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Zwölftes Kapitel

Der Butterhändler war schon seit Tagen nicht zum Vorschein gekommen. Sonntag hatte er sich zum letztenmal gezeigt, als er, die Faust ballend und den lärmenden Fräulein Riedels drohend, an seinem Zaun stand. Arthur hatte Montag früh, als er zur Stadt fuhr, bei ihm angeklopft: »Kommen Sie mit?« Da hatte es dumpfdrinnen erwidert: »Lassen Se mich!«

Er war nicht fortgegangen, das konnten die Riedels bezeugen. Frau Riedel, die mit der Jüngsten ihren beiden Großen am Montag nachgekommen war, wäre es nicht entgangen, wenn der Butterhändler seine Laube verlassen hätte; sie waren die ganze Woche draußen geblieben. Aber ob er denn nichts kochte? Kein Rauch stieg aus seinem Schornstein auf. Er hatte auch nicht geschimpft bei allem Lärm. Die Fräulein Riedels hatten wieder Besuch; Grammophon und Gesang ertönten jeden Abend bis nach Mitternacht. Mehr als einmal war Fräulein Elsa beim Butterhändler trällernd vorbeigestrichen, er schmetterte nicht die Tür. Da ließen sie ihn links liegen.

Am Sonntag darauf kamen Reschkes. Mine wollte abernten und Arthur derweilen Karten spielen mit dem aus der Koppenstraße. Er klopfte dort – es ließ sich nichts hören. Er donnerte mit der Faust gegen die Tür – auch darauf keine Antwort. Nur die Riedels kamen an.

Seit dem Zweikampf der Frauen hatten die beiden Familien sich nicht gesprochen, nun wurde das Eis gebrochen. »Er is doch drinne,« flüsterte Mutter Riedel, und ihrer Zweiten zublinkend, ermunterte sie: »Sing doch mal, sing mal tüchtig!« Zum Trommeln Reschkes an die von innen verschlossene Tür trompetete Fräulein Elsas durchdringende Stimme:

»O du mein Friederich,
Du bist so nett,
Und so adrett.« –

Sie standen alle auf dem Sprung, fortzuflüchten, wenn der Gehänselte herausstürzen sollte, aber nichts konnte den aufstöbern.

»Laßt ihn doch,« sagte Mine. Sie war jetzt auch dazugekommen. »Herr Kopka, Herr Kopka, machen Se doch auf! Wir kriegen ja Bange!«

Bange?! Sie sahen sich an, und plötzlich lief es ihnen allen eiskalt über. Der Gesang brach ab.

»Ich fürchte mich!« Die kleine Irene weinte auf. »Ich fürchte mich!«

»Quatsch!« Die Riedel fuhr sie an, aber Mine nahm das zitternde Kind neben sich: »Sei stille – still!«

Und dann schrieen sie alle vereint: »Herr Kopka, Herr Kopka!«

»Er is aber drinne!« Die Riedeln beharrte dabei, sie neigte das Ohr zur Türritze.

Die Reschke schob sie zur Seite: »Weg, vielleicht is er krank,« und die kräftige Schulter gegen die erzitternde Tür stemmend, drückte sie diese ein.

Eine Ratte, groß wie ein Kaninchen, jagte heraus und zwischen den Aufkreischenden durch.

Da war der Butterhändler. An einem Haken hinten in der Laube. Seine zu langen Hosen hingen noch länger herunter, er hatte die Hosenträger zum Aufhängen gebraucht.

Die kleine Irene stieß einen gellenden Schrei aus; das war zu viel für ihr junges Herz. Mit beiden Armen Mine umklammernd, sank sie vor ihr in die Knie, das Gesicht gegen ihren Schoß pressend. Dann ließen ihre Arme ab, ohnmächtig fiel sie nieder. Über sie weg drängten die anderen zur Leiche.

