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Achtes Kapitel

Der Diener bei Hippelts mußte sich das Bummeln angewöhnt haben; Fräulein Zimmer war davon überzeugt. Seit sie hier draußen wohnten, schlief sie immer sehr unruhig, die Stille der Nacht war zu groß, da erschreckte sie schon das Fallen des Laubes oder ein Knacken der Möbel; jetzt aber schlief sie gar nicht. Wenigstens behauptete sie das. Sie hatte nun schon ein paarmal nebenan verdächtige Geräusche vernommen – der Hund wurde beschwichtigt, er schlug nicht an, einen Fremden würde er zerrissen haben. Das konnte nur der Albert sein, der bei Nacht aus dem Hause schlich und am Morgen erst wiederkam. Sie legte sich auf die Lauer. Fröstelnd vor Neugier und Angst barg sie sich oben hinter ihrem Fenster und lugte hinab. Ihre Lampe hatte sie gelöscht, aus dem Dunkel sah sie hinunter in den nächtlichen Garten, dem ein ganz unwahrscheinliches Licht – man wußte nicht, woher es kam – eine leis-dämmernde Helle gab. Wie aus schwarzem Papier geschnitten – unbewegliche Silhouetten – so standen die Kiefern; wie ein dunkler Kasten erschien zwischen ihnen die Nachbarvilla. Deren Haustür konnte man nicht sehen und auch nicht den Garteneingang.

Die Neugierige lauschte und lauerte – nichts! Jetzt aber erschrak sie so, daß sie fast aufgeschrieen hätte: ein wunderbares Gesicht stand plötzlich zwischen den Kiefern, ein Menschengesicht, und doch war es keines. Es sah sie an. Ein seltsames Gesicht, ganz nahe, sie hatte ihm noch nie so ins Auge gesehen. Es fing ihr an, kalt über den Rücken zu rieseln. War das unheimlich: der volle Mond!

Allerlei Gruselgeschichten fielen ihr plötzlich ein. Wenn jetzt ein Mondsüchtiger hierherkäme, übers Dach spazierte, an dem Baum heraufkletterte? Oder wenn sie selber mondsüchtig wurde? Nur nicht so hineinstarren, das war gefährlich! Sie hielt sich die Augen zu, sie ertrug den Blick nicht dieses starren Mondgesichts. Immer noch mit geschlossenen Augen tastete sie sich zu ihrem Bett und zog sich die Decke bis zur Stirn herauf.

Hätte Fräulein Zimmer nur ein wenig länger noch am Fenster geharrt, so hätte sie gesehen, wie der Diener von nebenan plötzlich am Zaun erschien, der die Grundstücke trennte. Er warf dem Hund einen Brocken hin und streichelte ihn; Pluto schwieg. Aber nicht in die Ferne schweifte Albert; gewandt schwang er sich über den Zaun, durch des Doktors Garten huschten seine Füße, er ging leicht, kein Kies knirschte. Eine Leiter lag an der Rückseite des Hauses, er lehnte sie an, er stieg hinauf und verschwand in einem sich leise öffnenden Fenster. – – – –

Müde und verdrossen begann die junge Hausmagd bei Hirsekorn andren Morgens ihr Tagewerk. Gähnend stand sie in der Küche, in der einen Hand das Tuch, mit dem sie abtrocknen sollte, in der anderen den Teller.

»Nu, machen Se schon, machen Se schon!« Die Einäugige warf einen giftigen Blick auf das junge verträumte Gesicht.

Zerstreut fing das Mädchen an, den Teller zu reiben – patsch, da lag er.

»Na, Sie täten auch besser dran, aufzupassen,« brummte die Köchin. Und dann fuhr sie los: »Sie dämliche Person Sie! Nischt weiß se, nischt versteht se, aber –«

»Halten Sie den Mund,« schrie die andere dagegen, »Sie oller Drache Sie! Wenn der Albert Ihnen man poussierte!«

»Den gönn ich Ihnen alleine!« Die Mißgünstige schlug eine Lache auf. »Sie werden ja sehn, was dabei rauskommt. Aber dem Fräulein werd' ich's sagen, daß Sie –« sie brach ab.

