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Was der schwarzen Anna nicht möglich war, in Herrn Hippelts Albert zu erwecken, das war der blonden Frida gegeben. So sehr es auch in ihr drängte und ihm entgegenwallte, mehr als ihre Hand fassen durfte er nicht; nur beim Abschied erlaubte sie ihm einen Kuß. Wenn er erst ihr Bräutigam war, dann war es etwas anderes; aber jetzt ging sie doch erst mit ihm. Er hatte sich ihr vorgestellt als junger Kaufmann; er schämte sich, Diener zu sein. Und es wurde ihm nicht schwer, sich in die Lüge hineinzufinden – Kaufmann sein war ein schöner Beruf, da kam man am ersten zu Geld. Wenn er an Geld dachte, überlief es ihn. Geld, Geld! Das lag ihm im Blute.
Unversehens war er dazugekommen, als der Alte an seinem Geldschrank kramte; sonst hielt der dann immer die Türe verschlossen, heute nicht. Der Alte wurde eben vergeßlich nach und nach. Ein Blick genügte: da lagen Rollen voll Geld, wertvolle Papiere. Albert hatte sich abwenden müssen, es riß ihn hin zu dem Geld mit aller Gewalt, er mußte eilen, daß er wieder aus der Stube herauskam. In seinen Adern rollte es wie rasend, in seinem Kopf hämmerte wahnsinnig ein einziger Gedanke: nimm dir, nimm!
Immer häufiger trat er jetzt an Hippelt heran, er brauchte viel Geld, das Kaufmann-spielen kostete. Nicht, daß er Frida schon ausgeführt hätte, so frech er auch war, das getraute er sich nicht, es konnte ihn zu leicht jemand sehen; er hielt alles geheim. Aber eine Uhr kaufte er sich, eine goldene Kette, einen Siegelring und ein Stöckchen mit silbernem Knopf.
Es wäre Albert das Liebste gewesen, sich mit Frida nur heimlich zu treffen, dort im Walde, wo er sie kennengelernt hatte, als sie auf dem Baumstumpf saß und ausruhte; dabei sollte es vorderhand bleiben. Aber das wollte sie nicht. Warum wollte er nicht ihre Mutter kennenlernen? Die würde sich so freuen. Die war eine so brave Frau – oder war die ihm vielleicht nicht gut genug? Frida schien beleidigt. Da lenkte Albert rasch ein. Das Verlangen nach dem Mädchen, nach einer, der er nicht nur zu winken brauchte und sie war sein, war stärker als seine Klugheit. Was konnte ihm denn auch passieren, wenn er mit den Reschkes einmal nachmittags draußen in ihrer Laube zusammentraf?! Als er es Frida zusagte, dünkte ihn ihr Blick verheißungsvoll, sie ließ ihre Hand in der seinen, und als er Abschied nahm, erwiderte sie, die sonst so Spröde, seinen Kuß mit einer Hingebung, die ihm das Blut durch die Adern jagte.
Albert hatte Frida angegeben, daß er für den Sommer sich in Tegel eingemietet habe; seine Tätigkeit war sehr anstrengend, er mußte wenigstens frische Luft haben und abends Ruhe. Sie fand das ganz natürlich. Wer es sich irgend leisten konnte, zog ja im Sommer aus der Stadt heraus. Und er konnte es sich ja leisten. Mit der Gläubigkeit eines Kindes hörte sie ihm zu. Ihr Herz sprach, da schwieg ihr Verstand. Es kam ihr gar nicht der Gedanke: verhielt sich auch wirklich alles so, wie er sagte?
Und Mine kam dieser Gedanke ebensowenig – ihr Fridchen, ihr Fridchen machte solch ein Glück! Gerade als sie in tiefer Kümmernis zum Doktor gegangen war, gerade da war es gekommen. Wie vom Himmel gefallen, der Frida in den Schoß. Die Mutter dachte gar nicht daran, mit der Tochter zu schelten, daß diese erst so nachträglich von ihrem Glück erzählt hatte, »'n bißchen eher hätte sie schon mit der Sprache rausrücken können,« sagte Arthur. Aber die Mutter war viel zu froh, um der Tochter einen Vorwurf zu machen. Sie faltete die Hände: der liebe Gott verstand es doch noch besser zu kurieren als der beste Doktor. Nun hätte sie das Rezept vom Doktor Hirsekorn ja gar nicht machen zu lassen brauchen, Frida blühte sichtlich auf.
