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Frida Reschke sollte zum Doktor gehen. Das wollte die Mutter. Die Sommerschwüle der Stadt hatte das Mädchen ganz matt gemacht; wenn es abends nach Hause kam, war es müde zum Umsinken. Aber Frida wollte nicht: sie würde sich schon wieder frischer fühlen, wenn die Witterung frischer wurde. Sie hatte auch kein Vertrauen zu dem Kassenarzt, überhaupt zu keinem Arzt. Ja, wenn der Doktor Hirsekorn noch in Berlin wäre, den hätte sie wohl einmal gefragt!
»Du kannst doch auch jetzt mal zu 'm gehen,« sagte Mine. »Der war ja so freundlich, als er bei uns in der Laube war.«
Aber Frida entschloß sich nicht. Was sollte sie sagen? ›Ich bin krank‹ – nein, krank war sie eigentlich nicht. Schmerzen? Schmerzen hatte sie eigentlich auch keine, und doch tat ihr etwas weh; aber dagegen gab es keine Medizin. Warum war sie nicht hübsch und vermögend, daß sie wählen konnte unter den besten Männern? Und wenn sie denn nicht schön und reich war, warum war sie denn nicht wenigstens lustig und leichtlebig, daß es ihr ging, wie es anderen Mädchen ihres Standes ging? Die hatten alle einen Bräutigam. Ob der sie später heiratete, danach fragten sie nicht; sie küßten und ließen sich küssen, sie gingen mit ihm am Sonntag aus, er stand jeden Abend im Torflur an ihrer Arbeitsstelle und holte sie ab, und dann hatten sie nach dem Tagewerk noch ihre Abenderholung. Sie gingen Arm in Arm, lachend und schwatzend eng nebeneinander, schlenderten im Tiergarten oder auch nur in den Straßen, und die Augen der Mädchen waren am andern Morgen so viel froher, so viel heller als die ihren.
Frida Reschke betrachtete sich mit prüfendem Blick in ihrem Spiegel: und war sie denn wirklich schon alt? Vierundzwanzig war sie jetzt geworden – ist man dann schon eine alte Jungfer? Nein, aber man geht darauf zu. Das zeigten ihr auch die Fältchen, die kleinen Fältchen an ihren Augenwinkeln; noch sah die vielleicht kein anderer, aber sie sah die. Und das reiche blonde Haar, dessen Masse fast zu schwer war, fing an, ihr auszugehen. Sie hatte immer geklagt, das viele Haar mache Kopfweh, und es war so schwer in Ordnung zu halten; nun gab es ihr einen Stich durchs Herz, wenn einen ganzer Wusch Haare im Kamm hängen blieb. Aber heiraten, heiraten, so wie die Mutter, oder wie die Mädchen es nachher taten, wenn sie sich genug amüsiert hatten, davor grauste ihr. Immer Sorge haben ums tägliche Brot, immer in Hofwohnungen hausen, viele Treppen hoch oder ganz unten, wo es so dunkel ist, viele Kinder haben, und ihnen das gleiche Los blühen sehen – nein, dazu war sie viel zu verständig. So schwer es ihr wurde, dann wollte sie lieber eine alte Jungfer bleiben.
»Warum biste nur so trübselig?« fragte die Mutter sie oft. Aber sollte sie der das Herz auch schwer machen? Ändern konnte die's auch nicht. Verstehen würde sie's vielleicht auch nicht, es war ja schon so lange her, daß die in den Jahren gewesen war. Die Mutter konnte es nicht nachfühlen, wie ihr oft zumute war: weinerlich und gereizt, in dieser Minute hätte sie laut schluchzen können, in der anderen lachen – alle Zufriedenheit war weg.
Frida war sehr beliebt bei ihren Damen. Aber wie sich das nette Mädchen verändert hatte! So reizbar. Etwas tadeln durfte man schon gar nicht, dann legte sie gleich den Kopf auf die Maschine und weinte. Die mußte einen Kummer haben oder krank sein.
Aber Frida verneinte beides. Mit heißen Wangen stritt sie gegen solch gutgemeinte Fragen an. Um Gottes willen, daß nur niemand ihres Herzens geheimste Sehnsucht ahnte! Sie wollte heiter sein mit Gewalt, aber es glückte ihr nicht.
