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Der Monat Oktober in Italien ist gewiß eine herrliche Jahreszeit. Die Sonne hat ihre intensive Hitze, aber nicht ihren Strahlenglanz verloren; sie ist weniger sengend, aber deshalb nicht weniger klar und hell. Wenn sie am Morgen aufgeht, so wirft sie strahlende Funken über die erwachende Natur, wie ein indischer Fürst, wenn er in seinen Audienzsaal tritt, händevoll Goldes und Juwelen in die harrende Menge wirft; und die Berge scheinen ihre felsigen Häupter hervorzustrecken, und die Wälder ihre stolzen Arme auszubreiten, wie um sie in ihrer erhabenen Majestät zu begrüßen. Und wenn sie ihren Lauf durch den wolkenlosen Himmel vollendet hat, wenn sie ihr Ziel erreicht hat und ihr Bett auf dem westlichen Meere aus flüssigem Golde bereitet findet, das Bett, welches von purpurnen Wolkenvorhängen mit goldnen Kanten, die prächtiger sind als jene, welche Ophir um das Lager des Königs Salomo hing, umgeben ist – dann breitet sie sich noch einmal zu einer Scheibe von unendlicher Größe aus und sendet die liebreichsten, mildesten Strahlen herab, als ob sie dem Wege, welchen sie zurückgelegt hat, noch ein letztes Lebewohl senden wollte. Und wenn sie nun ganz verschwunden ist, schickt sie plötzlich hellglänzende Boten aus jener Welt, die sie dann besucht und belebt, zurück, als wenn sie uns erinnern wollte, daß sie bald zurückkehren und uns von neuem beglücken wird. Wenn auch weniger mächtig, so sind ihre Strahlen doch reicher und belebender.
Es hat vieler Monate bedurft, um aus dem saftlosen, zusammengeschrumpften Weinstock zuerst grüne Blätter, dann krause, schlanke Ranken und zuletzt kleine Trauben harter, saurer Beeren zu locken; und ihr Wachstum ist erbitternd langsam vor sich gegangen. Aber jetzt sind die Blätter groß und wuchernd und verdienen es wohl, daß sie in Weinländern ihren eigenen Namen haben;Pampinus, latein.; pampino, italien. und die einzelnen kleinen Knollen sind zu herrlichen Traubenbüscheln herangewachsen. Und einige von diesen haben bereits ihre klare bernsteinfarbene Schattierung angenommen, während jene, welche bestimmt sind in reichem kaiserlichen Purpur zu erglänzen, schnell durch eine schillernde Opalfärbung, welche kaum weniger schön ist, in diese Farbe übergehen.
Dann ist es köstlich, an einem schattigen Platz auf einem Hügel zu sitzen und dann und wann von seinem Buche aufzublicken, und das Auge über die abwechselungsreiche und sich verändernde Landschaft schweifen zu lassen. Denn, wenn die Brise über die Olivenbäume am Hügel fährt und ihre Blätter umwendet, so bringt sie auf ihnen Licht und Schatten hervor, weil ihre beiden Seiten in ihrer düsteren Färbung verschieden sind. Und wenn die Sonne auf die sich guirlandenartig von einem Baum zum andern ziehenden Ranken in den Weingärten scheint, oder eine Wolke sie verdunkelt, so zeigt das prächtige Gewebe der regungslosen Weinblätter eine gelbere oder braunere Schattierung seines köstlichen Grüns. Dann füge zu diesen die unzähligen anderen Farben, welche dem Bilde seinen Anstrich geben – die dunkle Cypresse, den düsteren Taxus, die reiche Kastanie, den sich rötlich färbenden Obstgarten, die versengten Stoppelfelder, die melancholische Pinie – für Italien das, was die Palme im Osten ist – welche sich über den Buchsbaum, den Erdbeerbaum und die Lorbeerbäume der Villen emporhebt – und dies alles über Berge, Hügel und Ebene verstreut; – hier sprudelnde Brunnen, dort hinabrauschende Kaskaden, Portikos aus glänzendem Marmor, Statuen aus Bronze und Stein, die gemalten Giebel ländlicher Wohnungen; unzählige Blumengärten, Weiden und Wiesen – und du hast einen leisen Begriff von der Anziehungskraft, welche während jenes Monats den Römer – wie heutzutage noch uns – sowohl Patricier wie Bürger aus dem herauszog, was Horaz den Lärm und den Dunst Roms nennt, um seine Blicke an der ruhigeren Schönheit des Landes zu weiden.