Fräulein Zimmer war in die Küche getreten: »Was ist denn das hier für ein Spektakel?!«

Die Köchin fegte mit Rock und Fuß verstohlen die Scherben unter den Küchenschrank. »Gar nischt. Wir haben uns bloß unterhalten, die Grete und ich. Soll man sich denn nicht mal mehr unterhalten dürfen? Nee, Fräulein, denn müssen Se sich nach anderen Mädchen umsehen. Sie kriegen aber keine; hier draußen ist's viel zu eintönig, nich 'n bißchen Abwechslung, gar keine Aufmunterung. Nich wahr, Grete?«

Die Kleine nickte: »Jetzt im Winter kann man nich mal mehr bis nach 'm Waldschlößchen, nich nach 's Schützenhaus, der Weg is zu miserabel.« Sie fing plötzlich an zu weinen. »Man kommt auf lauter Dummheiten. Ach, Fräulein!« Sie schluchzte und verbarg das Gesicht in den Händen.

»Ja, es ist schrecklich! Ich wünschte auch, ich wäre erst weg. Wenn Herr Doktor nur nicht so einsam wäre – lieber Gott, der arme Mann!« Nun tropften Fräulein Zimmer auch ein paar Tränen.

Auch die Köchin wurde weich. Ja, mit dem Herrn mußte man Mitleid haben, und sie hatte es ja auch sonst hier so gut, aber jeder ist sich doch selber der Nächste. »Fräulein, man is zu sehr weggesetzt. Wie lebendig begraben. Nich wahr, Gretelchen?« Sich umschlungen haltend, weinten beide Mädchen.

Und Fräulein Zimmer stand bei ihnen und tröstete sie und sich: wenn das Frühjahr kam, dann wurde es ja besser. Ganz bestimmt. Dann zogen immer mehr Leute heraus, dann kamen Sonntags die Ausflügler und es gab etwas zu sehen, dann wurden auch mehr Züge eingelegt, man konnte leichter einmal nach Berlin hinrutschen. Überhaupt das Frühjahr, das Frühjahr! Wenn das nur erst da wäre! – – –

Und wie die draußen, so sehnten sich die drinnen auch nach dem Frühjahr. Es war kein guter Winter gewesen für die in der Novalisstraße. Herr Reschke war hinter seinem Kartonwagen ausgeglitten und hatte sich den Fußknöchel gebrochen; drei Wochen hatte er in der Charité gelegen und dann noch zu Hause. Max hatte in seinem Beruf keine Beschäftigung mehr gehabt und hatte sich etwas verdienen müssen als Aushilfskellner, aber da er nicht sehr gewandt war, so hatte er zweimal etwas zu ersetzen: einmal dem Wirt ein Tablett mit Gläsern, das zweitemal einem Gast die Reinigung seines Rockes bei Spindler bezahlen müssen. Und Frida hustete. Das machte Mine die meiste Sorge. Immer das Sitzen und Nähen, das war nichts für ein bleichsüchtiges Mädchen. Aber was sollte Frida sonst anfangen, sie hatte ja nichts anderes gelernt?!

Wenn Mine an ihrem Hoffenster stand und hinaufsah zu dem angedüsterten Stückchen Himmel, dann wollte es sich in ihre Augen drängen wie eine Träne. Aber energisch wischte sie sich mit der rauhen Hand übers Gesicht: es war noch immer Frühling geworden, es würde auch dieses Mal wieder welcher werden. –

