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Es war heute das erstemal, daß Doktor Hirsekorn seine Nachbarin, die Frau Rentier Hippelt, erblickte. Eine kleine vermiekerte Frau, die aussah wie eine, die nichts zu sagen hat. Aber darin hatte er sich doch getäuscht.
Brannte es drüben? Der Doktor schrak zusammen vor dem gellenden Weiberschrei. Auch Fräulein Zimmer stürzte ans Fenster. Drüben im Garten zwischen allen Bäumen durch, schlängelte sich, viele Meter lang, eine Wäscheleine. Wäsche hing daran.
Was für eine Menge Wäsche! Fräulein Zimmer staunte: und die Hippelt nahm keine Waschfrau dazu, nur der Albert mußte ihr helfen. Und jetzt ohrfeigte sie den Burschen noch fast. Mit erhobener Hand stand die kleine Frau vor dem großen Menschen. Er hatte die Wäscheleine nicht genug befestigt, sie lockerte sich unter der Last, ein paar Stücke schleppten am Boden.
Stillschweigend wand der Bursche das Seil wieder fester um den Kiefernast, nahm dann die beschmutzten Stücke auf und trug sie hinter seiner Herrin her ins Haus.
»Nun muß er sie noch mal waschen,« sagte die Zimmer. »Und sie sitzt auf dem Tisch in der Waschküche dabei und sieht zu, daß er nicht zuviel Seife verbraucht. Und räsoniert bei jedem bißchen, was er nimmt. Und nun geht das schon acht Tage so. Ich glaube, die sitzt noch da, wenn sie tot ist!«
»Woher wissen Sie das?« Doktor Hirsekorn sah sie an.
Da wurde sie rot. »Nun, von dem Albert. Der hat unseren Mädchen ordentlich graulich gemacht. Er sagt, die Hippelt lebt nicht mehr lange, die ißt sich nie satt, die trocknet ganz aus. Und dann sitzt sie als Gespenst auf dem Waschküchentisch, mitten im Brodem. Und wenn dann Herr Hippelt abends so lange das Gas noch brennt bei seinem Geldzählen, dann knattert sie immer in der Gasröhre und pustet und stöhnt: ›Brenn nicht so lang, brenn nicht so lang,‹ und puh – das Gas ist aus!«
»Fangen Sie mir doch nicht mit solchen Geschichten an!« Hirsekorn kannte die Gespensterfurcht seiner Hausdame; aber er mußte doch lächeln: hatte dieser Albert eine Phantasie! Der vertrieb sich die Langeweile und die Einsamkeit mit Märchenerzählen, Schnurren und Lügen.
Fräulein Zimmer und die Mädchen schworen auf Albert. Den Doktor interessierte der junge Mensch nicht, ebensowenig wie ihn dessen Herrschaft interessierte. Aber es stimmte, der schäbige Mann in dem Schlafrock, an dem kein Flicken zum andern paßte, war der Reichste hier in der Gartenstadt, zählte vielleicht auch unter die Reichsten Berlins. Warum war der nur hier herausgezogen? Gleichsam in ein Versteck? Und Hippelt lebte fast dürftig. Ein Ekel faßte Hirsekorn; ihm graute auch, aber nicht vor Alberts Gespenstern, ihm graute vor dieser Art Lebensführung.
Bei Hippelts gab es nicht alle Tage der Woche Fleisch. Heut saßen sie gerade bei einem Stück Hammelkeule, als Albert Herrn Bernhard meldete. Unwillig schob Hippelt den Braten zurück: »Tu ihn weg, Sophie!« Der Bernhard brauchte nicht zu sehen, daß er Braten aß.
Der Schieber trat ein; er entschuldigte sich schon außen an der Tür, daß er störe. Heute sah er feiner aus als im Café Amor, heute hatte er einen langen schwarzen Rock an, und der Überzieher war auch ganz anständig; einen Zylinder trug er in der Hand. Herr Bernhard wußte, was sich schickte; wenn er solch einen Besuch machte, zog er sich an wie zu einem Begräbnis.