So sah man denn, als der glückselige Monat herankam, wie die Fenster der Landhäuser geöffnet wurden, um frische Luft einzulassen; unzählige Sklaven waren mit abstauben, scheuern, verschneiden der Hecken zu phantastischen Gestalten, reinigen der Kanäle, um künstliche Bäche in dieselben einzulassen, und ausrupfen des Unkrauts auf den Kieswegen der Gärten beschäftigt. Der Villicus oder ländliche Haushofmeister überwacht alles; und mit einem scharfen Worte oder noch schärferem Hiebe läßt er viele leiden, um vielleicht nur einem einzigen Vergnügen zu verschaffen.
Endlich wurden die staubigen Landstraßen mit jeder Art von Fuhrwerk belastet, von dem schweren Karren, welcher die Möbelstücke transportierte und langsam und schwerfällig von Ochsen gezogen wurde, bis zu der leichten Kutsche und dem Kabriolett, mit welchen feurige Berber dahinrasten. Da selbst die besten Straßen nur eng und die Fuhrleute früherer Zeiten ebensowenig höflich und glattzüngig waren als jene unserer Tage, so können wir uns leicht vorstellen, welch ein Lärm, eine Verwirrung, ein Geschrei und Getobe auf den öffentlichen Landwegen herrschte. Unter diesen gab es keinen, welcher begünstigter gewesen wäre, als die anderen. Sabino, Tuskulum und die albanischen Berge waren alle mit prächtigen Villen oder bescheidenen Landhäusern, so wie sie ein Mäcenas oder ein Horaz bewohnen konnte, übersäet. Sogar die flache Campagna um Rom ist mit den Trümmern von Landhäusern ungeheurer Größe bedeckt; während sich von der Mündung des Tiber, an der Küste von Laurentum, Lanuvium und Antium bis nach Cajeta (Gaëta), Bajae und anderen vornehmen Badeorten am Fuße des Vesuvs eine förmliche Straße der schönsten Landhäuser hinzog. Aber auch weit über diese Grenzen hinaus, genügte das Terrain noch nicht, um dem periodischen Fieber der Römer für Landleben genügende Nahrung zu geben. Die Ufer des Benacus (jetzt der Lago Maggiore nördlich von Mailand), des Comersees und die herrlichen Ufer der Brenta erhielten ihre Besucher nicht nur aus den benachbarten Städten, und noch viel weniger bestanden diese aus Wanderern germanischen Ursprungs, sondern diese waren meistens Bewohner der kaiserlichen Hauptstadt.
Nach einem dieser »zärtlichen Augen Italiens«, wie Plinius jene Villen nennt,Ocelli Italiae. weil sie die größte Schönheit dieses gesegneten Landes bilden, war Fabiola am Tage nach der Zusammenkunft ihrer schwarzen Sklavin mit Corvinus geeilt, ehe noch das Gedränge auf der Landstraße begonnen hatte. Das Landhaus lag auf einem Abhange des Hügels, welcher sich nach der Bai von Gaëta herab senkt. Wie ihr Haus in der Stadt, zeichnete auch diese Villa sich durch den guten Geschmack aus, mit welchem die verschiedenartigsten und kostbarsten Elemente des Komforts, wenn auch nicht des Luxus, miteinander vereinigt waren.