Nur Mine hatte sich nach dem Kinde gebückt. Sie nahm es auf den Arm: war das zarte Dingelchen leicht. Sie trug es hinaus, recht weit weg, bis zum Busch am Wasser: daß das arme Kind nur nichts mehr von dem Gräßlichen gewahr wurde! Dem da in der Laube war ja doch nicht mehr zu helfen. Sie schauderte; ihre bäuerische Frömmigkeit wandte sich ab in grausem Entsetzen, aber ihr menschliches Mitgefühl ließ sie verstehen: dem armen Mann war das Leben zu schwer gewesen, wer weiß, was der still geduldet hatte. »Lieber Gott, sei ihm gnädig!« flüsterte sie. –

Sie saß mit trauriger Miene bei dem Kinde. Das lag noch immer, die Augen geschlossen; den blonden Kopf hatte sich Mine auf ihren Schoß gebettet. War das ein hübsches Gesichtchen, aber elend. Die Brauen gingen wie feingezeichnete Bogen bis hin zu den Schläfen, die Schläfen waren durchsichtig, blaugeädert, und das Mündchen war schmerzlich nach unten gezogen. Mine konnte sich nicht enthalten, sie beugte sich über das feine Gesichtchen und küßte es mitleidig.

Da schlug Irene die Augen auf, dankbar sah sie in das Gesicht der Frau; sich dann heftig aufrichtend und an Mines Brust sich werfend, schluchzte sie leise: »Wie schrecklich, wie schrecklich – es ist alles so schrecklich – ich soll Ballett tanzen und mag nicht. Ich muß Barfußtänzerin werden – Mutter sagt so – ich soll Geld verdienen wie die beiden Großen, aber ich tu's nicht, ich –!«

Sie hörte auf; mitten in ihrem Schluchzen, sich von Mine abkehrend, starrte sie in den schwarzen Pfuhl: »Der Butterhändler hat ja so recht gehabt!«

Es war ganz unkindlich, wie sie das sagte: »Wenn ich mich man traute! Ach Gott, ach Gott, ich fürchte mich so!«

* * *

Sie fürchteten sich alle. Seitdem der Butterhändler gefunden worden war, tot in seiner Laube, waren nun schon sieben Tage verstrichen; die ganze Woche hatte sich draußen niemand sehen lassen. Mine sprach zwar davon, sie müsse ihre Kürbisse abnehmen und auch die letzten Bohnen pflücken, aber Arthur sagte: »Was willste so allein da? Nee, nee, laß man die Kürbisse und die Bohnen, viel taugen sie doch nich!« Und sie hatte sich zurückhalten lassen; nicht aus Angst, der Butterhändler könne umgehen, wie die Riedeln behauptete, sondern einer seltsamen Unruhe wegen, die sie gar nicht verlassen wollte: es waren seit Fridchens Verlobung schon vierzehn Tage verstrichen, aber den richtigen Ring hatte die immer noch nicht.

Herr Albrecht war krank gewesen, er schrieb eine Postkarte aus Tegel, daß er leider die Ringe noch immer nicht hätte besorgen können, er wäre auch nicht im Geschäft gewesen. Frida beunruhigte es weit mehr, daß der Geliebte krank war und sie ihm nichts Liebes erweisen konnte, denn sie wußte nicht einmal seine Wohnung. Auf seinen Vorschlag schrieben sie sich postlagernd.

Frida schrieb einen langen Brief und steckte ihn mit glühenden Wangen in den Postkasten. Der Mutter hatte sie ihn nicht gezeigt, war doch jedes Wort ein Wort überströmender Liebe, einer Leidenschaft, die keine Scheu mehr kennt. Die Mutter hätte das nicht lesen dürfen. Ihre Feder war hastig übers Papier geflogen – flüchtige Buchstaben ohne Haar- und Grundstrich, Worte, kaum ausgeschrieben – sie überlegte gar nicht, was sie da hinkritzelte. Ihre Gefühle gingen mit ihr durch wie junge Pferde, die Zaumzeug und Zügel nicht zurückhalten, die voranstürmen, berauscht von lustvoller Luft.

Aber Herr Albrecht war kein Briefschreiber; er ließ seine ›vielgeliebte Braut‹ nur wissen, daß es ihm besser ginge, und daß er hoffe, sie nächsten Sonntag draußen in der Laube wieder zu besuchen.

Das hatte Frida den Eltern mitgeteilt, und so fand Arthur es denn richtig, wieder hinauszugehen, wenn er sich auch nur seufzend dazu anschickte. »Ach, die olle Laube!« Es war ganz gut, daß man nicht in den Sommer hineinging, sondern aus dem Sommer heraus. Da hörte es so wie so draußen bald auf.