Mit einer großen Freudigkeit rüstete Mine zu dem Sonntag, an dem Frida ihnen ›Herrn Albrecht‹ zum erstenmal vorstellen wollte. Er wohnte in einer feinen Villa, wie würde es ihm bloß hier in der Laube vorkommen?! Mine sagte sogar eine Waschstelle ab, um draußen alles so fein als möglich herzurichten, und sie vermißte die Einnahme doch ungern. Frida hatte Geld zum Empfang geben wollen, aber das nahm die Mutter nicht an: unter keinen Umständen, nein, es war ihr eine zu große Freude, es ihrer Frida so schön zu machen als sie irgend konnte.
Reschkes hatten sich in Unkosten gestürzt. Mine hatte die Laube gefegt, gescheuert, die Bretterwände schier abgekratzt, den Garten von allem Unkraut gesäubert, jedes welke Blatt aufgesammelt, jede Scherbe herausgelesen, den Weg sauber geharkt; das kostete alles weiter kein Geld, nur Arbeit, aber Arthur hatte sich einen neuen schwarzen Rock angeschafft. Er konnte doch unmöglich in seinem gewöhnlichen Sonntagsanzug, der anfing schon recht schäbig zu werden, den Herrn empfangen; einen schwarzen Rock mußte er ja nachher doch zur Hochzeit haben. Und eine wunderschöne Decke hatte er auch gekauft; es war nicht möglich, daß sie wie sonst auf dem alten Wachstuch Kaffee tranken. Die Decke war rosa und hatte rund herum Fransen, man sah gar nicht, daß der Tisch darunter nur eine einfache Kiste war. Und einen Blumenstrauß hatte Arthur auch noch mitten darauf gestellt, und über den Laubeneingang eine bunte, mit Kieferngrün umkränzte Inschrift gehängt: ›Herzlich willkommen‹.
Zum erstenmal in ihrem Leben sahen die Reschkes solch einen Gast bei sich. Im Versenk, wo sonst nur die Weißen lagerten, lag heute noch eine Flasche Rheinschaumsekt, direkt aus der Fabrik in der Brunnenstraße bezogen. Arthur wußte, was sich gehörte; wenn Herr Albrecht heute die Verlobung proklamieren sollte, Frida etwa gar den Ring mitbrachte, dann ließ er den Pfropfen springen. Mine hatte einen Kuchen gebacken, der war nicht aufgegangen vor lauter Rosinen, sie selber aber schien aufgegangen zu sein vor lauter Glück. In einer nicht geringen Aufregung harrten die Reschkes am Nachmittag.
Zum Glück waren die Riedels heute nicht draußen, es herrschte wirkliche Sonntagsruhe, ein Feiertagsfriede. Max hatte nicht mitkommen wollen: »Ich habe doch gar nischt dabei zu tun.« Aber Herr Reschke war energisch geworden: »Nanu, wenn deine Schwester sich verlobt, willst du nich mal dabei sein? Haste denn keine Ahnung, was sich gehört?«
Max hatte mitkommen müssen. Nun stand er, die Hände in den Hosentaschen, mißmutig oben auf der Sandwehe und sah mit düsteren Augen hinaus auf die Brache, die öde Heide, die ihm niemals so öde vorgekommen war wie gerade heut.
Frida war Herrn Albrecht entgegengegangen. Fern sah man ihre weiße Gestalt am Waldrand stehen und mit dem Taschentuch winken.
Der Ersehnte ließ sie heute ein wenig warten. Als er kam, war er heiß und rot und sein Atem ging rasch: er wäre so schnell gefahren vor Ungeduld. Da zog sie ihn noch einmal zurück hinter den letzten Busch am Waldrand, und da hielt sie ihm das Gesicht entgegen zum Kuß. Nun brachte sie ihn ja zu Vater und Mutter in die Laube, nun war es ja ganz etwas anderes.
Während er sie umarmte, fuhren seine blitzenden Augen beständig umher; er war in Unruhe.
Albert hatte nicht die sonstige Dreistigkeit heute. Nicht die Stirn, mit der er gestern vor Hippelt hingetreten war: »Ich brauche dreißig Mark!« Er hatte sich nicht einmal die Mühe genommen, dem Alten eine Geschichte vorzuschwindeln, warum er das Geld nötig brauchte, er kriegte es ja auch so.