Von der Terrasse an der Vorderseite der prächtigen Villa sah man hinab auf die stille, azurblaue Bai, um welche sich die blühendste aller Küsten zog; wie ein Spiegel in einem Rahmen von emaillierter und erhabener Arbeit lag sie da, belebt von den weißen, sonnenbestrahlten Segeln der Yachten, Galeeren, Vergnügungsboote und Fischerkähne; aus einigen dieser Fahrzeuge stieg das schallende Gelächter fröhlicher Ausflügler empor, aus anderen der Gesang oder die Harfentöne von großen Familiengesellschaften, oder die lauten scharfen und nicht allzufeinen Gassenhauer dieser verschiedenen »Pflüger der Tiefe«. Eine mit Schlingpflanzen bewachsene Galerie aus Gitterwerk führte hinab zu den Bädern an der Küste; und auf dem halben Wege nach dort befand sich eine Öffnung, welche auf einen Lieblingsplatz hinausging, der durch einen aus vorspringenden Felsen sprudelnden Quell immer frisch erhalten wurde. Dieser krystallhelle Wasserstrahl, welcher für einen Augenblick in einem von der Natur gebildeten Bassin zurückgehalten wurde, in welchem er wallte und rauschte und Blasen trieb, bis er endlich über den Rand desselben wieder von dannen rauschte, floß dann murmelnd und spielend in der denkbar ruhigsten Weise an der Seite der vergitterten Galerie entlang hinunter in das Meer. Zwei enorme Platanen warfen ihren Schatten auf diesen klassischen Boden, wie über den Lieblingsboden, wo Plato und Cicero ihre philosophischen Nachforschungen anstellten. Die schönsten und ausgewähltesten Blumen und Pflanzen aus fernen Ländern hatten gelernt, dies Fleckchen Erde zu ihrer Heimat zu machen, in welcher sie sowohl vor übergroßer Hitze wie vor Kälte geschützt waren.
Aus Gründen, welche wir später erklären werden, stattete Fabius dieser Villa selten mehr als einen fliegenden Besuch von zwei oder drei Tagen ab; und auch dann fanden diese nur statt, wenn er sich auf dem Wege nach irgend einem lustigeren, allgemein besuchten Orte der römischen Gesellschaft befand, an welchem er Geschäfte hatte oder doch solche zu haben vorgab. Seine Tochter war daher meistens allein und erfreute sich dieser köstlichen Einsamkeit. Außer einer wohlausgestatteten Bibliothek, welche sich stets in dem Landhause befand und meistens aus Werken landwirtschaftlichen Ursprungs und Abhandlungen über lokale Interessen bestand, wurde alljährlich ein Vorrat von Büchern aus alten Lieblingsschriftstellern und einigen leichteren Erzeugnissen des Jahres, von denen sie meistens schon eins der ersten Exemplare zu hohem Preise kaufte, bestehend, zusammen mit einer Menge kleinerer Kunstwerke, welche, in neuen Wohnräumen aufgestellt, dieselben sofort wohnlich und angenehm machen, aus Rom herbeigeschafft. Den größten Teil ihrer Morgenstunden brachte sie an dem obenbeschriebenen Lieblingsplätzchen zu, ein Bücherkästchen zur Seite, aus welchem sie bald den einen, bald den anderen Band wählte.
Wenn aber irgend ein Besucher sie in diesem Jahr überrascht hätte, so würde er erstaunt gewesen sein, sie stets in der Gesellschaft einer Gefährtin zu finden. Und diese war eine Sklavin!