Mißmutig saß er heut auf dem Bänkchen vor seiner Laubentür und schielte hinüber zum Butterhändler. Der war nun längst begraben, die Polizei hatte ihn abgeholt, aber seine Siebensachen waren noch hier. Nicht einmal seinen schwarzen Rock hatten sie ihm angezogen, der hing da. Es war grausig still.

Als wenn der Butterhändler soviel Lärm gemacht hätte! Arthur schüttelte den Kopf: nein, der war früher ebensowenig laut gewesen, wie er es jetzt war. Aber die Riedels ließen sich gar nicht mehr hören. Fräulein Elsa sang nicht, das Grammophon ging nicht, Almyra bellte nicht; sie waren alle da, aber man vernahm nur hin und wieder ein abgerissenes Wort, ein leise geführtes Gespräch, das man nicht verstehen konnte. Arthur wäre der alte Lärm jetzt lieber gewesen.

Frida war dem Bräutigam entgegengegangen. Max hatte nicht mit herauskommen wollen, Arthur seufzte: wie sollte er sich bloß jetzt die Zeit vertreiben?! In einer gewissen Sehnsucht starrte er nach der Hohenfelder Chaussee: ob er wohl nach der Restauration ging? Da sah er vom Dorf her ein Gefährt kommen.

Es war ein offener Geschäftswagen, so wie ihn die Leute brauchen, die zur Halle fahren; aber heute war nichts von Waren aufgeladen. Vorn auf dem Bock saß ein junger Mann, der kutschierte, und hinter ihm, auf einem hineingestellten tiefen Stuhl, eine Dame ganz in Schwarz. Ihr langer Kreppschleier wehte.

»Nanu, die kommen wohl gar hierher?« Arthur spannte neugierig. Richtig. Sie lenkten jetzt ab von der Chaussee, fuhren ins Feld hinein, dort hielt der Wagen an. Der Mann half der Dame herunter. Das Pferd wurde losgesträngt, es schnupperte ganz ruhig am Boden hin und suchte sich ein Hälmchen.

Die beiden kamen jetzt auf die Reschkesche Laube zu. Mit geziert abgestrecktem Zeigefinger faßte der junge Mann an seinen Hut: »Pardon, ist hier die Parzelle eines gewissen Kopka?«

»Jawohl. Da!« Arthur zeigte. »Hier nebenan!« Dabei musterte er die Fremden scharf. Das war der Richtige, so ein Käsegesicht, das Schnurrbärtchen gewichst, die Haare gelockt, die Füße in zu enge Stiefel gezwängt, noch ein junger Kerl, mindestens zehn Jahre jünger als die Schwarzgekleidete an seinem Arm!

Die war aber nicht übel. Hübsch drall und weiß und rot. Und Augen hatte sie, so glänzend wie blankgeriebene schwarze Kirschen. Mit denen funkelte sie immer den jungen Mann an.

Sollte das etwa gar die Kopka sein? In tiefer Trauer war sie, zwei Eheringe hatte sie am Finger –! Arthur pfiff nach seiner Mine, die hinter der Laube buddelte. Er flüsterte ihr hastig zu: »Dem Butterhändler seine! Haste Worte?«

Und nun beobachteten sie, wie das Paar die verlassene Laube durchstöberte. Viel würden sie nicht darin finden; der arme Mann war ja so bescheiden gewesen, hatte gar keine Bedürfnisse gehabt. Die Frau war nobler; ihr Kleid war von feinem Tuch, der Unterrock von Seide, der Hut hatte eine Garnitur von haselnußdicken schwarzen Perlen.

Die Dame in Trauer raffte ihr Kleid hoch, jetzt rief sie im Tone höchsten Abscheus: »Ekelhaft! Wie er hier gehaust hat! Sieh mal bloß, Karl! Na ja, so war er ja immer! Sieh mal, da is sein schwarzer Rock! Ob du den noch tragen kannst?!«

Was er darauf sagte, verstanden die Lauschenden nicht. Aber nun tönte wieder ihre Stimme: »Na, denn nich! Nee, das sollst du auch nicht, da bist du viel zu schade for!« Und dann erklang zärtliches Geflüster. Und dann Lachen.

Mine fuhr auf: die sollten nur versuchen, hier ihren Kohl zu bauen! Das war ja eine ganz herzlose Kreatur! – Der Butterhändler, der arme Mann – die weinte ihm nicht mal eine Träne nach!