»Nu?« fragte er, als Hippelt ihm die Hand gab. Er sah den reichen Mann halb unterwürfig, halb vertraulich an.
»Sophie, du kannst gehen,« sagte Hippelt. Die Frau verschwand; die beiden rückten sich näher. »Gestern wurden wir im Kontor unterbrochen,« sagte halblaut Herr Hippelt.
»I ja, durch den Herrn von der Kavallerie!« Bernhard lachte.
Hippelt strich sich das stoppelige Kinn. »Das sollte mir gerade einfallen: Wechsel prolongieren! Von der Terraingesellschaft war auch schon wieder einer bei mir – sind jetzt faule Zeiten – warum bauen die Kerls ins Gelache hinein. Ich lasse mich auf so was nicht ein. Hab mein Geld auch nicht auf der Straße gefunden.« Er wurde ganz heftig. »Klebt saurer Schweiß genug dran!«
»Jawohl,« sagte Bernhard, »Schweiß genug!«
»Immer solide,« fuhr Hippelt fort, ohne die Anzüglichkeit des andern zu beachten. Und dann faßte er Bernhard an der Rockklappe und zog ihn daran nach rechts und links. »Sie sind auch so einer, so 'n richtiger Schwindler. Haben Sie mir nicht vorgeschwindelt, bis diesen Herbst hätten Sie mir sämtliche Parzellen da draußen untergebracht?! Sie haben mich dazu beredet, mir das Land auf den Hals geladen und nun –«
»Hat's Ihnen denn viel gekostet?« unterbrach ihn der andere respektlos. »Sie haben's ja gekriegt für 'n Butterbrot. Großartiges Spekulationsterrain. Wird noch, wird sicher noch!«
»Ä was,« knurrte Hippelt, »wird noch!«
»Hätt ich doch nich gedacht, daß so 'n reicher Mann sich könnte so haben um 'n paar lumpige Zinsen!«
»Hätte ich mich nicht um 'n paar Mark in meinem Leben gehabt, wie ständ ich denn nun da?!« Herr Hippelt zog seinen geflickten Schlafrock fester um sich. »Hab keine Lust, einen Pfennig Zinsen zu verlieren. Auch daran nicht. Hören Sie, Bernhard? Aus und vorbei mit uns, aus und vorbei, wenn Sie nicht mehr vor sich bringen!«
»Nu, nu!« Bernhard legte beschwichtigend seine Hand auf den zerschlissenen Ärmel des Millionärs. »Nehmen Se zurück, was Se gesagt haben, Hippelt! Die Reschkes sind gut, ordentliche Leute – Spaß, Kleinigkeit! – die ziehen andere nach. Nu hab ich 'n Butterhändler aus der Koppenstraße. Und zum Frühjahr noch Nachbarn von Reschkes aus der Novalisstraße. Wenn wir nur erst die Bröse weg hätten, die Alte von dem Schäfer, die da hinten irgendwo wohnt. Gott soll hüten, die vertreibt einem ja die Kundschaft!«
»Faule Ausrede! Sie sind ein Schlemihl. Mit so 'nem alten Weib ist doch fertig zu werden!« Herr Hippelt machte einen Scherz: »Ziehn Sie ihr doch die Krawatte zu, ziehn Sie zu!«
Der andere lachte auf: »Wie heißt: zuziehn – kann ich ja nich, die verborgt lieber selber.«
»Verborgt selber?« Hippelt zog die Augenbrauen hoch. Dann stand er energisch auf und rief an der Tür: »Albert, rausholen! Ich esse nicht mehr. Kommen Sie, Bernhard, kommen Sie. Keine Fisematenten! Ich werde mal selber da nach dem Rechten sehn. Sophie!« Er schrie nach seiner Frau. »Stiefel! Hut! Rock! Stock!«
Die Frau kam aus der Küche gerannt, wo sie aufgepaßt hatte, daß Albert sich nichts vom Essen nahm. »Willste denn nicht erst fertig essen?«
»Geschäft geht vor.« Er fuhr in Stiefel und Rock und ging vor Bernhard her, eilig zur Haustür hinaus, die der Diener offen hielt. – – –
Nun war der Diener ganz allein mit der Frau im Haus. Die Hippelt war in der Speisekammer, da setzte sie den Braten weg. Sie trug auch Kartoffeln und Gemüse hinein, drehte dann den Schlüssel um und steckte ihn in ihre Tasche.