* * *

Noch grünte kein Hälmchen, noch stieg keine Lerche wirbelnd vom Feldrain auf, als Max Reschke, wie die Taube aus Noahs Kasten, ausgeschickt wurde, draußen einmal nachzusehen. Nach dem Kalender hätte es schon Vorfrühling sein müssen – es war Anfang März – aber noch war in der Luft keine wärmliche Strömung, noch umwehte die Birken nicht silbriger Duft, noch hatte die Sonne nicht den Schein, der da spricht: ›Es werde!‹

Langsam stolperte der junge Mann über aufgeweichte Äcker der Laubenkolonie zu. Er hatte die Chaussee vermieden, um hier näher zu gehen. Nun sank er ein bis über die Knöchel. War das ein Schmutz! Er war verdrossen. Viel lieber wäre er den Sonntagnachmittag in Berlin geblieben, aber die Mutter hatte gesagt: ›Maxe, tu mer'sch zu liebe, geh raus, guck nach unsrer Laube, ob se auch noch steht. Un ob die Erdbeeren schon tun treiben. Hörschte, könnt'st immer auch den Mist von se abharken. Un drinnen in der Laube könntste gutt Ordnung schaffen – 's Geräte derzu is ja da – vielleicht wenn's Glücke will, können wer alle zusammen nächsten Sonntag schon raus, Kaffee da trinken.‹ Sie hatte ihm noch viel aufgetragen; lange war keiner draußen gewesen, sie hatte ordentlich Angst um die Laube und das bißchen Land. Max hatte nicht das Herz, ihr's abzuschlagen; nur den Mist abharken, das wollte er nicht.

Als er jetzt durch den Kot stapfte, reute ihn seine Bereitwilligkeit. Er hob bald das linke Bein, bald das rechte und besah sich die neuen Stiefel: die hätte er auch nicht anzuziehen brauchen zu dem Gang! Max Reschke hatte sich fein gemacht, er trug seinen Sonntagsanzug und einen dunkelroten Schlips mit einer Busennadel; das Oberhemd, das ihm die Schwester immer zum Sonntag herrichtete, war blendend weiß gewaschen und spiegelblank gestärkt. Das gutmütige Gesicht des jungen Mannes sah noch fast knabenhaft aus, trotzdem er schon bei den Soldaten gewesen war; so rund und so rotwangig. Er hatte noch immer keinen stattlichen Schnurrbart. Das ärgerte Max Reschke, vergebens zwirbelte er immer die spärlichen Anfänge.

Was sich die Mutter eigentlich dachte: nächsten Sonntag hier schon raus, Kaffee trinken?! In der Stadt mochte es schon nach Frühling aussehen, hier war's noch voller Winter. »Verflucht noch mal!« Er machte einen Satz und flüchtete auf einen höher gelegenen Fleck. Hier stand ja das Wasser in einem Tümpel; geschmolzenes Schneewasser, es stieg schaurig kühl von ihm auf, an den Rändern knisterten noch Eiskristalle. Ein paar einsame Krähen saßen auf einer Ackerscholle und machten ›krah, krah‹; als er sie scheuchte, flatterten sie schwerfällig auf, ließen sich aber gleich wieder nieder. Hier war ihr Reich. Dreist äugelten sie nach dem mühselig Stapfenden.

Max grollte der Mutter: warum war sie nicht selber gegangen? Sein Sonntag, der war nun hin! Die Beine wurden ihm vor Unlust müder als vom beschwerlichen Gehen. Endlich hatte er die Parzelle erreicht. Der Zaun war halb umgeweht. Der Sturm hatte hier gehaust und der Schnee und der Regen. Das sollte die Mutter sehen – na, die würde schön jammern! Nun war es doch gut, daß sie nicht zuerst herausgekommen war. Max fühlte Mitleid mit ihr. Den Zaun mußte man erst mal ordentlich stützen. Er rieb sich die kaltgewordenen Hände und spuckte hinein. O je, und wie sah die Laube aus! An der leichtgefügten Bretterbude hatten die Hände des Wetters gerüttelt, sie stand ganz windschief. Die Dachpappe hatte sich aufgerollt nach der einen Seite, und auch kein Vorlegeschloß hing mehr an der eisernen Krampe der Tür. Max schimpfte wütend in sich hinein: warte, wenn er den abfaßte, der das abgerissen hatte!

