Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In dieser Woche sausten die ersten Frühlingsstürme. Herr Reschke las in der Zeitung von gewaltigen Stürmen auf dem Ozean, er las es vor mit großem Behagen. Da war ein Riesenschiff untergegangen mit Mann und Maus, auf der Fahrt nach Amerika, von einem treibenden Eisberg mitten durchgeschnitten worden. Und ein Kohlenkutter war auf die Klippen bei England geraten, die Mannschaft hatte geschrieen, selbst durch das laute Toben des Sturms hatte man's gehört, und Notsignale hatten sie gegeben über Notsignale, aber die von der Küste hatten ihnen doch nicht beistehen können. Versoffen waren die Schiffer dicht beim Land.
O Gott, wer jetzt übers Meer fahren mußte! Mine faltete erschrocken die Hände. Sie hatte selber viel eigene Not, darum fühlte sie für die, die auch in Not waren.
In der Novalisstraße merkte man nicht viel von den Stürmen, die dem stillen Frost des Winters folgen. Da klapperte es höchstens einmal in der Nacht, wenn von den alten Hinterhäusern ein paar Schiefer hinunterfegten und im engen Hof zerschellten; es pfiff nur etwas mehr als sonst um die Ecken, und vom freien Platz vorm Stettiner Bahnhof zog es. Draußen aber in der Gartenstadt war es schlimmer, und noch weiter draußen auf dem öden Felde, der Briese zu, konnte man sich kaum auf den Füßen halten vor gewaltigem Wehen. Da tobte es. Auf dem Meer konnte es nicht wilder zugehen. Da war Wasser, hier war Sand. Da waren Wellen, hier waren Sandwehen, und Tücken, die in der Tiefe lauern, gab es hier wie dort.
Heute stand der Vollmond über der Heide. Jetzt sah man erst ihre ganze Verlassenheit. Und verlassen schien auch das einsame Haus am Feldrand, so, als ob niemand darin wohne. Das weiße Mondlicht umwob es mit seltsam kaltem, wesenlosem Schein. Und doch war ein Wesen darin, das war warm, heiß, glühend.
An dem kleinen Fenster der Küche, darin ihr erbärmliches Bett – ein Strohsack mit einer Decke – in einem Winkel lag, stand die schwarze Anna. Sie stand da im bloßen Hemd. Aber ihre nackten Füße auf dem kalten Estrich froren nicht. Jetzt war die richtige Zeit! Die Uhr in der Bröse Stube hatte elf geschlagen, das Husten der Alten, die zu Bette lag, hörte man nicht mehr, die war eingeschlafen, – jetzt waren sie und der Vollmond allein.
Nun konnte es anfangen! Anna öffnete leise das blinde Fensterchen, der Vollmond strömte heller herein.
Die Fäden hatte sie schon aus dem Hemd gezogen; das war gar nicht so leicht gegangen, die Leinwand, wenn sie auch schon verbraucht war, war grob und hielt noch fest.
»Sieben Fäden vom Hemd!« Sie murmelte es im Nachzählen.
Und dann griff sie mit rücksichtsloser Hand in ihr gelöstes Haar. Sie riß – ha, da waren die sieben Haare ja schon! Schwarze, lange, starkdrähtige Haare. Sie knüpfte sie mit den Fäden der Leinwand zusammen. Und nun, das eine Ende zwischen den Zähnen haltend, drehten ihre Finger ein Schnürchen. Das wurde nur fein, ganz dünn und fein; aber doch stark – oh, sehr stark. Sie probierte es. Das riß keiner durch.
Und das Zauberseil, mit dem man den Geliebten für alle Ewigkeit bindet, triumphierend in die Höhe haltend, begann sie, von Sehnsucht erfüllt, den monotonen Singsang, der ihr den Geliebten herbeirief, ihren Hübschen, ihren Feinen.
Sie stand mitten im geisterhaften Glanz des vollen Mondes, ganz umflutet von reinem Licht, selber wie geisterhaft, weiß und leuchtend. Aus Schmutz und Alltäglichkeit gehoben von Überirdischem.