»Die dachten wohl, se könnten hier Schätze klauen!« Arthur war empört. »Machen sollen se, daß se hier runterkommen, sonst –« er sprach nicht aus.

Von der Riedelschen Laube her flog ein Schimpfwort, und Mutter Riedel flog gleich hinterdrein. Sie stand vor des Butterhändlers Laube, breit den Ausgang versperrend, und schrie hinein: »Nu soll eener sagen, so 'n Weibsbild, so 'n Mensch! Schämt sich nich, anzukommen mit dem jungen Kerl! Sich abzuknutschen hier un noch zu lachen!«

Die hatte auch alles gehört! Arthur stieß seine Mine an.

»Is det 'ne Benehmijung? Zeigt det von Jefühl?! De Augen sollten Se sich ausschämen, Sie, Sie Stücke Sie!«

Die Beleidigte schrie auf, der Beschützer warf sich in die Brust: »Was unterstehen Sie sich? Frau Kopka ist hier im vollen Recht, sie ist ihres Mannes Erbin.« Er faßte die Riedel am Arm: »Machen Sie wohl gleich, daß Sie hier runterkommen von unserm Land!«

Die Riedel kreischte gellend: »Mörderbande! Den Mann ha'm se in 'n Tod jetrieben, un nu sind se noch frech! So 'n juter Mann! Runter mit euch hier! Riedel, man fix! Ella, Elsa! Reschke, kommen Sie ooch!« Sie winkte mit beiden Armen: »Kommt man alle, alle! Det leiden wir nich, wir sind anständ'je Leute, hier is anständ'jes Land, hier leiden wir solche Packasche nich! Haut se, haut se! Runter mit se!« Sie raffte einen Kloß Erde auf und klatschte ihn der Kopka ins erbleichte Gesicht.

Der Liebhaber hielt sein Stöckchen vor, es wurde ihm aus der Hand geschlagen. Ein Regen von Erde und Sand, von Beschuldigungen und Schimpfworten schauerte jetzt über die Flüchtenden her. Sie liefen eiligst davon.

Und nun, als habe der Wind nur darauf gelauert, pustete auch er los. Ein jäher Stoß fegte übers Feld. Das war Sturm. Und finster wurde plötzlich der Himmel. Wer hätte vor Minuten noch an ein Gewitter gedacht? Die Sonne hatte geschienen, nun verbarg sie ihr Licht. Schon donnerte es. Kraut und Gras duckten sich, ein Blitz fuhr nieder. Überall zuckte es, der ganze Himmel schien aufzuflammen; aus allen Richtungen ein empörtes Grollen, ein Knurren, ein Knattern, ein drohendes Fauchen. Und nun ein Regenschutt, prasselnd wie Hagel, das Feld peitschend, den Boden zerwühlend. Sand und Erde spritzten hoch auf, es war alles in Aufruhr geraten. Die bebenden Gräser bäumten sich, das zähe Heidekraut legte Fallstricke. Der Fuß verfing sich – hier ein gähnendes Loch, dort eine herausgestreckte Wurzel – die flüchtende Frau war hingestürzt, die Furcht jagte sie wieder auf, sie keuchte, sie rannte mit vorgestreckten Händen.

Der lange Kreppschleier wehte zerfetzt, die Hutgarnitur hatte sich aufgelöst, die Perlen flossen nieder in schwarzen Strähnen, das Kleid hing schlapp wie eine nasse Fahne. Gerade daß sie mit letzter Kraft den Wagen erreichten.

Der junge Mann peitschte auf das Pferd los; das machte, ängstlich geworden durch das Toben des Wetters und das Geschrei der Verfolger, wilde Sätze. Hintenüber fiel Frau Kopka von ihrem Stuhl, der Kutscher verlor jegliche Führung, in rasender Fahrt ging's vom Felde fort. – – –

Das Wetter grollte noch; nun gab es sich zufrieden. Mine sah auf zu den schnell sich lichtenden Wolken: das hatte der Himmel gut gemacht. Jetzt war es bald wieder schön. Das Feld, auf das eben noch der Regen geprasselt, lag schon beglänzt. Erfrischt duftete die Scholle. In tiefen Atemzügen trank Mine die gereinigte Luft.