Der Bursche sah mit finsteren Blicken, wie wenig sie ihm auf den Teller getan hatte. »Und der Hund?« murmelte er.
»Der braucht heute nichts. Geben Sie ihm Wasser, brocken Sie von dem alten Brot 'rein. Morgen kriegt er dann Reste.«
Ja, wenn dann noch welche da waren! Der hungrige Mensch verzog den Mund in heimlichem Lachen, aber sein Blick blieb finster. Da ging sie nun, ein Mittagsschläfchen zu halten, das war das einzige, was sie sich gönnte! Jetzt würde er aber sich auch mal etwas gönnen.
Er wartete noch ein paar Minuten, bis oben im Haus die Tür zuklappte, dann holte er einen krummen Draht hinter dem Schranke hervor. Seinen Teller würdigte er keines Blickes. Geschickt steckte er den Draht ins Schlüsselloch, stocherte vorsichtig, drehte herum – schon war die Kammertür offen.
Gelassen trat er ein. Aber als er den Braten stehen sah – fast war der noch warm und der Saft lief herunter – faßte ihn die Gier. Er holte sich nicht einmal ein Messer, mit den Händen packte er den Braten an und hieb seine Zähne hinein und biß zu, daß es knirschte. Kartoffeln brauchte er nicht und auch kein Gemüse, er zerfleischte den Braten; bald war nichts von dem übrig, als nur der Knochen und ein paar Fetzchen daran.
Albert atmete tief: nun war er satt. Nach der gestillten Gier kam ihm jetzt die Besinnung. Schlau sah er sich um: halt, da, das Speisekammerfensterchen, das gab eine Ausrede! So war's am gescheitesten! Das Fensterchen war angelehnt, er öffnete es noch um ein Weniges weiter. Und dann ließ er ein paar Bröckchen vom Braten zur Erde fallen, auf dem Weg zum Fenster, tappte dann noch mit zusammengepreßten Fingerspitzen wie mit Katzenpfötchen in den Kartoffelbrei, verschleckerte ein wenig Milch, stieß ein Töpfchen um, und zog dann die Tür wieder zu.
Draußen winselte der Hund an seiner Kette, er hatte Hunger. Aber der Bursche brachte ihm nicht eingebrocktes Brot, sondern den eigenen Teller. Die große Zunge des Tieres leckte nur ein paarmal drüber hin, da war er schon leer. Und nun hob Albert den Teller hoch, hielt ihn wieder hin, hob ihn wieder hoch, und der Hund, doppelt gierig gemacht durch die wenigen Happen – den Essensgeruch noch in der Nase – schnappte danach und stieß verlangend ein Bellen aus. Er knurrte und fauchte, er kläffte, riß an der Kette, machte einen furchtbaren Lärm.
Rasch zog Albert sich in die Küche zurück, droben klappte schon eine Tür, die Hippelt rief die Treppe herunter: »Was 's denn los mit dem Hund? Sehn Sie doch nach, Albert.«
»Er muß was wittern, er is rein wie toll.«
»Machen Sie ihn doch los!«
»Ich trau mich nich!«
»Ach was!« Die Hippelt machte den Hund selber los, sie würde er schon nicht beißen. Er achtete auch gar nicht auf sie. Mit einem wilden Knurren jagte er ins Haus, in die Küche, und schob seine breite Nase mit gierigem Schnüffeln an die Ritze der Speisekammertür.
