die Polizei kam, um sich nach Albert zu erkundigen? Und sie würde kommen. Auf die Dauer ließ sich's vor ihr nicht verheimlichen. Und bei An- und Abmeldung, was schrieb er da auf?! Er wußte es ja selber nicht, wo Albert war, aber er hatte das unklare Gefühl: die durften ihm vorderhand nicht nachforschen. Nein, die sollten es auch nicht, noch schützte den Flüchtling die vorgeschobene Reise nach Ostpreußen. Aber wie lange noch? Und was dann, was dann?! Der Schweiß trat Hippelt auf die Stirn, sein Atem wurde kurz: oh, dieser Mensch, dieser Mensch, was hatte der bloß angestellt?!

Seine Frau hatte ihn erschrocken angegangen: war es nicht merkwürdig, daß Albert verschwunden war gerade seit jener Nacht, in der die beiden Frauen draußen am Feld ermordet worden waren? Da hatte er sie aber angefahren mit solcher Heftigkeit, daß sie nicht mehr wagte, weiter darüber zu sprechen. Sie durfte niemals darüber sprechen, niemals! Hippelt schärfte ihr das ein.

Und Frau Sophie gab sich zufrieden. Nun gut, wenn Hippelt es denn so wollte: Albert war verreist. Sie war froh, daß sie ihn los war. Und froh war sie überhaupt, aus der Villa fortzukommen. In Berlin war es viel bequemer, da hatte sie nicht immer treppauf und treppab zu laufen, da schaffte sie es leicht allein, ohne jegliche Hilfe. Wozu unnütze Brotfresser? Desto mehr erbte sie dann einmal. – –

In seinem mausgrauen Schlafrock, den er noch immer trug, kam Hippelt heraus auf die Straße. Ein Möbelwagen hielt vor der Villa, der brachte mit einer Fuhre alles zusammen weg; es war nicht viel Mobiliar im Hause. Auch Alberts Sachen wurden mit aufgeladen.

Als Letztes kam der Geldschrank; er war das Schwerste. Der Mann in Gehrock und karierten Hosen legte mit Hand an, und Hippelt trippelte am Stock aufgeregt hin und her. Man sah es ihm an, er hätte gerne selber mit angefaßt.

Hirsekorn war in seinen Vorgarten getreten; wenn er auch keine besondere Neigung für den Nachbar hegte, so war es ihm doch unnatürlich, den so ganz ohne ein Wort scheiden zu lassen. Hippelt, der jetzt in Überzieher und Hut herauskam, noch gebrechlicher aussehend als vorher im Schlafrock, streckte die Hand über den Zaun: »Leben Sie wohl, Herr Nachbar!«

»Leben Sie wohl!« Der Doktor nahm die kleingewordene trockenhäutige Hand – war die eiskalt! Herrn Hippelt würde er wohl nicht mehr wiedersehn. Darum sagte er herzlicher, als er es sonst vielleicht gesagt hätte: »Möchte es Ihnen gut gehen!«

»Ihnen auch, Ihnen auch!«

»Denken Sie vor allem daran: keinerlei Aufregung. Und nehmen Sie regelmäßig die Tropfen. Sie haben mein Rezept!«

Hippelt zog hastig seine Hand zurück: wollte der Doktor etwa anspielen auf die noch nicht honorierte Behandlung? Das sollte ihm fehlen, jetzt noch eine große Rechnung zu bezahlen! Er bekam es mit der Angst. Aber halt! Es kam ihm plötzlich ein guter Gedanke. Den Pluto konnte er sowieso nicht gebrauchen in Berlin, hier war er Wachthund, in der Stadt würde man aber eine hohe Steuer für ihn zu bezahlen haben. Und so verzog er das Gesicht zu einem freundlich sein sollenden Lächeln und dienerte: »Herr Nachbar, Sie haben immer so großes Gefallen an meinem Pluto gefunden – ist auch ein schönes Tier, ein seltenes Tier, gut hundertfünfzig Mark wert unter Brüdern – ich will mich aber von ihm trennen, Ihnen zuliebe!«

Hirsekorn wollte etwas erwidern, aber der andere ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern sagte schnell: »Nein, nein, sagen Sie nichts! Herr Doktor, Sie haben mir freundlich beigestanden, so etwas läßt sich nicht bezahlen. Der Hund ist mein Dank. Empfehle mich!« Und so schnell er konnte, mit kleinen eiligen Schrittchen, trippelte er weg an seinem Stock und unterdrückte das Hüsteln. –

Die Pferde ruckten an, der Möbelwagen setzte sich langsam in Fahrt, und noch langsamer ging's mit Herrn Hippelt hinterdrein. Der Mann in den karierten Hosen hatte ihn untergefaßt, auf der anderen Seite Frau Hippelt; so schleppten sie ihn.

Der verlassene Hund winselte hinter ihnen drein. Da sagte Hirsekorn: »Na, denn komm, Pluto!«

Und das Tier ließ das Winseln und sprang mit einem mächtigen Satz über den Zaun hinüber in das Nachbargrundstück. Die mächtigen Pratzen vor sich gestreckt und den Kopf daraufgelegt, sah er von unten her mit den rotunterlaufenen Augen erwartungsvoll seinen neuen Herrn an.


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