Die kleine Tür gab leicht seinem Druck nach. Er hätte beinahe aufgeschrien vor Überraschung: drinnen sah es gar nicht so wüst aus, da war sogar etwas zusammengetragen wie Mobiliar: ein dreibeiniger Stuhl, eine Kiste, eine Futterkrippe und ein Bund Stroh. Das Stroh lag in der Ecke, die von der Dachpappe noch geschützt war, und auf dem Stroh, einen Sack wie einen Mantel um die Schultern geschlagen, lag ein Mädchen. Es schlief, das Gesicht dem Eintretenden zugekehrt, ganz fest; es fühlte nicht den Zug von der offenen Tür. Die schwarzen Wimpern lagen schwer auf den bräunlichen Wangen.

Max Reschke bekam einen roten Kopf: das war ja das Mädel vom Sommer her, die schwarze Anna! Und die hatte sich unterstanden, die Tür aufzubrechen?! Jetzt kriegte sie aber Dresche! Er trat dicht vor sie hin. Nun das Gesicht so in der Ruhe war, sah man erst, wie jung es war und auch sehr hübsch.

Max dachte nicht mehr daran, sie zu schlagen, er faßte sie nur an den Arm: »Du, was fällt dir ein? Was machste in unserer Laube?«

Sie riß erschrocken die Augen auf, aber gleich darauf lachte sie: der? Oh, der meinte es nicht böse! Es fiel ihr auch gar nicht ein, sich zu entschuldigen, die Laube hatte ja leer gestanden, der schadete es doch nicht, wenn sie darin Unterschlupf suchte. Sie war lieber hier in der kalten Laube als bei der Bröse in der geheizten Stube. Oft war sie ganze Tage, auch Nächte hier, und mit ihren Ziegen. Mit einem ganz glücklichen Ausdruck schmiegte sie sich an Max Reschke an: wußte er denn, wie mollig es hier sein konnte, wenn draußen der Wind pfiff? Sie zeigte ihm, daß sie die Ritzen der Bretter und die Astlöcher sorgsam mit Moos verstopft hatte. Und dann zog sie ihn an der Hand hinaus, sie mußte ihm etwas zeigen.

In dem kleinen Geräteschuppen saß ein Hase. Jetzt, als der fremde Mann kam, ängstigte er sich, er bewegte hastig die Löffel und versuchte scheu einen Satz zum geöffneten Türchen.

Anna schlug schnell wieder zu. »Den hab ich gefangen, krank war er, nu is er gesund. Ich hab 'n mit Heu gefüttert; der Ollen ihr Bock is fett genug. Und Milch hab ich ihm zu trinken gegeben von meiner Zicke. Eh die Leute rauskommen, laß ich 'n aber laufen. Oder willst du 'n haben?« Sie sah den immer verdutzter werdenden Max mit zwinkernden Augen an: »Willste ihn Muttern mitbringen? Sag's nur, denn schlag ich 'n tot!«

Max wollte den Hasen nicht. Wie konnte Anna den nur totschlagen wollen, ein Tier, das man liebgewonnen hat?! So ein Hase konnte ja gar nicht schmecken. Aber er fühlte, wie sie sich mühte, ihm freundlich zu sein, und das schmeichelte ihm.

Es war ja auch so einsam hier draußen, niemand sah ihn mit ihr.

* * *

Als er von ihr schied, war es schon dunkel. Kein Stern war erschienen, der Himmel ganz schwarz. Sie mußte ihn führen bis auf die Chaussee, er hätte sich sonst nicht zurechtgefunden. Weiter wollte er sie nicht mitnehmen: »Nu geh nur, geh!« Aber er konnte es doch nicht hindern, daß man ihn mit ihr sah.