* * *
Auch in den Kieferngrund leuchtete der Vollmond. Es war schon spät Abend, aber Hippelt war noch nicht zu Bette gegangen. Es ging ihm besser seit einigen Wochen, der Fingerhutsaft der alten Bröse war gar nicht so übel gewesen, und das Beste daran war, er hatte nicht viel gekostet; sie hatte ihm keinen hohen Preis angerechnet für die Mixtur. Darum kaufte er ihr aber ihr Haus doch nicht ab, sie und die alte Baracke war ihm ja jetzt nicht mehr im Wege. Leider nicht! Wenn er daran dachte, krampfte sich ihm doch noch immer das Herz zusammen, und er fühlte wieder das starke Klopfen. Heute war er aber vergnügt. Der Bernhard war doch so übel nicht; der hatte ihm vor vier Wochen einen Käufer angeschleppt für eines der Grundstücke, die er, links von sich, hier in der Straße besaß. Und acht Tage darauf wieder einen, und vorgestern den dritten. Es schien, als ob der Kieferngrund es den Leuten jetzt angetan hätte. Die wollten bauen, sowie es Frühling war. Die paar sonnigen Mittage und mal ein bißchen linde Luft hatten ihnen Lust und Mut gemacht. Recht so, recht so!
Hippelt rieb sich die Hände: nur auf eigenem Grund und Boden fühlt sich der Mensch glücklich. Wenn der Bernhard auch gut bei der Sache verdient haben mochte, er selber hatte doch auch ein gutes Geschäft gemacht. Die Grundstücke hatte er dazumal sozusagen für ein Butterbrot bekommen; nun nach den paar Jahren waren sie schon gestiegen. Bedeutend gestiegen. Das war wenigstens ein kleiner Ausgleich für die verfehlte Spekulation mit dem vermaledeiten Feld draußen.
Ein Zug von Mißmut vergrämelte das Gesicht des Alten, aber gleich darauf wurde es wieder glatter. Er schmunzelte: solvente Käufer. Solide Bürger, keine Krösusse, mehr oder weniger kleine Rentiers, aber Leute, die doch anständig bezahlten, und hier draußen in aller Beschaulichkeit noch was von ihrem Leben haben wollten.
Heute hatte Hippelt die verschiedenen Kaufsummen erhalten, in bar und in Papieren. Er hatte sich alles hierher anweisen lassen. Es war ihm ein schönes Gefühl, auch einmal hier im Geldschrank etwas von Wert zu haben, nicht bloß Lappalien. Es wäre vielleicht besser, sicherer, alles mit in die Stadt zu nehmen – er würde das auch demnächst tun – vorerst wollte er sich aber noch ein bißchen hier daran erfreuen! Und in der Tasche seines mausgrauen Schlafrocks den Schlüssel befühlend, den er heute immer bei sich trug, zog er ihn hervor und begann das umständliche Aufschließen.
Das Wort ›Glück‹ mußte zusammengesetzt werden aus den verschiedenen Gliedern des Schlüssels – das war seine Erfindung – sonst ging das Schloß nicht auf. Nun war geöffnet.
Hippelt zog einen Stuhl heran und setzte sich vor den offenen Schrank. Da lagen sie! Papiere, wertvolle Papiere, Kassenscheine. Und daneben auch blankes Geld. Er hatte es sich von der Bank so auszahlen lassen: Gold in Rollen. Und er öffnete ein Röllchen, in reines weißes Papier sorgsam gepackt von geübter Hand, und zählte ein Zwanzigmarkstück nach dem andern vor sich hin. Wie das blinkte! So neu, eben geprägt! Das war noch nicht durch viele Hände gegangen. Er hatte seine Freude daran. Was gab es Schöneres, als hier draußen in aller Stille zu sitzen und das neue Geld durch die Finger gleiten zu lassen?!
Hippelt fühlte sich sehr wohl heute abend. Niemand störte ihn. Auf der Straße war es totenstill, der Vorgarten trennte ihn weit von ihr, und im Hintergarten schweifte Pluto, der ließ niemanden in des Hauses Nähe. Sophie schlief längst; überdies hatte die einen Schlaf, daß man mit Kanonen schießen könnte, und sie würde nicht aufwachen. Der Diener schlief auch – Hippelt fuhr plötzlich herum nach der Tür, er glaubte ein leises Geräusch gehört zu haben.
Es war Täuschung gewesen. Recht unangenehm war es, daß Albert heute gesehen hatte, wie er das Geld in Empfang nahm! Daß der Mensch auch seine Augen überall haben mußte! Er hatte ihn zwar sofort weggeschickt, aber – man kann eben vor dem eigenen Diener nichts geheimhalten.
Hippelt sah wieder nach der Tür hin: er hatte sie doch zugeschlossen? Er traute sich selber nicht, er war jetzt oft so vergeßlich, besonders wenn ihn eine Sache so ganz beschäftigte. Er stand auf, um nachzusehen – zuschließen, zuschließen! – da wurde die Klinke von außen vorsichtig niedergedrückt.
