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An demselben dunklen Abend, an dem Albert mit der schwarzen Anna auf dem Felde zusammentraf, war auch Frida Reschke draußen. Als sie heute bei einer Kundin Maschine nähte, wurde ihr das Treten auf einmal so sauer, die Maschine stand still. Stöhnend die Arme auf die Maschine stützend und das Gesicht in den Händen verbergend, verharrte sie regungslos. Was sie seit Monaten schon wußte, was sie aber immer und immer wieder mit einer Energie, die nur die höchste Verzweiflung gibt, von sich gewiesen hatte – ach, es war ja nur ein wüster Traum, eine Einbildung, es war nicht wahr, nein, nein, es war ja nicht wahr! – das stürzte jetzt auf einmal, ohne jede äußere Veranlassung, mit solchem Gewicht über sie her, daß sie gelähmt saß. Jetzt konnte sie nicht mehr. Sie konnte nicht mehr arbeiten; sie konnte nicht mehr denken. Sie konnte sich nicht rühren.
Viertelstunde auf Viertelstunde verrann, noch immer saß sie unbeweglich.
Als die Dame die Nähstube betrat, erschrak sie über ihre Näherin. Warum saß die Reschke denn so da? Ihr aufmerksamer Blick haftete auf der Gestalt des Mädchens. Merkwürdig hatte die Reschke schon lange ausgesehen – so verändert – aber heute?!
Nun berührte sie den Arm der Versunkenen. Frida hatte gar nicht die Eingetretene wahrgenommen. »Sie sollten sich lieber nicht so schnüren, Fräulein Reschke! Es ist nicht gut für Sie!«
Da fuhr Frida auf wie eine Wilde: was, was? Mit irren Augen stierte sie die Dame an, und dann fuhren ihre entsetzten Blicke an dieser vorbei, und dann, nach Minuten, wie jetzt erst zur Besinnung kommend, stammelte sie: »Ich muß nach Hause gehn. Verzeihen Sie. Mir ist nicht wohl!«
Und dann war sie durch die Straßen geirrt. Wo sie ging, das wußte sie nicht, planlos lief sie umher. Sonst hatte sie es immer zur Mutter nach Hause getrieben, in all ihrem Leid, in ihrer bangen Verzweiflung immer zu der. Aber jetzt –?! Jetzt mußte sie es der Mutter ja sagen – und nein, nein, das konnte sie nicht!
Es trieb sie nicht mehr nach Hause. Wie ein gejagtes Tier, das Unterschlupf sucht, rannte sie durch die Stadt. Sie wurde gestoßen, getreten, auf die Seite geschoben. Erst als sie nicht mehr laufen konnte, als ihre Brust keuchte und ein Flimmern vor ihren Augen war und ein Rauschen in ihren Ohren, als das Gefühl kam: jetzt wirst du ohnmächtig, jetzt stürzest du hin, ging sie langsamer.
Es war Mittag gewesen, als sie das Haus der Kundin verlassen hatte, jetzt ging es schon gegen die Dämmerung. Wo sollte sie hin, wo sollte sie hin?!
Aus Gewohnheit war sie zuletzt nach ihrer Straße gegangen, aber sie ging am Hause vorbei. Da oben saß eine, die hatte keine Ahnung, daß ihre Tochter hier unten ging, und wie ging! Frida hatte alle die Monate nicht geweint, die nagende Angst, den quälenden Jammer ganz trocken in sich verbissen, nun tröpfelten ihr ein paar Tränen.
Wo sollte sie hin, wo sollte sie hin?! Wie eine Betäubte wankte sie weiter. Da war der Bahnhof. Da hatte sie einmal ein Plakat gelesen: ›Mütter, eheliche und uneheliche, finden Rat und Hilfe in der Zentralauskunftsstelle … das Bureau arbeitet unentgeltlich und hat nur die Absicht, Unglücklichen, Hilflosen eine rettende Hand zu bieten.‹ – – –
Sie hatte es gelesen an einem hellen Tag, als sie hinausfuhren nach der Laube; gelesen, ganz gedankenlos, wie man eben so etwas liest.
Und noch ein anderes Plakat war da angeschlagen gewesen: von einem Wöchnerinnenheim, das Frauen und Mädchen jedes Standes aufnahm. – – –
Ob das noch da stand? Aber nein, das war ja beides nichts für sie – nein, nein! Das war nur für Gesunkene, für Gefallene. Noch fühlte sie sich erhaben über solche. Er war doch ihr Bräutigam gewesen! Daran klammerte sie sich wie an eine Entschuldigung. Aber ach, doch nur für einen einzigen Tag!