Hippelt hatte im Bett gelegen; mit einer Scheu im Blick sah er dem Burschen entgegen, er wußte schon, der wollte wieder etwas. Und er duckte sich in seine Kissen, und Albert trat ganz dicht zu ihm heran. Sein Blick hatte etwas Einschüchterndes, Zwingendes; da gab es kein Nein. ›Wozu brauchst du schon wieder Geld?‹ wollte Hippelt fragen, aber er fragte doch nicht. Schreien wollte er: ›Ich denke nicht dran, dreißig Mark, bist du verrückt?‹ Aber er konnte nicht schreien. Wenn er nicht gab, dann – dann – er machte sich nicht klar, was dann war. Mit Stöhnen und Grummeln zog er aus der Tasche der Hose, die am Bettpfosten hing, sein Portemonnaie. »Zwanzig Mark?!« Er wollte handeln. Aber Albert sagte kein Wort; seine ausgestreckte Hand schloß sich nicht eher, als bis das letzte Markstück darin war, sein Auge wich nicht eher von Hippelt. An der Tür war er wieder der höfliche Diener, er machte eine Verbeugung gegen das Bett hin: »Danke, Herr Hippelt!«
Als er fort war, weinte Hippelt: oh, daß er so schwach war! Anzeigen sollte man die freche Kanaille – Erpressung, Bedrohung – aber er konnte ja nicht, nein, das konnte er nicht! Tränen der Wut liefen dem kranken Mann über das gelbgewordene Gesicht, in seiner Brust klopfte es hart vor zorniger Erregung. Und doch war eine gewisse Anerkennung in ihm: der Albert war ein Halunke, ei, was für ein Halunke, aber einer, der es zu etwas bringen konnte, bringen würde! So ein Junge, so ein Junge! Wie ein Schmunzeln zuckte es um den blassen Mund. Ein ganz geriebener Junge! Und ein ihm selber unerklärliches Gefühl machte Hippelt weich. –
Heute, hier in der Laube, war Herr Albrecht nicht der Albert von gestern. Eine beständige Unruhe ließ seine Augen umherflackern. Als er mit Frida übers offene Feld geschritten war, hatte ihn die Scheu gefaßt; hier wurde sie noch größer. Die Reschkes waren so vertrauensselig. Und es war fast lächerlich, wie die Frau ihn bei beiden Händen faßte, sie so derb schüttelte, als wollte sie sie ihm aus dem Gelenk reißen, und ihn dabei ansah, als wäre sie selber in ihn verliebt. Mine hatte gesagt: »Sein Se ooch schöne willkommen, Herr Albrecht, ich freu mir sehre!« Und doch konnte er nicht recht darüber lachen. Die mußte ihr Kind sehr lieb haben!
Albert senkte den unruhigen Blick. Es kam hier allmählich etwas über ihn wie eine Ahnung harmlosen Friedens; diesen seltenen Gast hatte er noch nie bei sich einkehren sehen. Er drückte die Hand Fridas, die ihr im Schoße lag; sie behielt die seine in der ihren und nahm sie mit auf ihren Schoß.
Sie tranken an der rosa Decke Kaffee, die Mutter hatte heute tiefer in die Tüte gegriffen, Frida hatte er noch nie so gut geschmeckt. Sie dachte jetzt nicht mehr daran, daß dazu aus dem Pfuhl geschöpft war; heute war ihr das trübe Wasser zur kristallhellen Quelle geworden. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen leuchteten.
So hübsch hatte Mine ihre Frida noch nie gesehen: die saß ja in dem weißen Kleide schon da wie eine leibhaftige Braut. Erinnerungen an die eigene Jugend schossen ihr plötzlich durch den Kopf – ein weißes Kleid hatte sie nicht getragen, und einen Kranz hätte sie eigentlich auch nicht mehr aufsetzen dürfen – Gott sei Dank, daß es bei Frida alles so anders war!
Recht bescheiden war der Herr Albrecht, das war doppelt anzuerkennen von einem, der es schon so weit gebracht hatte in jungen Jahren. Er schien kaum älter als Max zu sein, vielleicht noch nicht einmal so alt. Arthur trat heimlich seiner Frau auf den Fuß und zwinkerte ihr zu: das war einer! Er hatte den feinen Anzug wohl wahrgenommen, die Uhrkette, den Siegelring; am meisten Eindruck aber machte ihm das zurückhaltende Wesen. Ein anderer in solcher Stellung wäre viel mehr aufgetreten, hätte vielleicht gar geprotzt, aber dieser junge Mann saß so still und bescheiden am Kaffeetisch und hielt die Augen gesenkt. Und Frida schien er recht von Herzen lieb zu haben, er saß die ganze Zeit über mit ihr Hand in Hand. Und der Kaffee schien ihm auch zu schmecken, seine freie Hand griff immer wieder nach der Tasse. Nur essen mochte er nichts, so sehr ihn auch Mine zum Kuchen nötigte: »Essen Se man, essen Se man, er tut wirklich gutt sein!« Er könnte nichts essen.