Ein paar junge Leute aus Hohenfelde kamen ihnen unversehens entgegen. Man sah sich nicht eher, als bis man aufeinander stieß. Das gab ein Hallo: die schwarze Anna mit einem Liebhaber?! Der eine leuchtete Max mit seiner Zigarre ins Gesicht, Max schlug sie zur Seite; aber der andere knipste ein Taschenlaternchen an. Nun war Max deutlich gesehen. Er genierte sich.

Und es war ihm noch immer peinlich, als er schon längst im Eisenbahnwagen saß. Was sollten die Leute wohl von ihm denken? Sein Trost war nur, daß sie nicht wußten, wer er war. Und überhaupt, wenn er wieder hinauskam, war sein Schnurrbart gewachsen, dann sah er ganz anders aus, dann erkannten sie ihn sicher nicht wieder.

So eine Person, so eine Herumtreiberin! Und doch – das Mädchen tat ihm leid. Wenn er dachte, wie Frida es bei der Mutter hatte – die Anna hatte niemand. Nicht Mutter, nicht Vater; und die Bröse, von der sie sagte, die wäre gar nicht ihre Großmutter, hätte sie nur aufgelesen irgendwo, die war eine alte Hexe.

Als Max nach Hause kam, empfing ihn die Mutter mit vielen Fragen. Die sonst so Ruhige war ganz aufgeregt: ging schon was auf hinter der Laube? Wie standen die Erdbeeren? Trieb nicht unterm warmen Mist schon ein neues Blättchen? Er hatte nach nichts gesehen; er konnte ihr nichts berichten. Nur daß die Laube kaputt wäre, das sagte er. Und dann wurde er unwirsch.

»Du bist aber auch, Max,« sagte Frida vorwurfsvoll, die bei der Mutter saß und am Sonntagabend noch für sich nähte. »Kannste denn Muttern nich ein bißchen schildern, wie's draußen gewesen ist? Du siehst doch, ihr Herz hängt dran!«

»Nee!« sagte Max. Er nahm wieder seinen Hut und ging seinem Vater nach ins Café Amor. – – –

Mine mußte schon selber hinausfahren, wenn sie wissen wollte, wie es da stand. Mit den Männern war nichts zu wollen, die waren immer so obenhin. Frida bot sich zwar an, mitzugehen, aber die sollte sich die Hände nicht verderben; fürs Nähen kann man keine so rauhen Finger gebrauchen, an denen der Stoff hängen bleibt. Und dann könnte sie sich aufs neue erkälten, das ewige Stubenhocken hatte sie ja ganz verweichlicht.

In Fridas Augen, die matt waren von dem trüben Grau der Wintertage und dem trüben Grau der Hinterstuben, in denen manchmal noch bis gegen Mittag das Licht brennen mußte, wenn die Näherin an der Maschine etwas sehen wollte, flackerte abends oft ein trügerischer Glanz auf. Ihr Gesicht war sehr zart geworden, die Wangen schmal; ihre Gestalt hatte noch die weiche Fülle, aber in dieser Fülle war keine Kraft. Sie war immer müde. Machte es dieses Müdesein, daß sie immer so trübselig war?

»Es is Zeit vor Ihre Frida,« sagte die Nachbarin drüben, die Riedeln, zu Mine, »det die sich 'n Mann anschafft. Ob mit Standesamt oder ohne. Wie alt is se denn nu eejentlich?«

»Vierundzwanzig wird se,« sagte Mine ganz harmlos.