»Wer ist denn da?« Hippelt rief es aus gepreßter Kehle. Er warf sich gegen die Tür. Diese war jetzt spaltbreit geöffnet, ein Fuß setzte sich dazwischen, eine Hand streckte sich durch.
»Wer ist da? Nein, nein!« Hippelt bemühte sich, die Tür zuzudrücken, aber seine schwache Kraft war leicht überwunden.
Albert stand im Zimmer. Und mit einer Stimme, die heiser war vor Erregung, stammelte er: »Schreien Sie doch nich so, Herr Hippelt!«
»Was willst du, was willst du?« Hippelt war zurückgewichen und deckte den offenen Geldschrank mit seinem Rücken. Warum sah ihn der, der da, so wild, so wirr, so entsetzlich an?!
Aus des Burschen Augen loderte die Habgier. Jetzt verbarg er sie nicht mehr, jetzt zeigte er sie offen.
»Raus,« stotterte Hippelt. »Raus mit dir! Ich will jetzt schlafen!«
»Das können Sie ja. Aber erst mal – erlauben Sie!« Und Albert schob den Zitternden beiseite und trat mit ungeheurer Frechheit an den Geldschrank heran. Er war jetzt ganz kalt. Seine Stimme war klar geworden, er stammelte nicht mehr. »Sie haben da ja so viel Geld. Was woll'n Sie denn mit alldem? Ich kann's besser gebrauchen!« Er griff hinein.
»Dieb!« Der Geizhals kreischte laut auf. Sein Geld, sein Geld! Nun hatte ihn die zitternde Furcht verlassen, er stürzte sich auf den Burschen, er packte ihn an: »Du Dieb! Halunke! Ich zeige dich an, ich –«
Er konnte nicht weiterschreien, des Dieners Hand legte sich ihm um die Gurgel: »Sein Sie stille!« Der Griff wurde fester.
Oh, und die Blicke! Mit vorquellenden Augen stierte Hippelt in das drohende Gesicht. Er gurgelte, er wollte sprechen, – da lockerte sich der Griff etwas, nun konnte er ächzen: »Albert – du wirst doch nicht – hab ich dir nicht immer gegeben? Albert – Hilfe – Albert!«
Der Bursche war sehr finster. »Schrei'n Sie man, es hört Sie doch keiner. Wollen Sie mir denn gutwillig zehntausend Mark geben, dann will ich gehen – nee, fünfzehntausend! Sie sehen mich dann nich wieder. Ich mache fort. Na los, man los!« Er stampfte mit dem Fuß auf.
»Laß mich erst los!« Die Hand sank. Da schlug Hippelt mit verzweifeltem Entschluß seinen Geldschrank zu und warf sich davor: »Keinen Pfennig!« Der Geizhals wurde zum Mutigen. Er bäumte sich auf wie im Krampf, seine Augen verdrehten sich. »Nie, nie – mein Geld ist es, mein, mein!« Er klammerte sich mit beiden Armen an seinen Geldschrank. Der andere riß ihn los.
Und nun begann ein Ringen. Die Lampe stürzte um und erlosch. Aber der Mond schien herein, es war fast taghell im Zimmer.
Mann gegen Mann. Der eine suchte den andern vom Schrank fortzustoßen, der schwache Alte entwickelte Riesenkräfte. Sie keuchten beide, stumm, erbittert, in schäumender Wut wie ineinander verbissene Hunde.
Der Junge bekam doch die Oberhand, der Alte taumelte rücklings zu Boden. Da schrie er auf zu dem, der über ihm stand mit flackernden Augen, die Hand mörderisch erhoben: »Tu mir nichts! Albert, ich – du –!« Hippelts Stimme brach. Das war nicht Todesfurcht jetzt, das war die Furcht vor dem Entsetzlichsten, was geschehen kann. »Albert, tu mir nichts, ich bin ja – dein Vater!«
Also Wahrheit war's doch, was die Mutter gesagt hatte: ›Dein Vater ist ein reicher Herr‹ –?! Was die Mutter gesagt hatte, was er selber geahnt hatte, worauf er gepocht hatte und was er doch nicht ganz geglaubt hatte, nun war es doch wahr – Vater?! Albert schauderte zurück.
Und sich zu Hippelt niederbeugend, der sich halb aufgerichtet hatte vom Boden, die eine Hand aufstützte, die andere abwehrend erhoben hielt, keuchte Albert: »Das ist dein Glück!« Und dann stürzte er zur Tür. Sie schlug hinter ihm zu. Gleich darauf heulte draußen der Hund, das Heulen ging über in langanhaltendes Winseln.