Das war die Wahrheit. Albert hätte keinen Bissen herunterbringen können, die Kehle war ihm wie zugeschnürt; in einer nervösen Unruhe griff er immer wieder zur Tasse und trank in kleinen Schlückchen, das feuchtete ihm wenigstens die Lippen. Eine brennende Trockenheit hatte er in sich, und eine noch nie gefühlte Beklemmung. Er kämpfte mit sich: sollte er nicht aufspringen, die Hand aus der des Mädchens reißen, das so vertrauensvoll die seine hielt?! Der Frau, die ihn so mütterlich treuherzig ansah, ins Gesicht schreien: ›Machen Sie sich keine Hoffnung, ich heirate Ihre Tochter nie!‹ Dem Bruder, der verlegen auf seine breiten Fäuste niedersah und nicht recht wußte, wie sich benehmen, zubrüllen: ›Pack mich, prügle mich, ich bin's nicht wert, daß ich hier bei euch sitze, deine Schwester betrüge ich, betrüge euch alle – werft mich schnell hinaus!‹
Unwillkürlich rückte Albert mit dem Stuhl, rückte weiter von Frida ab, sie aber rückte ihm nach, und mit ihren weichen Fingern über die seinen streichelnd, flüsterte sie ihm zu: »Gefällt's dir bei uns?« Sie hatte sonst immer noch ›Sie‹ gesagt, heute sagte sie zum erstenmal ›du‹. Das durchzuckte ihn. Er rückte wieder näher zu ihr, ganz nahe, und schlang den Arm um ihre Taille.
»Ja ja, die Liebe macht satt!« Herr Reschke wagte jetzt diesen kleinen Scherz. Frida errötete, und Herrn Albrechts Arm drückte fester. Gutmütig lachend fuhr Reschke fort: »Nu ja, is es denn nich so? Wenn man so recht verliebt ist, denn fühlt man nich Hunger und Durst. Und auch keine Not – was, Mineken?« Er hielt seiner Frau die Hand hin. Der Anblick des zärtlichen jungen Paares versetzte auch ihn in eine gehoben-zärtliche Stimmung.
Mine schlug ein, aber in ihrem Blick lag eine stille Verwunderung: war Arthur denn jemals so verliebt in sie gewesen, daß er nicht Hunger und Durst gefühlt hatte? Und sie?! Sie schlug die Augen nieder: ach, die Not hatte sie oft bitter genug gefühlt. Ei, dann hatte sie ihn doch wohl noch nicht genug lieb gehabt! Und wie mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln schloß sie ihre beiden, durch Jahre unermüdlicher Arbeit hart und rissig gewordenen Hände um ihres Mannes viel geschontere Hand.
Albert sah alles. Er hatte Herrn Reschke gleich richtig eingeschätzt – aber die Frau, die Frau? Die war einfältig, und doch nicht einfältig. In ihren Augen war etwas, das sah tief. Er bekam auf einmal Angst: wenn die es herausfühlte, daß alles Schwindel war?!
Wie ein verwegener Kletterer, der vorm letzten Anstieg alle Kraft zusammennimmt: jetzt gilt's! so raffte er sich auf.
»Nu taut er auf,« wisperte Arthur und stieß seinen Max an.
Albert erzählte mit vieler Geläufigkeit: in einem großen Geschäft war er angestellt, in einem sehr großen, und –
»Wo denn?« unterbrach ihn Herr Reschke.
»Im Seidenhaus bei Michels,« log er frech. In der Eile fiel ihm nichts anderes ein. Und es war ja auch gut so: was hatte dieser Mann mit Seide zu tun, da kam der Reschke ja nie hin!
»Verkaufen Sie da im Laden? Du, Alte, da gehn wir mal hin!« Arthur rieb sich die Hände.
Der Lügner wurde rot und blaß, aber nur einen Augenblick verlor er die Fassung. »Im Laden?!« Er sagte es kühl, mit einer gewissen Verächtlichkeit. »Ich werde doch nicht im Laden stehn. Nein, ich bin beschäftigt im Kontor – in den Kontoren. Ich habe da 'ne ganze Masse unter mir. Personal, über hundert!«
»Was Sie nich sagen!« Reschke war starr. »Da haben Sie wohl auch 'n sehr gutes Einkommen?« Er fragte es förmlich kleinlaut. Wie kam Frida, die stille Frida, zu so einer Partie?!