Wir können uns ungefähr vorstellen, wie bestürzt sie gewesen, als Agnes ihr an dem Tage, welcher dem Mittagsmahl in ihres Vaters Hause folgte, mitteilte, daß Syra, obgleich ihr die verlockende Aussicht auf Freiheit gestellt worden, sich geweigert habe, ihren Dienst zu verlassen. Und noch erstaunter war sie, als sie vernahm, daß der Grund dieser Weigerung die Liebe des Mädchens zu ihr sei. Sie konnte unmöglich das freudige Bewußtsein haben, diese Anhänglichkeit durch irgend eine gütige That oder auch nur durch einfache Erkenntlichkeit für die Pflege errungen zu haben, welche die Dienerin ihr während einer schweren Krankheit gewidmet hatte. Sie neigte also anfangs dazu, Syra einfach für eine Närrin zu halten. Aber damit konnte sie ihr Gemüt doch nicht beruhigen. Allerdings hatte sie zuweilen von Beispielen gelesen, wo Sklaven selbst für grausame und tyrannische Herren Treue und Ergebenheit gehegt hatten, aber diese waren immer nur als Ausnahmen von der allgemeinen Regel aufgeführt worden. Und was waren denn ein Dutzend Fälle von Liebe in so vielen Jahrhunderten, im Verhältnis zu den täglichen zehntausend Fällen von Haß und Rachsucht, deren Zeugin sie war? Und doch war das, was sie hier sah, klar und greifbar, und es machte einen tiefen Eindruck auf sie. Sie wartete noch einige Zeit und beobachtete ihre Dienerin scharf, um zu sehen, ob sie in ihrem Betragen irgend welche Mienen oder Symptome entdecken könne, welche darauf schließen ließen, daß sie glaubte, eine große That begangen zu haben, für welche ihre Herrin ihr Dankbarkeit schuldig sei. Aber sie entdeckte nicht das geringste. Syra erfüllte ihre sämtlichen Pflichten mit demselben einfachen Fleiße und verriet niemals durch das leiseste Zeichen, daß sie sich weniger für eine Sklavin halte als bisher. Fabiolas Herz wandte sich ihr mehr und mehr zu. Und jetzt begann sie das, was sie in ihrer Unterhaltung mit Agnes noch als unmöglich bezeichnet hatte – nämlich eine Sklavin zu lieben – nicht mehr ganz so schwierig zu finden. Außerdem hatte sie noch einen zweiten Beweis gefunden, daß es etwas in der Welt gab, was uneigennützige Liebe heißt, Liebe, welche auf keine Erwiderung hofft und wartet.
Nach jenem denkwürdigen Gespräch mit ihrer Sklavin, welches wir in einem der ersten Kapitel unseres Buches wiedergegeben haben, hatte Fabiola deren noch verschiedene mit Syra gepflogen und war darüber ins reine gekommen, daß diese Dienerin eine ausgezeichnete Erziehung genossen haben müsse. Sie war indessen zu rücksichtsvoll, um sie über ihre Vergangenheit zu befragen, besonders da viele Herren, um den Wert ihrer jungen Sklavinnen zu erhöhen, diesen häufig eine gute Erziehung angedeihen ließen. Bald entdeckte sie aber auch, daß sie die griechischen und lateinischen Schriftsteller mit Leichtigkeit und feinem Verständnis las und beide Sprachen sogar richtig schrieb. Nach und nach verbesserte sie ihre Stellung zum großen Ärgernis der übrigen Sklavinnen; sie befahl Euphrosyne, ihr ein besonderes Zimmer anzuweisen, und dies war ein großer Trost und eine bedeutende Erleichterung für das arme Mädchen; überdies beschäftigte sie sie bald als Sekretär und Vorleserin. Trotzdem bemerkte sie keine Veränderung in ihrem Benehmen, keinen Hochmut, keine Anmaßung, denn in demselben Augenblick, wo sich ihr irgend eine Arbeit von der niederen Art bot, wie sie ihr früher zuerteilt worden, schien es ihr doch niemals einzufallen, sie irgend jemand anders zuzuschieben, sondern machte sich sofort fröhlich und zufrieden daran, sie zu erledigen.