Die Frau gab ihm einen Tritt: »Weg da!«
Der Bursche flüsterte scheu: »Es ist jemand drin!«
»Da kann ja keiner rein!«
»Sagen Sie das nicht!« Albert blickte ganz starr. »Ich hör doch sich was bewegen.«
»Schließen Sie auf!«
»Sie haben ja zugeschlossen. Aber warten Sie man!« Albert stemmte die breiten Schultern gegen, er drückte scheinbar mit aller Gewalt – da – die Tür flog schon aus, er fiel förmlich mit ihr in die Kammer hinein.
Da war niemand.
»Sehen Sie, Sie dummer Mensch!« Aber gleich darauf stieß die Frau einen Jammerschrei aus: der Braten, der Braten! Da lag er am Boden, ganz abgenagt, und Pluto stürzte sich sofort auf den Rest. Er ließ den Knochen nicht fahren, sondern stellte die Vorderpfoten darauf und wies der Frau fletschend die Zähne.
»Wer hat das getan?« Als wäre ihr das größte Unglück geschehen, so schrie die Hippelt. »So ein Braten – drei Pfund – so ein großer Braten!«
Albert nickte nur: das hatte ihm schon geahnt. Als er gestern abend allein in der Küche gewesen war, ging es plötzlich wie ein Schatten zur Speisekammertür. »Die Tür war verschlossen, der Schatten aber ging durch die Tür.«
»Mir machen Sie nichts vor. Es gibt keine Schatten, die durch Türen gehen. Nur Diebe!« Die Hippelt sagte es scharf, mit Argwohn sah sie den Burschen an. »Ich werde es Herrn Hippelt sagen.«
Da bückte sich Albert und wies auf die Spuren am Boden: »Es war 'ne Katze. Gewiß drüben die von der Zimmer. Das olle Biest! Sehn Sie hier, ganz deutlich die Pfote im Kartoffelbrei. Und sehn Sie, Frau Hippelt, hier hat sie noch was verloren!«
Frau Hippelt schien noch immer nicht ganz überzeugt, aber sie sagte nichts mehr.
Mit einer Grimasse sah der Bursche ihr nach, als sie auf ihren ausgetretenen Pantoffeln wieder aus der Küche schlorrte. »Na warte, dir werd' ich mal!« Er flüsterte heiser vor Wut. Die wollte sich unterstehen und seine Geschichte nicht glauben?! So ein erbärmliches armseliges Weibsbild, nur eine Handvoll! Er setzte die Zähne aufeinander, daß seine Kinnbacken krachten, die Ader an seiner Schläfe trat schwellend heraus. Wie er die Frau haßte! Die war noch geiziger als der Alte!
Der Hund knurrte, Albert knurrte noch wilder: »Hungern läßt sie einen, arbeiten und hungern – was, Pluto, hungern!« In einer plötzlichen Aufwallung setzte er sich auf den Küchenboden, zog den Hund zu sich heran und legte ihm beide Arme um den Hals: »Was, Pluto? Aber wir beißen!«
* * *
Herr Hippelt war mit Bernhard einen eiligen Schritt gegangen. Sie gingen quer durch das langgedehnte Gelände der Gartenstadt. Hier waren noch keine Blumenrabatten, hier standen auch noch keine Häuser; hier kennzeichneten nur breit angelegte, mit Bäumchen eingefaßte und mit Namenschildern versehene, aber noch nicht gepflasterte Straßen die Gartenstadt. Das Unterholz war weggeschlagen, das Gestrüpp ausgerodet, die Kiefernstangen standen im kurzen Gras wie entkleidet, ganz nackt.
Und überall Tafeln: ›Baureifes Terrain‹ – ›Villengrundstück‹ – ›Schönes Parkgelände‹.
Die Luft war gut. Bernhard stand ein paar Augenblicke und verpustete: konnte der Alte noch rennen!
Hippelt mochte nicht rechts noch links sehen, am liebsten hätte er die Augen ganz zugekniffen, ihn faßte die Angst: soviel unbebaute Terrains! Sie beunruhigten ihn. Und er, er hatte viel weiter draußen noch welche! Oh, was hatte er für eine Dummheit gemacht – sein Geld, sein schönes Geld!