»Na ja, es geht!« Herr Albrecht lachte. »Ich bin die rechte Hand vom Chef, ich möchte sagen, wie ›Sohn‹! Ich brauche mir über meine Zukunft keine Sorge zu machen, und die, die die Meine wird –« er zog Frida noch dichter an sich und flüsterte der sich nur wenig Sträubenden etwas ins Ohr – »die hat auch genug. Mehr als genug!«
Es wurde ihm jetzt gar nicht schwer mehr, weiter zu schwindeln. »Ach!« hatte Mine nur gesagt und die Hände gefaltet; sie sah Herrn Albrecht jetzt nicht mehr an, sondern vor sich nieder in ihren Schoß, dankbar erschrocken.
Albert berauschte sich an der eigenen Erzählung. Wie ein phantastisches Traumbild stieg's vor ihm auf. Jetzt war er nicht der Kalte, schlau Berechnende mehr, jetzt war er ein Märchenerzähler, der aller Wirklichkeit aus dem Wege ging. Aus märkischem Sand glühte das Morgenland auf, die arme Laube, das dürre Feld waren nicht mehr.
Reschkes staunten und staunten; aber sie glaubten. Einen Garten verhieß Herr Albrecht der glücklichen Frida, ein hübsches Häuschen draußen im Vorort, ein Dienstmädchen, eine Küche voll Geschirr, einen Salon, in dem ein Piano stand, und – er küßte sie – ein Schlafzimmer mit Sprungfedermatratzen und seidenen Steppdecken.
»Donnerwetter!« Reschke sprang auf. Jetzt war der Moment gekommen. Er stürzte an seinen Keller, er nahm seinen Rheinschaumsekt beim Kragen und ließ den Pfropfen knallen. In Gläsern, die früher Mostrich enthielten – Mine hatte sie nach und nach vom Krämer gesammelt – präsentierte er.
Herr Albrecht hob sein Glas hoch: »Aufs Wohl der Familie Reschke!«
»Auf euer Glück!« sagte Mine schlicht. »Daß Gott 's euch erhalte!«
Sie stießen alle miteinander an. Nur Max zögerte, er war der einzige, der nicht so mittat.
Herr Albrecht zog einen Ring aus der Brusttasche, er steckte ihn Frida an; es war noch kein richtiger Verlobungsring, nicht der schlicht-goldene Reif, der da ewig bindet, nur ein kleines Ringelchen mit blauem Stein. Aber der richtige kam ja nach. Gleich morgen würde Herr Albrecht die Ringe in der Stadt kaufen und die Namen eingravieren lassen, und die Jahreszahl und das Datum.
Es war nicht der Schaumwein, der Albert berauschte. Einmal so wirklich geliebt zu sein, geehrt und bewundert, das war selbst für seine Frechheit zu viel. Er war noch jung. Ein Schluchzen stieß ihn; eine Glückseligkeit, aus Lüge und Wahrheit gemischt, überwältigte ihn. Frida umfassend und sie zu Mine hinziehend, sagte er leise, wie verlegen: »Liebe Mutter!«
Das war ein seliger Augenblick. Frida glühte. Aus dem zurückhaltenden Mädchen war eine andere geworden. Jetzt durfte sie ja all ihre Gefühle zeigen. Fiebernd faßte ihre Hand nach der des Bräutigams, ihr Atem ging hastig, mit schwimmenden Augen trat sie zur Laubentür: da lag das Feld, heut war es so schön. Die ganze Welt war so schön! Leidenschaftlich bewegt lehnte sie sich in des Geliebten Arm; ihr war ganz schwindelig vor lauter Glück.
Da brach es erschreckend laut in die stille Stunde hinein.
O Gott, die Riedels! Das war Fräulein Elsas Stimme! Kamen die jetzt doch noch?! Fräulein Ella kam mit ihrem geschiedenen Mann, Fräulein Elsa mit dem Bräutigam und der mit einer blauseidenen Schleife geputzten Almyra. Beide Jünglinge trugen Zylinder, auch die Damen waren im höchsten Staat: große Hüte mit Straußenfedern, und ihre Röcke rauschten.
Dicht kamen sie bei Reschkes Grundstück vorbei, obgleich man sich bis jetzt immer gemieden hatte; sie grüßten nicht, aber neugierig gafften sie über den Zaun und blieben stehen. Fräulein Ella führte sogar ein Lorgnon an die Augen, das ihr an langer Kette vorn herunterbaumelte. Die festlich gekleidete Frida und der Herr an ihrer Seite erregten ihre Aufmerksamkeit. Ella sagte etwas zu Elsa, sie brachen in ein Gelächter aus, in das ihre beiden Herren mit einstimmten.
Arthur hielt mit Mühe an sich. Was sollte Herr Albrecht wohl von dieser Nachbarschaft denken? Aber der lachte. Und Frida hatte kaum etwas gehört: was gingen sie die Fräulein Riedel noch an? Sie wußte nichts mehr vom Schmutz der Erde, ihre Seele hatte Flügel bekommen, die trugen sie in höchste, seligste Höhen.