Wenn sie jetzt abends durch die Straßen schritt, die der Atem des Sommers schwül durchhauchte, unerträglich schwül, dann sah sie sich wohl um, ob jemand ihr folge. Und wenn sie in ihrem Viertel angelangt war, in dem die Liebe so viele Schlupfwinkel findet, dann ging sie nicht, wie früher, mit einem eiligen, abweisenden Gang, dann schlenderte sie. Lässig und matt. Ach, wenn nur die Sehnsucht nicht wäre, diese ewig brennende, heimliche Sehnsucht! –
Mine bestand darauf, Frida mußte jetzt öfter mit hinaus in die Laube. »Paß mal auf, wenn du da graben und hacken tust un machst dir orndtlich müde, denn schläfste nachher so gutt. Denn haste lauter schöne Träume, denn siehste den blauen Himmel un die Sonne, denn hörste de Lerchen un de Frösche, denn schreiste nich auf im Schlaf un schmeißt der auch nich so wie jetzt ofte!«
Frida hatte dafür nur ein bitteres Lächeln; ja, sie konnte Sonntags immer mit hinauskommen, helfen würde es zwar nichts, aber es war doch immer noch besser, als allein zu Hause zu sitzen und darüber nachzugrübeln, warum nur sie, nur sie allein von allen Mädchen keine Freude hatte.
»Du könnt'st mal so gutt zum Herrn Dokter hingehen,« sagte Mine. »Von hier nach der Gartenstadt, wo der wohnen tut, is es ja man bloß 'ne halbe Stunde. Du könnt'st doch das Fräulein auch mal besuchen.«
Aber Frida war eigensinnig, sie wollte nicht. Da entschloß sich Mine, selber zu gehen. Es wäre freilich nötig gewesen, sehr nötig, heute die Raupen vom Kohl abzulesen; sie kämpfte einen Kampf, aber die Besorgnis um die Tochter siegte.
Eine Strecke Wegs ging Frida mit, bis an den Waldrand, aber dann war sie zu müde; sie blieb auf einem Baumstumpf sitzen. Als die Mutter sie nicht mehr sehen konnte, stützte sie die Ellbogen auf die Knie und den Kopf zwischen die Hände. – –
Es wurde Mine nicht schwer, sich zu Doktor Hirsekorn hinzufinden. Es war ihr, als flöge immer etwas vor ihr her, wie jetzt der bunte Falter, der Fuchsschwanz mit den leuchtend blauen Augen – das war die Hoffnung. Der Herr Doktor hatte so ein gutes Gesicht und sah so klug aus. Wenn sie dem von Frida erzählte, dann schrieb er ihr gewiß eine Medizin auf. Was die Riedel gesagt hatte, das wollte sie weit, weit von sich weisen – aber merkwürdig, daran denken mußte sie doch immer wieder. –
Bescheiden rührte sie im Kieferngrund Nr. 11 die Klingel, aber als das junge Ding in dem rosa Kleid, das die Tür öffnete, sie von oben herab ansah: der Herr Doktor hielt keine Sprechstunden mehr ab, sagte sie ganz stolz: »Er kennt mer gutt. Sagen Se nur: die Mutter von Fridchen!«
Mit einem Aufatmen der Erleichterung sah Mine sich um: so weit wäre sie. Und schön war's hier. Nicht so stolz wie in den großen Mietshäusern, wo sie nur die Hintertreppe heraufdurfte, und nur einmal auf Strümpfen in die Zimmer kam, wenn sie Fenster putzen sollte. Als das Mädchen wiederkam und ihr winkte, folgte sie der Rosagekleideten festen Schrittes über den schönen grünen Teppich die Treppe hinauf. Das Mädchen machte eine Tür auf, ein Strom hellen Lichtes floß ihr entgegen.