Bernhard sagte: »Das erlebt keiner von uns, daß hier alles bebaut ist.« Dabei schnupperte er in die Luft: »'ne Pleite! Man riecht se schon!«
»Und das sagen Sie mir?! Sie Schlemihl – Sie – Sie Gauner!« Zitternd faßte ihn Hippelt vorn bei der Brust; er schüttelte ihn.
Aber Bernhard machte sich frei. Er war ganz beleidigt: »Hab ich gesagt, Sie machen Pleite?! Ihre Grundstücke draußen tausch ich noch nich mit hundert Prozent Zuschlag gegen die hier. Hier können nur große Leute wohnen – zu teuer, zu teuer! – Leute mit Wagen, mit Pferd, mit 'm Automobil – so 'ne Leute kriegen überall was, die haben die Auswahl. Aber unsre Leut', die vom Stettiner und Umgegend, von der Novalis-, Eichendorff-, Tieck-, Schlegel-, Ackerstraße, von der Chaussee-, Schwarzkopff-, Wöhlertstraße, von da überall rum – ich werd' nich fertig mit aufzählen bis morgen früh – die kleinen Leute, für die sind wir da!« Er vergaß seine sonst immer etwas gebückte Haltung und reckte sich: »Wir haben billig gekauft, wir geben auch billig wieder ab. Heute sind's zwei Lauben, nächstes Jahr zwanzig. Ob da 'n Baum is oder keiner, 'n See oder 'n Pfuhl, das spielt bei unseren Leut' keine Rolle. Sie haben freien Himmel über sich, sie bauen sich 'n bißchen Gemüse – nebbich – sie sind einmal Freiherrn in ihrem Leben!«
Bernhard machte eine kleine Pause, jetzt klang seine Stimme ganz nüchtern: »Ich denke, dann steigern wir. Von neunzig Pfennig die Rute auf eine Mark zwanzig. Dann werden se kaufen – kaufen is billiger wie pachten. Das werd ich ihnen schon beweisen. Wie heißt: zu teuer?! Teuer is billig. Und wer nicht auf den neuen Pachtvertrag eingeht, der muß raus. Und dann haben se die schöne Laube da, 's Gärtchen angelegt – so viel Dung, so viel Mühe – und die Frau hat 's Bänkchen im Grünen, wo se sitzt un de Strümpfe stopft, se weint, daß se weg soll – alles zahlen brauchen se ja nich gleich, wir machen's gemütlich – da kaufen se schon!«
Er blieb stehen und faßte Hippelt am Rockknopf: »Gott soll mich strafen, wenn wir da nich noch machen 'n gutes Geschäft!«
Hippelts Miene war jetzt weniger ärgerlich. Nun die vielen leeren Bauplätze vorüber waren, wurde ihm leichter ums Herz; aber von den duftenden Wacholderstauden, die rechts und links vom schmalen, grasbewachsenen Pfad standen, von den hohen Farnwedeln, die im Schutz des Hochwalds die Herbstnacht noch nicht gebleicht hatte, sah er nichts. Er war noch nie durch einen richtigen Wald gegangen, er hatte gar kein Auge dafür. Er überlegte: es war entschieden ein Fehler von ihm gewesen, ein großer Fehler, dem Bernhard alles allein zu überlassen. Er selber hatte nur im Kontor gesehen, auf dem Papier, auf der Spezialkarte: Waldgebiet im Norden von Berlin, und was da noch war an ungenutzten Terrains. Nun war es wirklich die höchste Zeit, daß er sich die Sache nahebei besah.
Als sie den Wald verließen, hinaustraten auf die Heide, und Bernhard mit einer schwungvollen Handbewegung über die sandige Halde hinweg wies: »Da – alles unser,« sagte er knurrig: »Sagen Sie nicht immer unser – mein!«
Den Landmann Philipp Wolter, dessen Name aus dem Kontrakt mit Arthur Reschke als der des Verpächters gestanden hatte, suchten beide Herren nicht auf. Dem gehörte ja längst keine Handvoll Erde mehr von den sogenannten Äckern. Äcker?! Hippelt stolperte über das armselige Land: das hatte der Bernhard ja wirklich höchst schlau angefangen, dem Wolter das als ›Ackerland‹ abzukaufen. War das denn Ackerland? Er bückte sich stöhnend und schöpfte eine Handvoll Sand. Wenn man diesem gänzlich heruntergekommenen Individuum, das sein bißchen Verstand bei Schnaps und Karten gelassen hatte, die Hälfte geboten hätte, wäre es auch genug gewesen.