»Geht, geht 'n bißchen spazieren,« sagte Mine und stieß die Tochter an. Es war ihr ganz schrecklich, daß die beiden jetzt, gerade jetzt von drüben Gesang, Gelächter, das ganze laute Gebaren mit anhören sollten. Schon quäkte das Grammophon. »Geht,« drängte sie.
Und Frida zog mit Herrn Albrecht in die Heide hinein. Beide strebten sie weg von jeglicher Menschenseele; so stolz auch Frida am Arm ihres Bräutigams ging, jede Kleinlichkeit war von ihr abgefallen, jede Äußerlichkeit. Sie hätte sonst wohl die unschuldige Eitelkeit gehabt, ihren Bräutigam recht zu zeigen, heut glühte in ihr nur der Wunsch, den Geliebten eine Stunde ganz, ganz allein für sich zu haben, von keinem Auge gesehen, von keinem Ohr gehört.
Und Albert empfand denselben Wunsch, aber aus andern Gründen; er sah sich verstohlen um: kam auch niemand, sah sie auch niemand? In geheimer Scheu drängte er von der Heide ab – wenn ihnen hier die schwarze Anna begegnete! Er führte Frida ohne Weg, so rasch es ging, hinein in den Wald.
Reschkes hatten dem Paare nachgesehen, solange es sichtbar blieb; Fridas weißes Kleid flatterte. Mine wischte sich über die Augen: wie sie's ihr gönnte, ihrer Frida, ihrer braven, fleißigen Frida, die hatte sich das Glücklichsein wirklich verdient!
»Sie hat's große Los gezogen,« sagte Arthur. »Na, Maxe, nu mach du auch mal voran. Wer weiß, was dir noch blüht!« Mit einem ermunternden Lachen schlug er dem Sohn auf die Schulter.
Der stand stumm da, hatte die Hände in den Hosentaschen und runzelte die Stirn.
»Na, was stehste denn so da, so, so übelgelaunt,« tadelte der Vater. »Na, was haste denn?«
»Ich weiß nich, ich weiß nich,« murmelte Max. »Der gefällt mir nich!«
»Und warum denn nich, wenn man fragen darf?«
»Ich weiß nich, ich weiß nich!« Dabei blieb Max. Und sie fragten ihn auch weiter nach seinen Bedenken nicht.
»Sieh man lieber, daß du dich mit deinem Schwager gut stellst,« riet der weltkluge Arthur. »Vielleicht kannste ankommen bei Michels; die lassen doch auch streichen und malen.«
»Die haben Parkett.« Max zuckte die Achseln.
Mine ging hin zum Sohn und strich ihm die in die Stirn gefallene straffe Haarsträhne zurück. Sie kannte ihren Jungen: der hatte nicht Vaters Verstand, der hatte nur den ihren; man konnte es ihm nicht übelnehmen, daß er es nicht gleich begreifen konnte, dieses ungewöhnliche Glück. Und er sollte nicht denken, daß sie ihn weniger liebhätte als Fridchen. Nun er so dastand, gar nicht so froh, wie er es doch hätte sein müssen, schier betrübt mit umdüsterter Stirn, da fühlte sie eine Liebe für ihn, viel sorgender, als für die glückliche Frida. »Was haste denne, mein Maxe, tut dir's denne gar nich freuen?«
Da gab er sich einen Ruck: »Doch, doch, Mutter. Natürlich!« – – – – –
Es war heute großes Gelärm bei den Riedels, die vier machten mehr Spektakel als vierzehn. Die zwei Fräuleins spielten mit den jungen Herren Haschen. Wenn eine erwischt wurde, stieß sie einen Schrei aus, der übers Feld gellte.
Das wurde selbst dem Butterhändler zuviel. Daß der auch da war, hatten Reschkes gar nicht bemerkt, nun aber stieß er die Tür seiner Laube auf und rief heraus: »Ruhe!« Als die sich Nachlaufenden sich nicht daran kehrten, im Gegenteil erst recht laut schrieen und dicht bei seiner Laube herumrannten – hinterher die kläffende Almyra – kam er herausgewankt. Sein Gesicht war gedunsen, die grauen Haare hingen ihm wirr um den Kopf. Er ballte die Faust, er drohte ihnen: »Wollt ihr wohl stille sein!« Und als die Fräuleins lachend aufkreischten: »Der mit den Plattbeenen, hahah, der mit den Plattbeenen!« watschelte er, rascher als man's ihm zugetraut hätte, vorn an seinen Zaun, raffte wild fluchend eine Handvoll Erde auf und schleuderte sie nach den vorüberraschelnden Weiberröcken.