Die empörte Natur hatte sich bald beruhigt, aber in den Menschen zitterte die Empörung noch nach. Arthur war bei den Riedels eingetreten, das mußte man sich doch besprechen. »Alle Achtung, Mutter Riedeln!« Und sie lächelte würdevoll: »Det is man sich doch selber schuldig, sich un die Ehre von die janze Kolonie!«

Mine hatte sogar vergessen, daß Frida und ihr Bräutigam noch nicht da waren. Jetzt kam Frida endlich, aber allein. Sie war ihm weit entgegengegangen; länger hatte sie nicht mehr draußen auf ihn warten können; vom Regen durchnäßt, fror sie. Und auch vor Enttäuschung. Sie war blaß und zitterte: »Ob er noch kommt?« – – –

* * *

Aber der, auf den Frida Reschke wartete, dachte nicht daran, zu kommen. Es riß ihn wohl noch hin zu dem Mädchen, denn zum erstenmal in seinem Leben hatte er wirklich eine lieb gehabt. Er hatte sie auch jetzt wohl noch lieb, aber die Verlobung, in die er sich im Leichtsinn gestürzt hatte, dünkte ihn zu gefährlich. Sie würden bald dahinterkommen, daß von dem, was er ihnen erzählt hatte, nichts, gar nichts wahr war. Jetzt brauchte er sich ja noch nicht vor Entdeckung zu fürchten – was wußte sie denn? Er pfiff sich eins, wenn er der Dummen gedachte. Und doch, wenn er sich das Mädchen vergegenwärtigte, das vergebens auf ihn wartete, kam ihm ein Bedauern. Er holte sich die Briefe ab, die sie postlagernd nach Tegel schrieb, einen nach dem andern. Die Stirn zusammengezogen, mit leisem Herzklopfen, las er sie.

›Warum höre ich nichts von Dir?‹ – ›Warum kommst Du nicht, bist Du mir böse?‹ – ›Was habe ich Dir getan, daß Du so zu mir bist?‹ – – Und dann der letzte Brief: ›Willst Du mich denn verlassen? Bin ich Dir nicht gut genug, oder –‹

hier waren Tränen aufs Papier gefallen, man sah ihre Spuren –

›bist Du schlecht? Das kann, das will ich nicht glauben.‹

Mochte sie glauben, was sie wollte! Albert zuckte die Achseln. Nun schrieb sie nicht mehr. Ja, ja, sie tat ihm leid, er vermißte sie auch, keine war so wie die, so lieb, so blond, so ein anständiges Mädchen, und doch so heiß! Aber was sollte er machen? Ja, wenn er Geld hätte, viel Geld! Er hätte jetzt nicht einmal die Verlobungsringe kaufen können. Auf sein Rad hatte er noch immer abzuzahlen, der Verkäufer mahnte schon. Und alles andere hatte auch viel gekostet. Geld, Geld!

Der Schrank, den Hippelt in seinem Schlafzimmer hatte, zog ihn an sich heran. Fast willenlos stand Albert ihm gegenüber. Der war nur ein Möbel, ein totes Ding aus leblosem Eisen, aber doch streckte er Hände aus. Eine Kraft hatte er, die war unheimlich. Und eine Zunge hatte er, die sprach: ›Such den Schlüssel, schließ mich auf, nimm!‹ Geld, Geld, Geld!

Geld war für Albert das einzige Ziel. Wer Geld hat, der hat die Macht; es gibt nichts auf der Welt, was man dafür nicht haben kann. Geld, Geld! Eine Gier, ihm angeboren und jetzt noch gesteigert, verzehrte den jungen Menschen fast. Er hatte Nächte mit wilden Träumen: Frida lag an seiner Brust, er steckte ihr den Ring an den Finger – sie lachte, sie weinte – dann war es wieder die schwarze Anna, die flüsterte heimlich: ›Großmutter hat Geld, wenn die tot is, dann kriegst du alles!‹

Aber die war ja nicht tot, die lebte noch immer! Mit einem Stöhnen fuhr Albert auf aus dem Traum.