»So?« sagte Bernhard. »Und der Name – sein Name? Dafür haben wir ihm doch auch was zahlen müssen, daß Sie nich wollen genannt sein bei der Sache!« Er hob beide Hände. »Was hab ich ihm noch zureden müssen, daß er's gelassen hat so billig! Was bin ich herausgerannt! Was habe ich mit ihm gesessen in allen Wirtshäusern – meine Gesundheit habe ich verloren dabei. Brrrr –« er schüttelte sich – »die vielen Schnäpse! Das kalte Bier! Warum haben Sie denn nich gewollt als Verpächter genannt sein – nu, warum steht da nich ›Hippelt‹, einfach ›Hippelt‹?!«
»Das verstehn Sie nicht!« Hippelt sah ihn kalt an.
Wenn der Alte so guckte, dann war nichts mit ihm zu wollen, dann war er krötig. Der Agent steckte beide Hände in die Taschen seiner karierten Hose und schlotterte hinter Herrn Hippelt drein.
Nun sie den Schutz des Waldes verlassen hatten, packte der Wind sie kräftig. Das einsame Feld war wie reingeblasen, nichts mehr darauf zu sehen. In den Gärtchen um die Lauben war abgeerntet, es war wohl auch nicht viel zu ernten gewesen; ein bißchen schwärzlich gewordenes Kartoffelkraut und ein paar geknickte Sonnenblumenstengel hingen noch da.
Bernhard rüttelte am Zauntürchen der Reschkes; es war aus unbehauenen dünnen Fichtenstämmchen und ein wenig Stacheldraht zusammengeflickt. Na, die brauchten auch nicht so ängstlich zuzuschließen, da war ja nichts drin! Das Nachbargrundstück dagegen war offen, der Zaun umgefallen; mit der nachlässig nur angelehnten Laubentür klappte der Wind hin und her.
»Hier kommt der von der Koppenstraße rein, der Butterhändler,« erklärte Bernhard. »Hat sich die Sache nich lange überlegt, kaum hingesehen hat er, 's is ihm alles egal, sagt er. Nebbich! Seine Frau betrügt ihn.«
Sie waren in die Laube eingetreten. Eine eiserne Bettstelle, deren Boden in der Mitte zerrissen war und seine rostigen Drähte wie Spieße herausstreckte, und ein altes Kochöfchen hatte der frühere Kolonist dagelassen; sein Nachfolger hatte sie mit übernommen. Ein Paar fuchsige, durchlöcherte Wasserstiefel standen noch in einer Ecke und verbreiteten einen unangenehmen Geruch nach Moder und altem Leder. Bernhard hielt sich die Nase zu, Hippelt aber wendete sie mit einem Stock hin und her: nicht mehr zu gebrauchen. Dann las er einen Rest Bindfaden auf, der in dem aufgewühlten Boden lag, und steckte ihn in die Tasche.
Bernhard hob die Hände: »'ne Chuzpe! Hat der Kerl die Dielen vom Boden gerissen! Jedenfalls Brennholz draus gemacht. Ungehörig, ganz ungehörig – na, aber der Butterhändler, der merkt nichts!« Er tippte sich aus die Stirn, »'s Saufen hat der sich auch angewöhnt – aus Kummer!« Der Agent lachte. »Den werden Sie los hier im Handumdrehn, hab ich gesagt zu ihm.«
Hippelt hörte nicht, was der andere schwatzte. Er überlegte sich die Sache mit der Bröse: lohnte es sich wirklich, daß man etwas Ordentliches springen ließ, um die hier fortzubringen? Er hatte nicht viel Zutrauen zu diesem Terrain – zu öde! Und ob sich hier ein Fabrikgelände ins Werk setzen ließ, der Briese zu – sehr fraglich. Ja, wenn die Bahn eine Haltestelle herlegte. Aber vielleicht ließe sich hier ein Erholungsheim erbauen, ein Genesungsheim für kranke Soldaten oder für skrofulöse Kinder, oder noch besser ein Beschäftigungsasyl für Arbeitslose. Wenn ein unbekannter Wohltäter den Grund und Boden umsonst dazu hergäbe?!