Da saß der Doktor mitten in der Sonne an seinem Schreibtisch, und sein volles weißes Haar leuchtete wie Silber. »Nun,« sagte er, »was führt Sie denn zu mir?«
Da ging sie gleich auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin: »Se soll'n mer helfen, Herr Dokter. Ich hab so 'ne Sorge von wegen meiner Frida!«
Nun, wo fehlte es der denn? Mine erzählte umständlich. Es gehörte Geduld dazu sie anzuhören; da war so viel Überflüssiges. Aber Hirsekorn sah in das arbeitsharte Gesicht, in das die Mutterliebe weichere Linien zog und in dem beängstigten Blick der Augen sich klar offenbarte. Und dann sah er hinauf zum Bild seiner Marianne. Er legte seine Hand, an der die zwei Eheringe schon locker saßen, auf die dicke braunrote mit den abgestumpften Nägeln: »Machen Sie sich nicht zu viel Sorge, Frau Reschke. Was Sie mir da über Ihre Tochter sagen, ist nichts Bedenkliches. Lassen Sie das Mädchen so viel als möglich in der Luft sein und geben Sie ihr tüchtig Milch zu trinken. Ich werde Ihnen aber noch etwas aufschreiben, was sie kräftigt und ihr Appetit macht.«
»Ach, Herr Dokter!« Mine kämpfte mit sich: sollte sie ihm das von der Riedeln sagen oder sollte sie nicht? Seine Freundlichkeit gab ihr Mut, mit einem tiefen Luftschöpfen sprach sie: »Ach, Herr Dokter, man gibt seinen Kindern doch nich bloß 's tägliche Brot. Damit is es nich abgetan. Mer möcht ihnen doch so gerne auch 's Glücke geben!« Traurig sah sie den Doktor an, es schwamm in ihren Augen eine tiefe Bekümmernis. »Die Frida denkt: ich merk es nich. Ich merk es aber doch. Un ich kann, ich kann ihr doch 's Glücke nich schaffen!«
»Nein, das können wir nicht!« Er sah hinauf zu seiner Frau und nickte ihr zu. Und dann nickte er Mine zu mit einem herzlichen Verstehen: »Das müssen unsere Kinder sich selber schaffen, Frau Reschke! Wir sind da ganz ohnmächtig, liebe Frau!«
* * *
Frida Reschke hatte die Absicht gehabt, auf dem Baumstumpf am Waldrand sitzen zu bleiben, dort auf die Mutter zu warten, und sollte es auch ein paar Stunden währen. Was hatte sie denn zu versäumen? Max war fortgegangen und nicht wiedergekommen, vielleicht war er aus Langerweile zurück nach Berlin gefahren; und der Vater war drüben beim Butterhändler, da spielten sie Karten. Und das Grammophon aus der Riedelschen Laube machte einen ganz toll. Sie zog die Nadeln aus den blonden Flechten – der Kopf tat ihr weh – eine noch immer große Last schöner Haare fiel ihr über den Rücken herunter. Und nun war es ihr plötzlich, als würde sie beobachtet. Wer sah sie denn hier?!
Eine jähe Röte schlug ihr ins Gesicht, da stand ein Herr, der sah sie immerfort an. Nun kam er näher.
* * *
Albert hatte jetzt jeden Sonntag seinen Ausgang. »Laß ihn doch,« sagte Hippelt, wenn die Frau darüber in Erregung geriet. »Der Albert ist jung. Du kannst ihn nicht einsperren. Wirst dir wohl selber mal den Kaffee reinholen können und unsre paar Teller!«
Frau Hippelt war ganz entrüstet über diese Nachgiebigkeit: was fiel Hippelt eigentlich ein, war er krank? Dann war es ja gar kein Wunder, wenn der Albert jetzt so frech wurde. Er ließ sich nichts mehr sagen; sowie sie anhub, begehrte er auf, und seine Augen sahen sie an, so dreist, so höhnisch, daß sie sich gar nicht mehr getraute. Und wenn sie drohte: »Ich werd's Herrn Hippelt sagen,« dann lachte er sie aus.
Albert war nicht mehr der geduckte Diener, der sich alles gefallen ließ, der sich das Essen zuteilen ließ und wortlos die Zänkereien der Frau hinnahm.
Hippelt bekam jetzt öfters bei Nacht einen Anfall, der Atem wurde ihm knapp, eine Angst ließ ihm den Schweiß in kalten Tropfen rinnen. Wenn er dann japsend im Bette aufhockte oder sich ans Fenster schleppen ließ – ›Luft, Luft!‹ – dann nahm der Bursche seine Zeit wahr. Selbst am anderen Morgen, wenn der Anfall vorüber war, hatte Hippelt nicht die Kraft, den Diener in seine Schranken zurückzuweisen. Zugelegt hatte er dem schon – oh, wie wäre er froh, wenn der Mensch aus dem Hause wäre! – aber ihn fortschicken, nein! Er war nun einmal an ihn gewöhnt, und er war jetzt oft so hilflos, und, und – – oh, der Junge war noch lange der Schlimmste nicht!