War er fort, war er wirklich fort?! Hippelt wollte sich vollends aufrichten, er konnte nicht. »Hilfe, zu Hilfe!« Hörte ihn denn keiner?
Ein Krampf setzte ein, so furchtbar, so unerhört schmerzhaft, wie Hippelt ähnlich stark noch keinen gehabt hatte. Das Herz schwoll ihm zu einem ungeheuern belastenden Etwas. Es wuchs ihm bis zum Halse herauf, es drückte ihm allen Atem aus. Es machte in rasendem Tempo: tack, tack. Und dann krampfte es sich wieder ganz klein zusammen, das ›Tack, tack‹ setzte aus.
Todeskälte kroch über den Einsamen hin – war das sein Ende?! Das Entsetzen davor nahm ihm das Bewußtsein. – – –
Als Hippelt aus seiner Ohnmacht erwachte, war er noch immer allein. Aber der Mond schien nicht mehr; ein anderes Schimmern leuchtete herein. Da rutschte er auf allen vieren zum Fenster hin. So hoch, um es zu öffnen, vermochte er nicht zu reichen, aber in die unterste Scheibe traf seine Faust. Glas splitterte, Blut floß, und sein Schrei gellte hinaus in den dämmernden Morgen. –
War das ein Hilferuf?! Doktor Hirsekorn erwachte plötzlich: hatte er recht gehört? Er setzte sich im Bett auf, sein Ohr war noch scharf: das kam von drüben, von Hippelts her! Und wie der Hund winselte! War da ein Unglück geschehen? Er hörte es jetzt ganz deutlich, dem unartikulierten Schrei waren Worte gefolgt. Es rief jemand um Hilfe.
Ohne zu überlegen, sprang Hirsekorn auf, er zog nur die nötigsten Kleider an – er hatte es noch so im Griff von der Zeit her, als man bei ihm die Nachtglocke zog, es ging alles sehr rasch – schon war er auf der Straße.
Er drückte auf die Schelle am Nachbareingang. Aber niemand schien zu hören. Nur der Hund schnüffelte von innen nach ihm; der kannte ihn. Da sah er, daß die hochummauerte Straßenpforte nur angelehnt war, und offen stand auch die innere Haustür, zurückgelegt bis in ihre Angeln.
Der Hund folgte ihm auf den Fersen, mit beständigem Winseln schnoberte er hinter ihm drein. Das leere Dunkel des nächtlichen Hausflurs gähnte dem Doktor entgegen. Da fiel von oben ein Schein herab: das Morgenrot fing an, rosig durchs obere Gangfenster zu leuchten.
Und nun sah er an die Treppe ein Wesen rutschen, das kroch auf allen vieren und winselte herunter: »Hilfe, – ach, Hilfe – ich sterbe sonst!«
* * *
Es war dem Doktor nicht schwer geworden, den Nachbar wieder ins Bett zu schleppen; das Gewicht dieses ausgemergelten Körpers trug er noch. Als Hippelt lag, die schneebleiche Nase spitz aus den Kissen ragend, fühlte er ihm den Puls. Er war kaum mehr zu fühlen. Und die eingesunkene Brust, von der der Doktor das zerrissene Hemd schob, gab dem lauschenden Ohr kaum etwas zu hören. Die blutende, vom Glas zerschnittene Hand machte dem Arzt die geringste Sorge, er umwand sie einstweilen mit dem Handtuch. Aber war denn kein Mensch hier, der sich um den Kranken kümmerte?
Hirsekorn pochte an die Tür auf der anderen Seite des Ganges; er mußte schon ordentlich trommeln mit der ganzen Faust, bis die Stimme der Frau drinnen antwortete: »Na, was ist denn los?«
»Herr Hippelt ist erkrankt, stehen Sie auf! Schnell!«
Da kam denn Frau Hippelt. Als sie ihren Mann so daliegen sah, erhob sie ein lautes Sich-beklagen: das hatte sie ja immer gesagt, Hippelt war nicht recht wohl, und daß er sich einen Doktor kommen lassen sollte, aber er hatte es ja nicht gewollt. »Auf die paar Mark wäre es am Ende auch nich angekommen!« Sie drängte sich an den hilfsbereiten Nachbar: »Glauben Sie, daß Hippelt jetzt sterben wird?«
Hirsekorn zuckte die Achseln. Das Weib, das, die verschlafenen Augen mühselig aufreißend, ihn neugierig anblinzelte, war ihm zu unangenehm; hier fand er kein Mut-zusprechendes Wort. Aber es mußte jemand sofort hinübergehen und seine Hausapotheke holen.