Hippelt ließ den Blick über die unbegrenzte Öde gleiten: das Terrain war ja so groß, auf ein paar Morgen kam es nicht an. Und wo erst so etwas ist, findet sich anderes schnell dazu. Immerhin war es ein Risiko, nein, eine Dummheit gewesen, hier zu kaufen! An der war niemand schuld als Bernhard, der hatte ihn hereingelegt! Mit einem bösen Blick, der seinem sonst nur schlauen Gesicht etwas von Tücke gab, sah er seinem Schieber nach.
Bernhard ging jetzt voran; er sah aus wie eine Scheuche, die man als Vogel- und Wildschreck auf den Acker stellt. In seine zu weite, karierte Hose pustete der Wind, seine langen schwarzen Rockschöße, die unter dem kürzeren Überzieher vorsahen, blähten sich.
Anna Bröse sah die beiden aufs Häuschen zukommen. Sie hockte grade oben auf dem Dach und verstopfte die Lücken der morschen Ziegel mit Moos für den Winter. Neugierig spähte sie: kamen die hierher? Und dann zwängte sie sich durch die Dachluke und polterte hastig die steile, leiterähnliche Treppe wieder hinab in die Küche. »Du kriegst Besuch! Zwei Herren! Au, au, wart man!« Sie lachte boshaft.
Die Bröse blieb ruhig. »Se sollen nur kommen!« sagte sie, hauchte ihre alte schmutzige Hornbrille an, damit sie wieder durchsehen konnte, und setzte sie auf.
Das heisere Bellen der Klingel kündete den Besuch an, das Mädchen ließ die Herren ein. Nun stand es und sah mit den schnell sich bewegenden schwarzen Augen von den beiden Fremden zur Großmutter hin.
Die Bröse guckte giftig: seh' einer an, da war ja der Kerl aus Berlin, der Halunke, der dem Wolter sein Land abgegaunert hatte! Wollte der ihr jetzt auch was abgaunern? Mißtrauisch musterte sie die Eingetretenen.
Hippelt fing gleich an zu sprechen. Mit einer herrischen Bewegung, die ihr sofort sagen sollte: ›Ich hab's, ich kann's,‹ stieß er seinen Stock auf den Estrich. »Wieviel wollen Sie haben für die alte Bude hier?«
»Für mein schönes Häuschen?« Sie grinste. »Ich verkaufe nich!«
Hippelt empörte dieses feste: ›Ich verkaufe nich.‹ Sein mißfarbener Teint rötete sich.
»Se werden doch verkaufen. Natürlich werden Se verkaufen,« mischte sich der Agent schnell ein. Er kam sich bedeutend klüger vor als Hippelt: der verstand es ja gar nicht, mit solchen Leuten umzugehen. Mit den Kavalieren, und wenn es ins Große ging, mochte der Prinzipal es besser verstehen, da hatte der die eiserne Stirn – aber hier?! Vertraulich nickte Bernhard der Bröse zu: »Nu, kennen mich doch? Ich bin der, wo dem Wolter abgekauft hat – schön reingefallen bin ich, ei weh! Aber lassen wer das, geschehn is geschehn. Hier, mein Freund, der Herr Schulze« – er machte eine vorstellende Handbewegung – »hat sich in Ihr Häuschen verliebt. Ich begreif es nich, offen gestanden – so 'ne olle Dreckbude, verfault, verwanzt, verstunken – nich umsonst, Sie könnten se mir schenken, aber er is nu mal so 'n Narr! Was meinen Sie, daß er Ihnen will geben?! Neunhundert, sage –«
»Halten Se's Maul,« sagte die Alte grob. »Ich verkaufe nich.« Und dann nickte sie Hippelt zu: »Ich kenne Ihnen, Herr Hippelt!« Sie grinste.