Und wie eine Welle, die so gewaltig ist, daß man in ihr ertrinkt, schlug die Scham über ihr zusammen. Die Augen zukneifend, stürmte sie in der Vorhalle an den Plakaten des Mutterschutzes und der Heilsarmee vorbei, sie stürzte zum Schalter: »Billett nach Hohenfelde.« Sie stolperte in den eben abfahrenden Zug.
Nun hatte sie wieder einen Gedanken, aber nur diesen einen, den einzigen: da war ein Pfuhl, der war schwarz wie Pech, der war die Zuflucht für sie. In Berlin fischten sie jeden und jede wieder heraus – aber wer suchte sie da?!
Sie wanderte dann dem einsamen Felde zu. Es sah sie niemand hier gehen. Sie dachte nicht an die Mutter mehr – was ging sie noch Mutter und Vater an? Mochten die weinen! Sie, sie war viel unglücklicher, viel bedauernswerter! Die Tochter dachte jetzt nur an sich Mit dem ganzen Egoismus der Jugend nur an sich, nur an ihr Leid, das war so groß, wie es kein größeres in der Welt gibt. Nie war jemand in seinem Leben so betrogen worden, so belogen!
Die Milde, mit der Frida anfänglich des Treulosen gedacht hatte, war jetzt verschwunden, übergegangen in Abscheu, ja, in Haß: mochte ihr Tod über ihn kommen, ihm das vergolten werden, was er ihr angetan hatte!
Die Fäuste in den Falten ihres Kleides geballt, schritt Frida mit hängenden Armen schnell vorwärts. Jetzt, im Angesicht des Todes, wußte sie nichts von Liebe mehr; hart, unerbittlich stand der ja vor ihr, sie kam ihm näher und näher schon – sie war jetzt auch hart, unerbittlich.
Auf ihr Gesicht, das wie Stein war, schien fahl der Mond. Und fahl schien er auch auf den Tümpel, er erhellte ihn nicht.
Oh, oh, wie war das Wasser so schwarz heute, schwärzer denn je, oh, wie grausig schwarz! Frida stand davor und schauderte. Sie hob den Fuß, sie wollte hineintreten, hineinplumpen wie ein Stein, der gleich bis auf den Grund sinkt, da hörte sie etwas leise jammern. Rasch zog sie ihren Fuß zurück. Da unten, da unten, da weinte etwas! Wie hatte das kleine Mädchen doch gesagt, damals als sie zum ersten Male hier stand? – ›Wenn das so klingt, als weinte was, als riefe was, dann sind's die kleinen, die kleinen‹ – – – und die Bröse war gekommen, einen Sack auf dem Rücken – ›da trägt die se rein nach 'm Pfuhl‹ – – – o Gott, die Bröse?!
Das alte Hexengesicht stand plötzlich vor Frida. ›Sie werden mich auch mal besuchen, Fräulein,‹ hatte die Bröse gesagt, und so boshaft gegrinst dabei. Die Bröse, die Bröse!
»Gott, mein Gott!« Frida rang die Hände. Das Grauen, das sie damals vor der Alten empfunden hatte, war jetzt kein Grauen mehr, es war zum unwiderstehlichen Zwang geworden. Hin zu ihr – nein, nicht – doch, doch!
Mit beiden Händen faßte die Unglückliche nach ihrem Leibe – es pochte an. Nein, nein, es durfte nicht pochen! Sie stemmte wütend dagegen, in verzweifelter Empörung über ihr Geschick. Nein, sie wollte nicht so gedemütigt dastehen, nein, sie wollte nicht mit hämischem Lächeln hinter sich flüstern lassen! Noch wußte keiner darum, noch konnte sie die Schande ja loswerden. Brauchte nicht selber zu sterben darum. Oh, das Wasser war so schwarz, pfui, so ekelhaft! Ihr grauste so sehr davor.
Frida empfand ein ungeheures Mitleiden mit sich selber, und das übertäubte alles andere. Sie, sie sollte in dies schmutzige Wasser hinein? O nein, o nein, dann lieber zur Bröse! Hilfe, Rettung, Zuflucht – das Hexengesicht wandelte sich ihr zum Engelsantlitz. – – –
Ohne Überlegung rannte Frida auf das Lichtchen zu, das wie ein ferner Stern jenseits der Chaussee schimmerte. Hätte sie doch Flügel, die sie eilender trügen als ihre ermatteten Füße! Nur da, nur da, wo es so golden blinkte, wurde ihr Erlösung.