Albert verlangte: zwei Mark, drei, vier, fünf und zehn Mark. Nun ja, der Junge mußte doch auch ein paar Groschen in der Tasche haben, wenn er Sonntags ausgehen wollte! Hippelt war Albert gegenüber der Knauser nicht; eine unerklärliche Schwäche ließ ihn schweigen, wenn der dreiste Bursche forderte, forderte und wiederum forderte. Heimlich stöhnte er zwar und fluchte seiner Dummheit: wozu hatte er auch den Bengel ins Haus genommen? Er wünschte dem Frechen in ohnmächtiger Wut alle möglichen Strafen, aber merken ließ er sich's nicht. Der Herr sah dem Diener nach den Augen: war der auch guter Laune? Und er steckte ihm zu.
Es machte Albert unendlichen Spaß zu sehen, wie der Alte duckte. Er empfand nicht seine Grausamkeit – mochte der japsen und stöhnen und winseln! Wer hatte denn auf das Weib gehört, als das so unter die Füße kam, daß es auf die Straße gehen mußte? Wer hatte denn auf ihn gehört, als er nicht von der Mutter weg in die Fürsorge wollte? Hatte er da nicht auch gewinselt wie ein junger Hund, sich an ihre Röcke gehängt? Fürsorge-Zögling, Fürsorge-Erziehung! Er lachte höhnisch auf: was er noch nicht gewußt hatte, das hatte er da gelernt. Der Alte war ein schöner Esel gewesen, daß er sich ihn ins Haus genommen hatte! Ein harter eisiger Ausdruck machte das hübsche Gesicht des jungen Mannes unangenehm.
Aber lächeln konnte Albert auch. So gewinnend lächeln und überreden, daß er die Weiber am Schnürchen hatte. Erst war es nur die Grete vom Doktor nebenan gewesen – aber was machte er sich noch aus der? Nun hatte er noch zwei andere: die schwarze Anna und die blonde Frida.
Fast alle Abend sauste Albert auf seinem Rad hinaus nach der Heide. Die schwarze Anna war immer da.
Ein seltsames Gefühl war über die Wilde gekommen. Wenn jetzt die Bröse schimpfte und nach dem Besen griff, gab sie kein Widerwort. Es war ein sanfterer Blick in ihren Augen. Und sie hielt mehr auf sich. Nun kämmte sie ihr Haar, dieses ruppige Rabengefieder, und versuchte eine moderne Frisur. Das glückte ihr freilich nicht, die Mädchen, die zum Tanz nach dem Schützenhaus gingen, brachten es besser fertig, aber doch stand's ihr auch so gut. Und die Bluse, die ihr Max Reschke neulich mitgebracht hatte, die zog sie an. Eine rote hätte ihr freilich besser gefallen als diese blaue, aber er würde ihr ja noch eine rote Kette mitbringen von Berlin. Darum hatte sie ihn angegangen. Der dumme Junge, wie er ihr nachschlich! Wenn sie erst die Kette hatte, dann konnte er gehen. In ihrem Herzen war kein Platz für ihn, und es war ihr jetzt auch, als dürfe sie ihm nicht einmal mehr einen Kuß geben. ›Der Hübsche, der Feine‹ hatte sie zwar gar nicht gefragt: ›Hast du außer mir vielleicht noch einen?‹ – sie selber, nein, sie konnte es nicht mehr.
Heute hatte Max Reschke Glück gehabt, er hatte die Anna gleich getroffen. Sie saß am Pechpfuhl und blickte versonnen ins Wasser, als er ganz unvermutet neben ihr stand. Er hatte die Kette für sie in der Tasche – eine teuere Kette – sein ganzer Wochenlohn war draufgegangen und der von der vorigen Woche auch; der Mutter hatte er das Kostgeld noch schuldig bleiben müssen. Er hatte es nicht erwarten können, der Anna dies Geschenk zu bringen, von der Arbeit weg war er herausgefahren. Strahlend hielt er ihr nun die Kette hin: rote Korallen, Perle an Perle gereiht.
Sie griff danach: »Dank schön!«
War das alles?! Wartend stand er vor ihr.
Sie band sich die Schnur um; den Hals vorstreckend, bespiegelte sie sich. Der Pfuhl war zu schwarz, das blinde Wasser gab ihr Bild nicht zurück.
In Maxens Augen spiegelte es sich: so hübsch war ihm die Anna noch niemals vorgekommen. Die roten Perlen lagen wie Blutstropfen auf ihrem bräunlichen Hals, und rot waren auch ihre Lippen. Von ihnen wollte er sich den Dank nehmen, aber sie stieß ihn zurück. Behend war sie aufgesprungen, eine Handvoll Sand flog ihm ins Gesicht. Als er, schimpfend und sich die Augen reibend, wieder sehen konnte, war sie schon weit weg. Aus sicherer Entfernung schrie sie ihm zu: »Nu kannste gehn. Ich mag dich nich mehr!« Und dann lief sie weiter fort.