»Woher kennen Sie mich?« Das war Hippelt sehr unangenehm. Aber am Ende, was schadete es, daß die Alte ihn kannte? Ein schlaues Weib! Wie sie das so gleich ausgefunden hatte!
Die schmutzigen Finger über den Tisch streckend, hinter dem sie saß, tippte die Bröse ihm aus den Ärmel und lachte laut: »Mich legen Se nich rein. Dazu müssen Se sich andere aussuchen. Die Dummen wer'n ja nich alle. Aber Sie haben ganz recht, Herr Hippelt, Sie haben recht! Es taugen doch alle nischt. Mein Peter is tausendmal mehr wert als alle andern. Darum tun Sie recht, recht, recht!« Sie klopfte heftig auf seinen Ärmel. »Ziehn Se man immer die Krawatte zu, immer zu.«
»Gott soll hüten, hat das Weib 'ne Galle! Wie 'n Drache, der spuckt. Na, warum denn so böse? Wir haben Ihnen doch nischt getan, nur ganz bescheiden gefragt, ob Sie nich wollen verkaufen, 'ne Summe geboten – ei, was für 'ne Summe!«
Sie lachte dem Agenten ins Gesicht: »Neunhundert Mark?!«
»Wir geben tausend!«
Sie sah ihn verächtlich an. »Ihre lumpigen Tausend brauch ich nich. Unter die Erde mitnehmen kann ich se doch nich; un so lang ich lebe, krieg ich genug!«
»Aber das Mädel? 'n sehr hübsches Mädel,« schmeichelte Bernhard. »Das wär doch 'ne Aussteuer fürs Enkeltöchterchen!«
»Die geht mich nischt an!« Die Alte drehte ihm den Rücken und wendete sich ganz Hippelt zu: »Ich verkaufe nich, Herr Hippelt. Da gibt's nischt. Un wenn einer hier auf den Knien läge, ich sagte: nein. Mein Peter is hier gewöhnt, der steht in keinem andern Stall. Un ich bin auch hier gewöhnt. Ich will nich wohnen, wo andere Leute wohnen, 's haben sich mir so wie so schon welche zu nah auf den Hals gesetzt.« Sie spuckte dreimal hintereinander aus. »Daß sie verderben!« Ihr Fuß stampfte auf den Boden: »Hier bin ich zu Haus, hier sterb' ich auch. Un nu lassen Sie mir in Frieden!« Sie setzte sich, den Männern abgewandt, wieder auf die Bank, stützte den Kopf in die Hand und sah durchs Fensterchen wie verloren hinaus in die leere Weite.
Die Hartnäckigkeit der Frau imponierte Hippelt. Rasch, wie er seinen Plan gefaßt hatte, gab er ihn auch wieder auf: nur kein unnötiges Drumherumreden. Er scheute sich nicht, trotz des Schmutzes und der Lumpen, der Alten die Hand auf die Schulter zu legen. »Na, dann wird's also nichts mit unserm Geschäft, Mutter Bröse?« Er war sehr freundlich.
Sie fuhr herum und starrte ihn an, als hätte sie an ganz etwas anderes gedacht; dann lächelte sie, wenn man ein Verziehen des schmallippigen, eingefallenen Mundes für ein Lächeln nehmen wollte. Ihre Blicke trafen sich. Ein gewisses Wohlwollen spiegelte sich darin: sie beide, sie würden sich nicht in die Quere kommen! –
Die Anna streckte die Hand aus, als sie den reichen Mann zur Türe hinausließ. Hippelt gab grundsätzlich Bettelnden nie etwas – faules Gesindel, konnte ja arbeiten – heute wurde er seinen Grundsätzen untreu. Er schenkte der Enkelin der alten Bröse ein Zehnpfennigstück.