Sie rannte wie vorangepeitscht, sie hörte nicht das leise Jammern vom Pfuhl mehr; jetzt war es sogar dicht bei ihr. Der Nachtvogel, den sie dort aufgestört hatte, flatterte mit ihr; er streifte sie fast mit seinen Schwingen. Aber sie hatte kein Gehör, für sie gab es nur noch das Eine, das einzig Eine: hin zu jenem Licht! Und noch ohne Atem riß sie mit zitternder Hand an der rostigen Klingel. Die gab einen Ton von sich, der ging durch Mark und Bein.
Die Bröse fragte von innen: »Wer ist denn da?«
»Ach, machen Sie auf!« Die zitternde Stimme des Mädchens flehte: »Machen Sie mir doch auf, bitte, machen Sie auf!«
Da öffnete die Bröse.
* * *
Das Mädchen war in der Hütte verschwunden. Das Licht, das vorhin in der Küche gebrannt hatte, wanderte jetzt in die Hinterstube; man sah es nicht mehr von außen. Aber doch wurde das Feld in der Dunkelheit hellwach. Jetzt begann der Nachtwind sein Lied. Plötzlich heulte er auf. Und er schnob um das einsam stehende Haus, er fuhr an die Scheiben, daß sie klirrten. Er drückte gegen die morsche Tür, er riß polternd vom Dach ein paar Ziegel herunter und fauchte gegen Vorder- und Hinterwand. Er brauste von allen Seiten. Und im Brausen erwuchs etwas, das war stark wie Orgelton, das war eine gewaltig-mahnende Stimme. Das schauernde Feld duckte sich, es beugten sich am Waldrand die Bäume. Und die Stimme wurde immer gewaltiger, immer eindringlicher: hörte die da drinnen denn noch immer nicht, was Natur zu ihr sprach?!
Da – die Tür wurde aufgerissen, ins Freie stürzte Frida heraus. Der Sturm nahm sie gleich in Empfang, schlug ihr den flatternden Rock über den Kopf und trieb sie vor sich her, weg von dem Hause.
Sie lief, sie lief. Wie auf der Flucht. ›Frida, wo bist du?‹ – ›Frida, was wolltest du tun?‹ – – –
O Gott, wer rief da?!
Frida weinte jetzt laut. Schaudernd fühlte sie: was du tun wolltest, ist Sünde. Als das Weib so vor ihr stand, wie eine Hexe, nein, viel schlimmer noch: wie alles Böse, da hatte sie auf einmal wieder denken können. Und in jäher Erkenntnis sich aufraffend, hatte sie die Bröse von sich gestoßen, war zur Türe gestürzt und geflohen.
Es waren Tränen schamvoller Reue. Sie war ganz zerknirscht. Mühsam weiterwankend, oft stolpernd und mit Ächzen sich wieder aufraffend, wimmerte sie in sich hinein: was würde die Mutter sagen, ihre arme Mutter?! Soviel Not hatte die schon in ihrem Leben gehabt – nun ging wieder eine neue an. Oh, die Mutter, die arme Mutter!
Mit Zentnerschwere senkte sich plötzlich der Gedanke an die Mutter auf Frida. Sie konnte nicht weiter. Gott sei Dank, daß da die Laube war! Sie hätte sonst umsinken müssen auf freiem Felde. Und verschlossen war die nicht mehr, das Vorlegeschloß war abgerissen, im Wind klappte die Tür und schlug hin und her.
Frida tastete ins Dunkel hinein. Leer, alles leer. Aber da war noch ein wenig Stroh. Es war feucht und kalt, doch sie warf sich darauf nieder mit einem Erlösungsseufzer: hier konnte sie ausruhen. Sie mußte ja leben. Lebenbleiben wegen der Mutter und leben wegen – sie flüsterte es nicht mit bleichen Lippen, sie fürchtete sich, es zu denken. Aber sie dachte es doch: wegen des, das da kommen würde.
* * *
Während die Tochter Reschke draußen im Dunkeln umherirrte, saß die Mutter Reschke drinnen in ihrer Küche beim Strümpfestopfen. Aber die Arbeit kam nicht voran. Mine war immer etwas langsam mit der Nadel, heute ging es ihr noch weniger von der Hand. Sie war betrübt. Seit Arthur draußen die Laube nicht mehr hatte – das heißt sie hatten sie ja noch, aber er hatte ganz die Lust an ihr verloren – ging er wieder soviel ins Café Amor. Schon seit Ende des Sommers saß er immer drüben in der dunstigen Kneipe. Und er verleitete auch den Max dazu. Der war zum Glück nicht sehr dafür, ging nur selten mit und trug sein Geld lieber zur Mutter, als daß er's drüben ausgab und nichts davon hatte als einen schweren Kopf und verräucherte Kleider.