Da schlug die Riedel die Hände zusammen: » So alt schon? Wie meine Ella sechzehn war, un meine Elsa man erst fufzehn, da jingen se schonst mit einem. Denn jloob ick't, det Ihre Frida nich uff 'n Posten is!« Und als Mine sie noch immer ganz verständnislos ansah, lachte sie laut auf: »Na jroßer Jott, das Herz verlangt doch nach Liebe, wenn die Mächens in die Jahre kommen!«

Das gab Mine zu denken. Sollte Frida wirklich darum so kümmern, daß sie keinen hatte, mit dem sie ›ging‹, wie die Nachbarin sagte? – – –

Als Mine heute am Sonntag zum Stettiner Bahnhof wanderte, um nach draußen zu fahren, sah sie sich um. Es war am frühen Nachmittag, kaum eben die Mittagessenszeit vorbei, und doch waren schon überall Pärchen auf dem Weg zum Vergnügen. Die jungen Männer noch im Winterüberzieher, die jungen Mädchen aber schon alle hell gekleidet – wie die Primeln, die es nicht erwarten können, nachher erfrieren sie. Es wehte noch recht eisig um den Stettiner Bahnhof und durchlüftete die hellen Röcke und die sommerlichen Blusen. Es gingen schon einige ohne Jacken, und Strohhüte mit Blumen hatten sie auch schon auf. Mine hüllte sich fester in ihren Schal; sie war gewiß nicht verwöhnt, aber man konnte gut noch etwas Warmes gebrauchen. Ihre Frida ging noch immer im Wintermantel – aber diese hier?!

Es war auf einmal, als hätte Mine andere Augen bekommen: die gingen ja auch alle zu zweien. Was ihr früher nicht aufgefallen war, das sah sie heute. Der Mann hielt sein Mädchen fest untergefaßt, denen wurde es nicht kalt. Und ihre Gesichter strahlten. Manch eine war lange nicht so hübsch wie Frida und hatte doch einen! Diese Bemerkung machte Mine, als sie dann im Zuge saß.

Die dritte Klasse war überfüllt. In den Gängen standen die Ausflügler dicht gedrängt, und doch hieß es noch mit Gelächter: »Immer rein, immer rein!« Ein besonders Witziger hatte sich oben ins Netz gelegt. Die jungen Herren nahmen ihre Damen auf den Schoß, weil so wenig Platz war.

In Schönholz, Hermsdorf, Weidmannslust, überall Tanzvergnügen; man sah die Wimpel der Gartenwirtschaften bunt über die noch kahlen Bäume und Büsche flattern. Erst vor der Gartenstadt wurde es leerer. Mine stützte den Kopf in die Hand und sah, verloren in ihren Gedanken, durchs Fenster hinaus. Wald, Heide, Feld; und wieder Feld, Heide, Wald. Sie sah nicht, daß die Birken, deren viele den Bahndamm entlang standen, ihre weißen Leiber leuchtend entgegenbogen, daß die Haselbüsche am Waldrand lange Gerten mit goldbepuderten Blütenräupchen verlangend ausstreckten. Die blanke Märzsonne blendete, sie wischte sich die Augen. War ihre Frida denn nicht auch solch ein Glück wert?! ›Das Herz verlangt nach Liebe, wenn die Jahre da sind‹, hatte die Riedeln gesagt. Die Mutter seufzte: ach, wenn sie's dem Kind doch verschaffen könnte – einen braven Mann!

Sie grübelte noch immer darüber, als sie längst ausgestiegen war und den Weg zur Laubenkolonie wanderte. Nun würde sie bald ihr Land wiedersehen, aber sie konnte nicht recht zur Freude kommen; in ihrem Herzen, das Neid nie gekannt hatte, regte es sich heute wie leise Mißgunst. Es tat ihr wohl, daß sie jetzt nicht mehr die Paare sah. Aber allmählich fing sie doch an zu vergessen; ihr Schritt, der langsam gewesen war bei ihrer Nachdenklichkeit, wurde rüstiger. Nicht umsonst ging sie über Acker, über das freie Feld, dessen schmalem Rain sich erste Gräschen entrangen. Auch ihre Seele wurde frei. Sie konnte nicht länger sich grämen. Es machte ihr nicht einmal viel aus, als sie jetzt die Laube in noch schlechterem Zustand fand, als Max sie ihr geschildert hatte. Wirklich, wirklich, es war Frühling jetzt!