Mit einem spöttischen Knicks warf Fräulein Elsa dem Manne, der mit eingeknickten Knieen dastand, mit einem verwirrten Ausdruck in den stieren Augen, eine Kußhand zu:
›O du mein Friederich,
Du bist so nett,
Und so adrett,
Und darum lieb ich dich,
O du mein Friederich.‹ –
Da stürzte der Butterhändler zurück in seine Laube und schmetterte die Tür hinter sich zu.
Gott sei Dank, daß Frida und ihr Bräutigam das nicht hatten mit ansehen müssen! Jetzt war es endlich drüben stiller geworden. Arthur berichtete: jetzt hatten die Fräuleins die feinen Kleider ausgezogen, in den alten zerrissenen Unterröcken und in Nachtjacken schlampten sie zum Pfuhl und holten Wasser: die Liebhaber hatten sich's auch bequem gemacht, in Hemdärmeln lungerten sie vor der Tür.
Mine fand kein befreiendes Lachen wie Arthur und Max. Voller Ungeduld wartete sie auf ihre Frida. Es war schon spät. Frida sollte dann gleich mit Max nach Hause fahren – wenn sie doch kämen!
Zehnmal war die Mutter schon vor die Laube gegangen und hatte Ausschau gehalten. Man konnte bereits nichts mehr sehen. Es war zu merken, daß der Sommer zu Ende ging, es wurde viel zeitiger dunkel, und wie nebelnde Gestalten kam's über die Heide. War das Frida oder war sie es nicht? Etwas schien sich zu nahen – war sie es? Die Mutter strengte die Augen an – jetzt bewegte sich etwas am Pfuhl! Nein, das war nicht Fridas weißes Kleid. »Geh doch Frida'n entgegen, Maxe,« bat sie den Sohn. »Sie wer'n sich doch nich verlaufen haben?« Man hörte ihrer Stimme die Unruhe an.
»Laß sie doch,« sagte Arthur und lächelte. »Der passiert nischt. Un übrigens is er doch ihr Bräutigam!«
Es war Mine merkwürdig: wie oft hatte sie schon auf Frida gewartet, aber nie war sie so unruhig gewesen wie heute.
»Lächerlich!« sagte Arthur.
Max war von der Laube weggeschlendert. Das war wirklich eine komische Idee von der Mutter: wo sollte er Frida denn jetzt suchen bei Nacht und Nebel? Die würde schon kommen! Aber dann verfinsterte das Mißtrauen, das schon dunkel den ganzen Nachmittag seine ohnehin schlechte Laune beschattet hatte, sein Gesicht. Es kam ihm alles so merkwürdig vor: wie konnte ein so junger Mensch schon eine solche Stellung haben? Wenn der nur nicht schwindelte! Hausdiener da war, wo er vorgab, Bureauchef zu sein. Arbeitsfäuste hatte der so gut wie er, wenn der sich auch Glacéhandschuh drüber zwängte. Aber sagen würde er nun vorderhand nichts mehr, sie hielten ihn ja doch bloß für dumm. Und überdies: was ging es ihn an, wenn Frida zufrieden war. Hatte er denn nicht genug mit sich selber zu tun!?
Max hatte die schwarze Anna nicht wiedergesehn; ein paarmal war er seitdem noch draußen gewesen, sie aber schien verschwunden. Was würde er denn machen, wenn er sie heute träfe? Würde er sie ausschelten, schlagen, ihr die Kette vom Halse reißen? Das würde er sich doch noch überlegen.
Max Reschke setzte sich jenseits des Pfuhls an einer Sandwehe nieder. Wozu sollte er noch weiter in der Dunkelheit herumstolpern? Er streckte sich lang. Hier war er noch auf Rufweite von der Laube; wenn Frida gekommen war, würde er schon die Stimme der Mutter hören. Aber noch war es still. Bei Riedels jetzt auch; durch ihre halbangelehnte Tür warf die Hängelampe einen breiten, erleuchtenden Streifen bis hierher aufs Wasser. Eine wunschlose Stille war in der Nacht, als sei alles erfüllt. Ein traumhafter Friede. Kein Stern flinzelte am Himmelsgewölk, alles war in weiche, warme Dunkelheit eingewickelt. Kein Frosch quakte, keine Grille zirpte, alles Getier war schon zur Ruhe gegangen. Dem jungen Menschen, der regungslos dalag, kam fast der Schlaf.