Was war denn, was war denn das?! Er hatte ihr doch die Kette mitgebracht – und nun auf einmal so?! Verdutzt sah er sich um. Kein Mensch war in Sicht, es war heute niemand in den Lauben. Er begann zu laufen, immer hinter ihr her. Aber er ereilte sie nicht, sie war zu geschwind. Der Atem schnaufte ihm, das Herz klopfte; verstört kam er endlich zu seiner Laube zurück.
Hätte er dem frechen Ding die schöne Kette doch nicht gegeben! Was hatte er denn nun dafür gekriegt? Gar nichts. Er glaubte gesehen zu haben, wie Anna die gespreizten fünf Finger an die Nase legte – galt das vielleicht auch ihm? Er ärgerte sich, wie er sich kaum je geärgert hatte, und dabei fühlte er einen leisen Schmerz: nein, das hätte er doch nicht von ihr gedacht. Ganz benommen saß er auf der Bank vor der Laubentür und stützte den Kopf. Er mußte sich erst einmal besinnen.
Da hörte er einen schleichenden Schritt: sollte sie doch zurückgekommen sein, war es nur Spaß gewesen? Er sprang auf: sie festhalten, festhalten! Ach so, es war nur der Butterhändler!
Auf seinen Plattfüßen kam der herangeschlorrt; er hatte getrunken, sein Gesicht war ganz rot, und man roch den Schnaps. »Bleiben Se sitzen,« sagte er lallend, »bleiben Se sitzen, junger Mann. Die is es nich wert!« Er schüttelte den Kopf und starrte traurig hinaus auf die einsame Heide. »Sie sind's alle nich wert, das glauben Se man!« Er seufzte, und dann schluchzte er trocken auf. Sein Gesicht verzog sich sehr komisch wie bei einem, der weinen möchte und es nicht kann.
Der Atem des Trinkers widerte den jungen Mann an, er wurde grob. »Was gehen Ihnen meine Angelegenheiten an? Kümmern Sie sich gefälligst nich drum!«
Der Butterhändler zuckte zusammen, klappte nach vornüber wie ein Taschenmesser ohne Scharnier: »Entschuldigen Se!« und schlorrte dann wieder langsam davon, in den Hosen mit den vielen Schrumpeln und Falten, die ringsherum auf den Boden stauchten. –
Die schwarze Anna war weit gelaufen, die Kette schlug ihr dabei immer hart auf den Hals. Das erinnerte sie fortwährend: der Max, der war so gutmütig, sie war gar nicht nett zu ihm gewesen – der Max – die schöne Kette – nannte man das nicht undankbar? Aber sie konnte ja nicht dankbar sein, sie wollte es auch nicht sein, sie durfte es auch gar nicht sein. Alles, alles gehörte dem anderen. Und was der wollte, das tat sie.
Sie war gelaufen, bis sie nicht mehr konnte; eine Scham fing an, in ihr zu brennen, sie rannte wie vor sich selber davon. Ein paarmal hatte sie nach der Kette gefaßt: sollte sie die sich vom Halse reißen? Aber dann tat es ihr doch zu leid darum. Die mußte sie trotzdem behalten, die kleidete sie gut, sie würde dem ›Hübschen‹ damit gefallen. Jetzt hemmte sie ihren Lauf.
Über die Heide kam langsam die Dämmerung geschritten – die graue Frau. Das Mädchen breitete die Arme aus: die war ihr lieb. Wenn das graue Kleid über den Boden schleppte, wenn es leis raschelte im Kraut und im Gras, wenn der graue Schleier im Kiefernbusch hing, sich da verfing in den struppigen Ästen, dann kam für die Anna die gute Zeit. Sie lachte glückselig: nun kam er bald, der Hübsche, der Feine, ihr geliebter Schatz.
So etwas hatte sie noch nie in ihrem Leben gefühlt, solch eine Ungeduld, solch eine Sehnsucht. Sie kannte nur harte Worte, Prügel, Hunger und Frost. Jetzt aber – ha, jetzt war es schön! Jetzt hatte sie einen, dem war sie so gut, daß sie an gar nichts anderes mehr denken konnte, und auch nichts anderes fühlte. Nicht, daß die Sonne sie brannte, der Regen sie durchnäßte; kein Schimpfwort traf sie mehr und kein Schlag. Heute, heute kam er ja wieder!