»Albert! Albert!« Frau Hippelt schrie nach dem Diener. Hörte der Mensch denn gar nicht? Empört kam sie nach einigen Minuten zurück: natürlich, der Kerl war wieder nicht da. Der trieb sich viel zu viel herum. Gott sei Dank, daß bald das Frühjahr kam, sie kündigte ihm sicher zum ersten April. Es war nicht mehr auszuhalten mit ihm, er –
Der Doktor schnitt ihr die Rede ab. Er hatte gesehen, wie der Kranke zusammenzuckte, sich etwas zu sagen mühte, die umwickelte Hand abwehrend hob, die gesunkenen Lider halb öffnete. Ihm ward offensichtlich dies viele Reden zur Qual.
»Gehen Sie selber hinüber, Frau Hippelt!« Als sie Einwendungen machen wollte, sagte Hirsekorn streng: »Gehen Sie sofort. Fräulein Zimmer soll Ihnen meine Hausapotheke geben und meinen Verbandkasten. Gehen Sie, gehen Sie!« Er drängte sie hinaus. –
Der Doktor stand am Bett und hielt den Puls des scheinbar Eingeschlummerten. Da schlug dieser die Lider ganz auf. »Muß ich sterben?« Es lag eine ungeheure Angst in diesem Blick. Die Augen Hippelts bohrten sich förmlich in die des Arztes.
»Ich will nicht sterben! Ich sterbe nicht – und ich sterbe nicht!«
Es lag etwas Grausiges in dieser Hartnäckigkeit und zugleich etwas Mitleiderregendes. Wie konnte ein armseliger Mensch, so eine Handvoll, sich sträuben wollen?! Das war die Lebensgier des Geizhalses, der sich nicht trennen konnte von seinen Schätzen. Und doch beschwichtigte der Arzt: »Regen Sie sich nicht auf, Herr Hippelt, wer spricht denn von Sterben?! Etwas in acht werden Sie sich aber nehmen müssen, Ihr Herz ist schwach!«
»Danke,« murmelte Hippelt. Es flog wie der Schein eines Lächelns um seinen Mund. »Ich muß nicht sterben – nicht sterben.« Beruhigt schloß er die Lider. –
* * *
War das ein aufregender Morgen! Fräulein Zimmer war ganz außer sich, sie flog an allen Gliedern. Und von den beiden Dienstmädchen traute sich keines einen Augenblick allein zu bleiben. Erst diese Aufregung mit dem Nachbar drüben, der beinahe gestorben wäre am Herzkrampf, und dann dieses, dann dieses! Das war ja noch hundertmal schrecklicher!
Der Milchmann hatte die Schreckensgeschichte als erster hinterbracht. Er trug alle Morgen die Milch von Hohenfelde nach der Gartenstadt. Sonst kam er zu Hirsekorns um neun, heute erst gegen elf, er war überall so lange festgehalten worden. Er mußte ausführlich erzählen.
Zwei Frauen waren ermordet worden in dieser Nacht, in ihrem Häuschen an der Chaussee zwischen Hohenfelde und Briesewerder. Ein Bauer aus Briesewerder war hingekommen, vor der Frühkirche noch, um von der Bröse etwas zu holen für seine Kuh, die kalben sollte, und bei der es nicht recht voranging; der hatte Alarm geschlagen. Man hatte die Bröse gefunden vor ihrem Bett mit verzerrten Zügen. Ein Kampf mußte stattgefunden haben; die ganze Stube war um und um gewühlt, und das Stroh nebenan im Verschlag des Ziegenbocks war herausgerissen und überall herum verstreut. Daß die Alte sich tapfer gewehrt hatte, das sah man wohl. Ihr Ziegenbock mochte ihr beigestanden haben; man fand ihn bei ihr liegen wie einen Hund, der den toten Herrn noch schützen will. Ihm war nichts geschehen. Aber die Junge war auch erwürgt. In der Küche. Eine Schnur war um ihren Hals zusammengezogen: ein ganz feines Schnürchen, aus Haaren und groben Fäden zusammengedreht, aber es hatte gehalten wie das festeste Seil.
Anna Bröse lag auf dem Bett im Winkel, ganz friedlich. Als ob sie schliefe. Hier war keine Spur eines Kampfes zu sehen.