Mine seufzte: heute waren sie freilich beide drüben. Und noch nicht zurück.
Die Frau warf einen Blick auf die kleine Küchenuhr mit den langherunterhängenden, blankgeputzten Gewichten: es war ja auch noch nicht sehr spät, erst elf Uhr. Aber wo Frida blieb?
Oft schon hatte die Mutter auf die Tochter gewartet, so wie heute hatte sie aber noch nie geharrt. Was war denn nur mit der Frida?! Die war oft so seltsam, so verschlossen, gar nicht ihre alte, zärtliche Frida mehr – und so – so – Mine schüttelte den Kopf, sie wußte nicht, wie sie's benennen sollte: nun, eben so ganz anders.
Sie seufzte und blickte nachdenklich in ihren Schoß. »Wenn die Kinder klein sein, treten se einem auf'n Schoß – wenn die Kinder groß sein, treten se einem aufs Herze.« Sie sprach es leise vor sich hin und nickte dazu: ja, so hieß es in dem alten Spruch, der hatte wohl recht. Früher war die Frida lieb, ach so lieb gewesen, aber jetzt?!
Die Mutter wischte sich über die Augen; es tat ihr doch gar so arg weh, daß ihre Frida kein Vertrauen mehr zu ihr hatte. Dieses Herumgehen mit zusammengepreßtem Mund, dieses Wegblicken vor der Mutter Blick, dieses ganze Sich-in-sich-zurückziehen, das empfand Mine schmerzlicher, als wenn da Schlimmeres gewesen wäre. Es konnte ja gar nichts so schlimm sein, was sie ihrer Frida nicht verzeihen würde.
Eine große Zärtlichkeit war im Herzen der Mutter. Wenn jetzt die Frida nach Hause kam, so abgespannt, so blaß, dann würde sie sprechen: ›Endlich!‹ und ihr aus dem Mantel helfen und ihr die Pantoffeln holen, die warm standen unterm Ofen, und die Röhre aufmachen: ›Gucke, Fridchen, da sein 'n paar Bratäpfel für dich drin!‹ Warum lächelte die Frida doch nie, nie mehr?!
In einer plötzlichen Hast stand Mine auf, Schere und Stopfei fielen klappernd zu Boden, sie ließ sie liegen. Von einer schweren inneren Unruhe getrieben, ging sie in der engen Küche hin und her, faßte bald dieses an, bald jenes. Es konnte doch nicht bloß die Enttäuschung über den Bräutigam sein?! Dazu war Frida doch zu stolz, die hängte ihr Herz nicht mehr an einen Lumpen. Deswegen hätte sie schon wieder mal lachen können.
Die Uhr schlug halb zwölf. Es kraspelte etwas auf der Treppe. Mine machte schnell die Tür auf: »Frida?!«
Es war nur die Riedel, die trug ihr Wachszündhölzchen vor sich her. Und hinter ihr kam Irene. Die Kleine hielt ihr Mäntelchen fröstelnd eng zusammen, ihre Füße stolperten müde, unter ihren langhängenden blonden Locken hervor blinzelte sie abgespannt. Als sie Mine erkannte, lächelte sie matt.
»Jroßartig,« sagte die Riedel. »Ick sage Ihnen, Reschken, jroßartig! Det Kind hat jemimt bei die Feerie wie 'n Engel! Von die janzen Kinder war keene so schön. Die Leute kuckten ooch alle nach sie – nich wahr, mein Engel?«
»Ich bin sehr müde,« sagte Irene leise.
Die Mutter schob sie vor sich her in den Kücheneingang: »Denn man fix, fix, morjen wird's wieder so spät!«
Es wurde alle Abend so spät. Mine war jetzt ein wenig abgezogen, sie dachte nun an Irene Riedel. Die ging nicht mehr auf die Ballettschule, sie war nun, seit sie wieder gesund war, schon ›ankaschiert‹ an einem Zirkus. Wenn es da mit der Reiterei alle war, spielten sie zum Schluß noch ein Stück, immer dasselbe Stück, schon seit Weihnachten, darin kroch die Irene aus einer Blume und flog dann als Elfe.
»Det Leben kost't zu ville Jeld, die muß nu ooch wat verdienen!« sagte die Riedel. Und Irene war jetzt ihr bestes Kind; auch bei weitem das größte Talent, die beiden Großen kamen dagegen gar nicht mehr an. ›Meine Jüngste‹ war ihr zweites Wort – die Jüngste, der kommende Stern.