Da rührte sich etwas im Wasser. Was war denn das? Ein Hund? Wie kam der hierher? Große Ringe zogen sich in der Mitte des Pfuhls, wo das tiefere Wasser war. Es schwamm da etwas, tauchte unter, plätscherte leise und hob jetzt den Kopf mitten in dem flutenden Schein, den das Licht aus der Laube warf, und der in der tiefen Dunkelheit doppelt hell und wie Mondlicht glänzte. Max hielt den Atem an, stemmte die Hand auf den Boden und richtete sich halb auf.
Ein Kopf wurde sichtbar mit langen Haaren. Jetzt zeigte sich auch das Gesicht, die weißen Augäpfel glitzerten und die weißen Zähne.
Max saß ganz starr: wer war das? Wer war das?!
Sie hob die Arme, als wollte sie winken, sie schüttelte den Kopf – wie Perlen sprühten blinkende Tropfen – sie hob den Oberkörper heraus aus dem Wasser. Jetzt war sie ganz deutlich sichtbar.
Max sprangen die Augen fast aus den Höhlen, er spähte, er lauschte, den Hals vorgestreckt lauerte er angestrengt: sollte er hin, sie packen? Er konnte sich nicht rühren, er war wie gelähmt. Wie verzaubert starrte er auf den schimmernden Körper im schwarzen Pfuhl.
»Maxe, wo bist du?« Das war der Mutter Stimme. »Maxe, Frida is hier! Maxe, Maxe!« Sie riefen alle nach ihm.
Blitzschnell hatte sich der schimmernde Leib geduckt, war untergetaucht, die Erscheinung verschwunden. Jetzt erlosch auch die Lampe in der Riedelschen Laube, nichts war mehr zu sehen. Lautlos lag der schlammige Pfuhl, nicht das leiseste Plätschern verriet, daß jemand darin badete.
Hatte er sich getäuscht, die Anna zu sehen vermeint in einem Traum?! Die Hände vorgestreckt wie ein Blinder, der sich zu stoßen fürchtet, tappte Max durch tiefe Dunkelheit zur Laube hin.
Frida war zurückgekommen. Wo war denn der Bräutigam? Herr Albrecht hatte sein Rad am Waldrand versteckt gehabt – im tiefen Sand der Heide konnte er nicht fahren – es war so schnell dunkel geworden, daß er schon fortgeradelt war, er hatte es ja noch so weit nach Tegel.
»Na, wie ich das finde!« Reschke schüttelte den Kopf. »Er hätte dich doch mindestens bis hierher bringen können, wenn nich bis nach der Bahn. Habt ihr euch etwa schon gezankt?«
»Gott bewahre!« Frida schüttelte verneinend den Kopf. Ihre Augen flackerten wie zwei Kerzen, die ein stürmischer Wind auslöschen will. Hastig atmend lehnte sie sich gegen die Laubenwand, dunkelrot waren ihre Wangen.
»Was biste heiß! Biste denn so gelaufen?«
Verlegen wich Frida der Mutter Hand aus, die ihre Wange befühlen wollte. Sie drängte zum Nachhausegehen.
Die Eltern wollten heute nacht hier draußen bleiben. »Es is vielleicht das letztemal for dies Jahr!« sagte Mine wie zur Entschuldigung. »Es is vorbei mit 'm Sommer, 's beste dervon is hin!«
»Gute Nacht, Mutter!« Fridas Augen schwammen. Ihre Stimme zitterte, und die Hand, die sie der Mutter reichte, zitterte auch. In Hast zog sie den Bruder mit sich fort.
»Die ist nich schlecht verliebt,« sagte lächelnd der Vater. »Na ja, lange genug hat's gedauert, nu brennt sie aber auch lichterloh!« Er amüsierte sich; pfeifend und gut gelaunt suchte er das Lager auf, er war so recht wohlig müde. Das wollte er aber nun mal genießen, diese schöne Nacht nach dem schönen Tag.
Mine konnte nicht schlafen. Sie begleitete in Gedanken die Kinder auf dem Nachhauseweg. Nun waren sie da in Berlin – jetzt in der Novalisstraße – jetzt stand Frida in der Stube und zog sich aus – Max hatte das Bett in der Küche – jetzt sah sich Frida im Spiegel und lachte ihr eigenes Bild an: was war sie doch heute so glücklich! Oder war sie es nicht? Sie war so merkwürdig gewesen heut abend – warum?!
»Lieg stille, Alte!« Arthur gab ihr einen Rippenstoß. »Du störst einen ja!«
Da ließ sie es sein mit der Unruhe; ihre Hände auf der Brust faltend, lag sie ganz still. Und dann kam auch ihr der Schlaf.