Der schwarzen Anna Gesicht war schmaler geworden, wie eine Träumerin ging sie über die Heide. Wann kam er, wann? Schon fiel nächtlicher Tau und näßte ihr Haar.
Als sie das Brombeergerank voneinander schlug, das wie ein Vorhang den kleinen Tunnel im Bahndamm deckte, fuhr ihr ein scheues Nachttier entgegen. Sie schlug nach ihm: weg, hier war ihr heimliches Stübchen, hier erwartete sie ihn. Mit einem Seufzer setzte sie sich nieder: wenn er doch käme! Wie brachte sie die Zeit hin, bis er endlich, endlich zu ihr kam?!
Sie knöpfte an ihrer blauen Bluse; die war nicht mehr so sauber, wie Max Reschke sie ihr gebracht hatte, zerrissen war sie auch schon, aber sie war doch immer noch ihr Bestes. Und sie wollte gefallen. Aus dem Halsausschnitt ihres Hemdes zog sie jetzt etwas hervor: eine Schnur war es, daran ein Säckchen hing, aus einem alten Lumpen genäht, Salz war darin. Sie betastete es mit bebenden Fingern, dann drückte sie es an den Mund.
»Salz im Säckchen, helfe du,
Seine Liebe kommt mir zu.«
So stand es in Großvaters Zauberbuch, das die Bröse geerbt hatte, und aus dem sie den Mädchen vorlas, die heimlich zu ihr geschlichen kamen an dunklen Abenden. Das Säckchen sollte freilich von gelber Seide sein, so stand's im Buche – aber wo sollte die arme Anna gelbe Seide hernehmen? Es half auch so. Des Mädchens Lippen küßten inbrünstiger: es hatte schon geholfen!
Mit einem Jubelschrei sprang Anna auf, sie hörte etwas, was noch kein anderer gehört hätte: aus dem Wald kam's geflogen, ein Mann auf dem Rad! Jetzt sprang er ab.
Das Brombeergestrüpp raschelte, gebückt trat er in das gähnende Dunkel. Schon hing sie ihm am Halse; wie ein Verdurstender trinkt, so küßte sie ihn. Er ließ sich's gefallen.
Endlich wurde es ihm zu viel: »Na ja, ja. Nu is es gut!« Sogleich ließ sie die Arme sinken. »Was haste denn da?« Er fühlte das Säckchen auf ihrer Brust.
Sie lachte verlegen: »Ach nischt!« Aber dann erzählte sie's ihm doch: man durfte eigentlich nicht darüber sprechen, dann wirkte der Zauber nicht mehr, aber wenn er es verlangte, mußte sie es ja sagen.
»Blödsinn!« Er lachte roh. »Woher weißte denn das?«
Sie wurde rot. Hastig zog sie aus dem zerschlissenen Rock eine kleine Schachtel, die hielt sie ihm dicht vors Gesicht in der Dämmerung der Höhle, an die sich nur langsam sein Auge gewöhnte. »Da is 'n Rabenei drin. Wer das immer bei sich trägt, der kriegt niemals Schmerzen.
Schmerz, stehe still,
Weil das Ei es will!
Willste's haben? Ich geb's dir gern!«
Er schlug es ihr aus der Hand. »Ich brauch dein Ei nich. Aber kannste auch Geld zaubern? Das wäre schon eher was!« Er lachte sie aus, aber doch war in seinem Lachen etwas wie Neugier, in seinen Augen etwas wie Gier. Wer doch schnell reich, reich werden könnte!
Sie schmiegte sich an ihn, ihren Arm schlang sie fest um seinen Nacken. Im Kusse flüsterten ihm ihre Lippen ins Ohr: »Es steht im Zauberbuch, ich weiß alles auswendig. ›Nimm jeden Morgen ein Stück Kohle, steck das in die Tasche und sprich:
›Daß ich heut mir Reichtum hole,
In der Tasche tut's die Kohle.‹
Ich trag immer welche bei mir!«
»Danach siehste aus!« Er lachte ärgerlich und stieß sie zurück. Wollte ihn das dumme Frauenzimmer zum Narren halten?
Doch sie sagte ernsthaft: »Die Bröse hat aber Geld. Wenn die mal tot is, dann kriegst du alles. Ich geb es dir!« Da zog er sie wieder an sich.
Und sie murmelte demütig, ihn zärtlich umschlingend: »Hab mir lieb, hab mir lieb, verlaß mir nie!«