Mit einem Ausruf, der fast einem Aufjauchzen glich, kniete die Frau nieder; sie hatte an den Erdbeeren ein erstes treibendes Blättchen entdeckt. Mit beiden Händen scharrte sie den deckenden Mist weg: das durfte jetzt frei atmen, der Sonne sich freuen. Schon sah sie Blüten daran und Früchte.

›Weißte,‹ hatte Arthur gesagt, ›pflanz Erdbeeren, Erdbeeren esse ich für mein Leben gerne!‹ O nein, die Erdbeeren würde sie alle verkaufen. Morgens um fünf wurden die schon gepflückt, herrliche große ›Prinz Albert‹ – dafür bekam dann Arthur Fleisch.

Und dann stürzte Mine hinter die Laube. Da war freilich noch nichts zu sehen. Aber die jungen Stachelbeerbüsche an dem Weg, der zur Laube führte, hatten lauter grünende Spitzchen, und die Johannisbeeren zeigten auch, daß Leben in ihnen war. Mit einer fast ängstlichen Liebe, mit einer mütterlichen Sorge betrachtete Mine ihre Büsche. Wo andere nur dornige Reiser sahen, da sah sie mehr. In einem glücklichen Eifer, der ihre stadtfarben gewordenen Wangen rötete, legte sie das Schaltuch ab und das Kopftüchelchen, das Frida ihr zu Weihnachten gehäkelt hatte aus zartblauer Wolle. Sie schürzte ihren Rock, es war gut, daß sie ihr Sonntagskleid nicht angetan hatte.

Beide Arme hatte sie voll mit Stroh und Unrat, dürrem Kraut und Reisig, das schaffte sie nun alles aus der Laube heraus. Sie trug es auf einen Haufen zusammen, sie hätte es gern gleich verbrannt. Aber ihr fehlten die Streichhölzer. Und hier war niemand, den sie darum bitten konnte. Ob sie wohl am Haus der alten Frau Bröse anklopfte? Das war nicht weit ab, man sah ein dünnes Rauchsäulchen aufsteigen jenseits der Chaussee; die würde der Nachbarin gewiß die Bitte nicht abschlagen.

Schon machte Mine sich auf den Weg. Doch als sie den rostigen Klingelzug faßte, und, obgleich sie nur zart zu ziehen vermeint hatte, ein gellendes Läuten sich drinnen erhob, tat es ihr fast schon leid. Die sollte ja auf alle Menschen so einen Haß haben – warum nur?!

Sie mußte eine Weile warten, dann schlorrte es innen. Spaltbreit nur wurde die Tür aufgemacht, mißtrauisch lugte die Alte heraus. Erst als sie sah, es war ungefährlich, streckte sie den Kopf, um den die weißen Haare in Strähnen zottelten, durch den Spalt.

Mine erklärte, was sie wollte.

Die Bröse schien heute guter Laune zu sein, sie nickte und grinste: »Warten Se man!« Man hörte sie dann drinnen ganz laut mit sich selber sprechen.

Jetzt kam sie heraus, einen Knorren Kien, den sie eben aus dem Herd gezogen hatte, brennend in der Hand. Wie eine Fackelträgerin schritt sie vor Mine her. Sie trug den schwarzen Rock mit den vielen Falbeln, in dem Mine sie zuerst gesehen hatte, lang schleifte sie ihn hinter sich her. Sie machte Schritte wie ein Mann. Und nun sah Mine auch, sie trug alte Männerstiefel, aber keine Strümpfe, nackt steckten ihre Beine in den Schäften.

Wie konnte eine Frau sich so verwahrlosen! Mine empfand ein Grausen und zugleich ein Bedauern: wie mochte die bloß so heruntergekommen sein?!