Aber nicht lange weilten Mines Gedanken bei Irene Riedel; sie flogen schon wieder zu Frida zurück. Warum kam sie denn nicht? So spät war sie noch niemals nach Hause gekommen. Da war etwas passiert!
Schon riß Mine ihr Umschlagetuch vom Nagel, sie hatte auf einmal das Gefühl, als müßte sie schnell gehen, schnell, und nach Frida sehen – da hörte sie einen Tritt auf der Treppe.
Langsam kam es die Stufen herauf. Und nun tastete es an der Tür. Es pochte nicht an, es suchte unsicher. Mine riß die Tür auf: war das Frida?
Sie war es. Totenbleich kam sie in die Küche gewankt.
»Was is dir?« Die Mutter schrie vor Schrecken laut auf. Wie sah das Mädchen aus? Die Rocksäume naß, das Kleid beschmutzt von oben bis unten, das zerzauste Haar zottelte ihr ins Gesicht; der Hut saß ganz schief gerutscht, am Mantel hingen Strohhalme. »Wie siehste aus? Was is dir? Herre im Himmel, was is dir?« Die Mutter streckte die Arme aus: fiel Frida um?
Aber Frida blieb stehen. Sie lehnte sich nur mit dem Rücken gegen die Küchentür, und die Hände vor ihren Leib haltend und ineinanderkrampfend, flüsterte sie ganz tonlos: »Mutter!« Und dann, sich zusammennehmend und wie mit einem letzten Entschluß, stieß sie es heraus, laut, hart, ohne Umschweife: »Ich krieg ein Kind!«
Mit düsteren Augen starrte sie dann geradeaus; alles Weiche, alles Jugendliche war aus ihrem Gesicht geschwunden. Das Wort war gefallen, das Schreckliche gesagt. Sie sagte nichts mehr: nun wußte die da es ja!
Mine sagte kein Wort. Sie hatte hinter sich gefaßt, nach der Stuhllehne gesucht, als müsse sie sich daran halten.
Ein Kind! Das hatte laut gehallt an die engen vier Wände. Nun war es schauerlich still.
Frida stand noch immer an die Küchentür gelehnt: so konnte sie ja gleich wieder umdrehen, hinausgehen, hin, woher sie gekommen war. Es konnte ja sein, daß die Mutter sie nicht mehr haben wollte. Warum sagte die nichts? Warum fuhr die nicht los? Warum schalt die nicht aus sie ein, packte sie an und schüttelte sie?! Fridas verklammte Hand tappte nach der Türklinke; aber sie zögerte doch noch einen Augenblick: mußte sie denn wirklich gehen?
Da sagte die Mutter ruhig, und man merkte es nur dem ein wenig zittrigen Tone an, daß es in ihr so ruhig nicht war: »Komm, Friedchen, nu zieh dir erst mal aus. Hier haste die Pantoffeln. Herre im Himmel, du tust ja ganz naß sein! Und dann leg dir ins Bette. Ich setz mer bei dir hin. Un denne sag mer, was du zu sagen hast!«
Sie wendete sich einen Augenblick ab; die Tochter durfte den angstvollen Jammer nicht sehen, der ihr Gesicht verzerrte. »Der liebe Gott wird uns nich verlassen. Du bist ja kein schlechtes Mädel nich.« Die Tochter war zusammengezuckt. »Nee, mein Fridchen, das biste nich!«
Das traf tiefer, als wenn die Mutter getobt und geschlagen hätte. Frida schluchzte laut auf. In einer gewaltigen Erschütterung fiel sie vor der Mutter nieder auf die Knie. Das Herz erbebte ihr in Liebe und Reue und Dankbarkeit. »Mutter, Mutter, kannst du mir verzeihen?«
Da senkte Mine den Kopf, beugte ihn tiefer und tiefer, bis daß ihre Stirn auf dem Scheitel der Knienden lag. Und schamhaft leise, und doch mit einer Opferfreudigkeit, die sich nicht scheut, sich selber preiszugeben, flüsterte sie ins Haar der Tochter hinein: »Meinste, dir alleine tut es so gehn? Es tut vielen so gehn, und – mir –!« Nun wollte ihr doch die Stimme versagen. Sie hob ihre Stirn für einen Augenblick, sie holte tief Atem, aber dann legte sich's wieder warm auf der Tochter Scheitel. Und wie eine Tröstung erklang es: »Mir – deiner Mutter – is es auch so ergangen!«