Und dann war es wieder Hippelt, der vor ihm stand im geflickten Schlafrock. Der war ja so reich, was schadete es dem, wenn man ihn schröpfte. Und auf und zu klappte der Geldschrank im Schlafzimmer seine Tür – klapp – klapp – die Angeln kreischten, der Schlüssel knirschte, das Schloß schnappte. –

Frau Hippelt klagte bitter über den zerstreuten Diener. Was hatte der Mensch nur im Kopf, daß er alles vergaß? Nur den Winter würde sie's noch mit ihm aushalten, da bekam man niemand heraus; aber keine Stunde länger behielt sie ihn dann noch im Haus. Der Diener war ihr unheimlich. Sie sah ihn oft herumgehen wie geistesabwesend, er murmelte etwas vor sich hin, und wenn ihn der Herr ins Schlafzimmer rief, dann schrak er zusammen, und es lief über ihn hin wie ein Frösteln. –

Hippelt mußte jetzt häufig zu Bett liegen. Aber einen Arzt fragte er nicht, das kostete zu viel Geld. Er wußte ja selber, was ihn krank machte: einzig der Ärger, den er hatte über das draußen brachliegende Land. In der Stadt war es ihm immer so trefflich geglückt, jedes kleinste Stück Baugrund hatte Hunderttausende eingebracht. Aber hier Morgen und Morgen, tausende von Ruten, und keiner da, der darauf bauen wollte! Dieses verfluchte Feld hatte sein Geld verschluckt, diese Handvoll Erde fraß ihn fast auf.

Was nutzte die Idee, die ihm so klug vorgekommen war, daß er sie ausgeführt hatte schon im vergangenen Frühjahr?! Es war ihm schier ans Leben gegangen, soviel wegzugeben – ein ›unbekannter Wohltäter‹ hatte dem Verein zur Beschäftigung von Arbeitslosen achthundert Ruten Land für den Bau einer Niederlassung zur Verfügung gestellt, und noch dazu dreitausend Mark als ersten Baustein geschenkt. Seine Schenkung war mit Dank angenommen worden, ein ›Geben ist seliger denn Nehmen‹ hatte ihm gelohnt. Aber an Bauen dachten sie noch immer nicht. Noch immer war kein Bauzaun aufgeführt, kein Pfahl, keine Tafel zeigte an: ›Unbefugten ist der Eintritt verboten‹.

Hippelt hatte Herrn Bernhard letzthin durch Albert hinauswerfen lassen. Dieser Gauner brauchte ihm gar nichts vorzuerzählen, er wollte gar nichts wissen, er wußte so schon genug: der Butterhändler hatte sich aufgehängt, die Riedels wollten die Pacht nicht erneuern, nur die Reschkes waren noch da. Ein Reinfall, ein ungeheurer Reinfall! Der Geizhals jammerte um die verlorenen Zinsen, der vielfache Millionär wähnte sich schon ruiniert.

Der mausgraue Schlafrock war so mürbe geworden, daß er in den Nähten nicht mehr zusammenhielt, aus Rissen und durchgeschabten Stellen sah die Wattierung vor, das Rot der Aufschläge war gedunkelt vom langjährigen Schmutz; aber Hippelt hätte sich jetzt keinen neuen gekauft: bewahre! Er gab strenge Weisung: es wurde gespart. Beim Essen gespart, beim Heizen gespart, überall gespart. –

Er lag im eiskalten Zimmer, den Kopf auf einen rotweißen Lappen gebettet, der mit Sicherheitsnadeln, zum Schutz für das weiße Kissen, aufgesteckt war, als Albert ihm eine Frau anmeldete, die ›Bröse‹ hieß. Was wollte sie denn? Hastig fuhr Hippelt im Bette auf: »Gib mal den Spiegel her!« Daß er die auch so empfangen mußte! Er fühlte auf einmal menschliche Eitelkeit. So zerknautscht, so heruntergekommen! Er besah sich im Spiegel: sein Gesicht war ganz klein. Der würde er so nicht imponieren heute.

Die Bröse trug noch den alten Rock, den schleppenden, mit den vielen Falbeln. Aber darüber hatte sie ein bedeckendes Kape gehängt, einen Hut hatte sie auf, und gewaschen hatte sie sich auch. »Sie sehn nich gut aus,« sagte sie gleich als ersten Gruß und besah Hippelt kopfschüttelnd.

Das ärgerte ihn. »Gut oder nicht gut – was wollen Sie?«

Sie beachtete seine Gereiztheit gar nicht, ihre Hand aus dem Kape reckend, faßte sie sein Handgelenk. Sie fühlte seinen Puls, zählte, schüttelte den Kopf und zählte wieder. Schwach fiel seine Hand herunter, als sie die losließ.