Als ob die Bröse Mines musternde Blicke gefühlt hätte, sagte sie jetzt: »Es wundert Ihnen wohl? Ich stände auch anders da, wenn Gerechtigkeit in der Welt wäre. Die gibt's aber nich. Ich spuck drauf – das 's mein Trost!«

Mine machte ein dummes Gesicht, sie wußte nicht, was sie erwidern sollte. Die Bröse verlangte auch keine Antwort. Aber es war, als ob sie ein Bedürfnis hätte, heute zu sprechen; fängt doch das elendeste Stück Erde an, sich zu rühren, wenn die stumme, tote Zeit des Jahres vorüber ist. In dem Gesicht, das erstarrt schien unter seiner Schmutzkruste, dessen hagere Nase so feindselig in die Luft ragte, fing es an, sich zu regen. In einemfort sprach die Alte vor sich hin.

Sie hatte den Kien, der langsam in ihrer Hand weiterbrannte – kein Wind des Feldes, der dagegen anpustete, löschte ihn aus – in den Haufen hineingeschleudert; das dürre Reisig flackerte sofort auf, Stroh und Kraut prasselten. Es gab eine hochlodernde Feuersäule.

Das Weib stand dicht davor und starrte hinein. Der Wind blies von der Seite, die Flamme schlug der Laube zu und leckte mit gieriger Zunge. Mine wurde ängstlich. Aber die Bröse lachte; sie stieß mit dem Stiefel ins Feuer hinein, streckte die Hände darüber aus, murmelte nur ein paar Worte, und sofort wurde die hochlodernde Flamme niedriger. Wie glühende Würmer ringelten sich die hellflackernden Reiser zusammen.

Mine bekam einen Schreck: konnte die das Feuer besprechen? Unwillkürlich faltete sie die Hände ineinander.

Die Alte sprach immer ins Feuer hinein. Und immer mehr geriet sie dabei in Erregung. Sie trampelte mit den Füßen mitten in die Glut: »Willste wohl ausgehn?« Es schien ihr gar nichts auszumachen, daß letzte Flammen an ihr aufleckten.

Mine wäre am liebsten fortgelaufen: die Alte war doch eine Hexe – oder war sie verrückt?! Sie faßte sich ein Herz, ganz schüchtern wagte sie es, die alte Frau am Ärmel zu zupfen.

Da kehrte die sich gegen sie, und mit einem: »Laßt mich zufrieden!« hob sie zornig die Faust. Der Bröse Miene war drohend, es war der Erschrockenen, als sprühten die Augen der Alten Funken, als sträubten sich die weißen Haare, wie bei einer Katze, die man gegen das Fell streicht. Und aus der Richtung der Bröseschen Hütte ertönte plötzlich ein durchdringendes Meckern, der große Bock mit dem Zottelbart kam in weiten Sprüngen dahergesetzt, die Hörner zum Stoß zu Boden gesenkt. Da flüchtete Mine. Sie stürzte in ihre Laube und schlug die Türe zu; sie lauschte mit verhaltenem Atem.

Sie wagte sich erst wieder heraus, als draußen nichts mehr zu vernehmen war. Kein Tritt und kein Meckern. Das Feuer war tote Asche geworden. Fern auf der Heide ging schon die Bröse, ihren Peter hielt sie beim einen Horn gefaßt, so führte sie den Langbärtigen neben sich her. Gott sei Dank, daß die fort war!

Aber Mine hatte die Lust verloren, länger zu bleiben. Ein Frösteln überlief sie, hastig schlug sie ihr Tuch um und verschloß die Laube. Sie kehrte sich nicht einmal mehr um nach ihrem Land. Heute war's nichts gewesen, heute hatte ihre Scholle ihr nicht den Frieden gebracht, den sie ihr sonst immer gegeben hatte. Die Leute hatten doch recht, die auf die Bröse schimpften: wo die hinkam, da war kein Frieden, keine Freude mehr. Und Mines Gedanken wurden auf einmal trübe. Es war, als sei an ihre Scholle das Unheil herangetreten, als bedrohe etwas ihr harmloses Glück.


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