»Nanu?« Ihr Gesicht hatte ihn betroffen gemacht. »Bin ich denn krank?«

Sie wich seiner Frage aus. »Ich wer' Ihnen was geben was gut gegen's Herzkloppen is – Hundefett und Fingerhutsaft – det reiben Se man tüchtig ein.« Sie schob ihm das Hemd von der mageren Brust: »Hier. Dreimal 'n Tag. Un dabei sprechen Sie jedesmal: Ich sage dir, steh still – Fingerhütchen es will!«

Er regte sich auf. »Lassen Sie Ihren Hokuspokus, ich glaube nicht dran!«

»Sie werden schon noch dran glauben. Mein Mann, mein Heinrich, hat viele damit kuriert. Un wenn se ihn nich angezeigt hätten wegen – wegen –« Der Kopf sank ihr auf die Brust. Sie murmelte in sich hinein, man konnte sie nicht recht verstehn.

Was? Was redete die da?! Hippelt räusperte sich.

Da fuhr sie auf aus ihrem traurigen Gemurmel. Wild sah sie sich um: »Se haben 'n eingelocht. Es gibt keene Gerechtigkeit in der Welt! Die Zuchthauskrankheit hat er sich geholt – mein Heinrich. Gestorben is er dran. Was war mein Heinrich so gut – alle andern sind Teufel. Alle, alle! In den tiefsten Höllenpfuhl sollen se kommen, wo der sitzt, der Oberteufel is von Anfang an, un die Seelen brät. Aber mein Heinrich, mein Heinrich –« ein Zug von großem Stolz kam in ihr Gesicht, ihre Stimme, heiser wie Rabengekrächz, wurde weicher – »der war ein Wunderdokter. Un wenn er nich gestorben wär, denn hätt er noch viele gesund gemacht.«

»Na ja, na ja,« sagte Hippelt. Was ging ihn das verrückte Zeug an? Ungeduldig wartete er auf das, was sie eigentlich wollte. Die Alte kam doch nicht deswegen her?! »Nu, nu,« ermunterte er und sah in ihr geistesabwesendes, zerstreutes Gesicht. Er stieß sie an: »Na, Bröse!«

Sie besann sich. »Ach so!« Bitter lachte sie aus. »'s langweilig, wenn sich einer beklagt. Ich hör ja auch schon auf damit. Ich will Ihnen jetzt mein Haus verkaufen.« Sie streckte die Hand aus: »Tausend Mark – und Sie haben's!«

Das sollte ihm einfallen! Er brauchte das Haus jetzt nicht mehr. Die Bröse konnte ruhig bleiben, es verlohnte sich kein Pfennig mehr. Er würde zu all dem Verlorenen nicht noch mehr hinauswerfen. Schon wollte er's ihr rundweg sagen, da besann er sich noch: man soll nie mit der Wahrheit herausrücken. Er fragte erst: »Warum wollen Sie denn verkaufen? Jetzt auf einmal?!«

Ihre tiefliegenden Augen blickten finster zu Boden. »Se rücken mer zu nah auf 'n Leib. Hundertachtzig Ruten sind da verkauft – die Stadt Berlin baut 'n Irrenhaus drauf – 'n ganz großes Gelände. Teuer genug hat se's bezahlen müssen: hundert Mark die Rute. Vor den Irren fürcht ich mich nich – aber ich mag's Bauen nich mit erleben. Hü, hott, klatsch auf de Pferde – se fahren an – se karren Steine – se schlagen Gerüste auf – se hämmern, se sägen, se poltern, se schrein – ich kann's nich ertragen!« Sie hielt sich beide Ohren zu, ihr Kopf wackelte aufgeregt: »Ich kann's nich, ich kann's nich! Herr Hippelt, kaufen Se mer mein Haus jetzt ab! Herr Hippelt, Se kriegen's nu billig! Herr Hippelt –?!« Sie sah ihn fragend an, aber er konnte ihr nicht antworten.

Hundert Mark für die Rute?! Soviel Geld für sein Land, für das er gar nichts gekriegt hatte?! Das war zu viel für sein Herz. Er hatte sich aufrichten wollen, schreien: »Mein Land –« aber es wurde nur ein Stöhnen daraus. Seine Farbe ward grünlich, seine Nase spitz, wie ein Toter sank er zurück ins Kissen.


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