Wie schon früher bemerkt worden, war die Lektüre, mit welcher Fabiola sich beschäftigte, meistens sehr schwer zu begreifender und klügelnder Art, da sie zum größten Teil aus philosophischer Litteratur bestand. Sie war indessen erstaunt zu sehen, wie ihre Sklavin oft durch eine einfache Bemerkung einen anscheinend unumstößlichen Grundsatz widerlegte, eine hochtönende Phrase tugendhafter Deklamation entkräftete oder eine höhere Ansicht über moralische Wahrheiten durch Meinungsaustausch anregte oder eine praktischere Handlungsweise vorschlug, als jene Schriftsteller, welche sie bis jetzt so aufrichtig bewundert, in ihren Büchern vorschlugen. Dies geschah indessen nicht durch eine in die Augen fallende Schärfe der Urteilskraft oder durch beißenden Witz, noch schien es tiefem Nachdenken oder vielem Lesen oder dem Vorzug einer guten Erziehung zu entspringen. Denn obgleich sie von all diesem Spuren in Syras Worten, Gedanken und Benehmen sah, so waren die Bücher und Doktrinen, welche sie jetzt las, augenscheinlich neu für sie. Aber der Charakter ihrer Dienerin schien eine verborgene, jedoch untrügliche Richtschnur der Wahrheit in sich zu tragen, einen Hauptschlüssel, der stets jedes verschlossene Gewahrsam moralischer Weisheit öffnete; eine gutgestimmte Saite, welche in unfehlbarem Einklang mit allem, was gut und recht war, vibrierte, jedoch einen schrillen Mißklang hervorbrachte mit dem, was da unrecht, lasterhaft oder auch nur nachlässig war.
Dieses Geheimnis wollte und mußte sie entdecken; es gab ihr zu größeren, ernsteren Betrachtungen Anlaß, als irgend etwas, das ihr bis jetzt im Leben begegnet war. Sie war noch nicht so weit, um zu lernen, daß der letzte und geringste im Himmelreiche (und was konnte geringer sein als eine Sklavin?) größer an geistiger Wahrheit, an Licht der Seele und himmlischen Gaben war, als selbst der Vorläufer Johannes.Ev. Matth. Kap. 12, V. 11.
Es war an einem herrlichen Oktobermorgen, als Herrin und Dienerin sich am Brunnen gelagert hatten und wiederum mit Lesen beschäftigt waren. Erstere ward inzwischen bald der Schwerfälligkeit und des Ernstes ihres Buches müde und suchte in ihrem Bücherkästchen nach etwas leichterem und neuerem. Endlich zog sie ein Manuskript aus dem Behälter und indem sie es der Sklavin reichte, sagte sie:
»Hier, Syra, lege jenes dumme Buch beiseite. Hier ist etwas, das sehr interessant sein soll, wie man mir sagt; und es ist erst vor kurzem geschrieben. Es wird für uns beide neu sein.«
Die Dienerin that wie ihr befohlen, sah den Titel des neuen Buches an und errötete. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die ersten Zeilen und fand ihre Befürchtungen vollauf bestätigt. Sie sah, daß es eins jener nichtswürdigen Werke war, welche, wie der heilige Justinus klagte, frei cirkulieren durften, obgleich sie im höchsten Grade unmoralisch waren und alles verspotteten, was Tugend hieß; während jedes christliche Buch unterdrückt oder soviel wie möglich beschränkt wurde. Mit ruhiger Entschlossenheit legte sie das Buch wieder fort und sagte:
»Meine teure Herrin, verlange nicht von mir, daß ich dir aus diesem Buche vorlese. Ich darf es weder vorlesen, noch darfst du es anhören.«
Fabiola war erstaunt. – Sie hatte niemals davon gehört oder auch nur daran gedacht, daß sie ihren Studien irgend welche Beschränkungen auferlegen müsse. Was man in unseren Tagen für die gewöhnliche Lektüre als durchaus unpassend und unerlaubt halten würde, bildete damals einen Teil der gangbaren und modischen Litteratur. Dies beweisen von Horaz bis zu Ausonius alle klassischen Schriftsteller. Und welche, wenn auch noch so strenge Tugend, hätte diese Lektüre unzart erscheinen lassen sollen? Sie beschrieb mit der Feder ja nur ein System der Moral, welches der Meißel und der Pinsel jede Stunde jedem Auge vertraut machten! Fabiola besaß keinen erhabeneren Maßstab für Recht und Unrecht als jenen, welchen das System, unter dem sie erzogen war, ihr geben konnte.
»Welchen Schaden könnten wir denn darunter erleiden?« fragte sie lächelnd. »Ich zweifle durchaus nicht daran, daß in jenem Buche eine Menge böser Thaten und entsetzlicher Verbrechen beschrieben werden; aber das wird uns doch nicht dazu verleiten, sie ebenfalls zu begehen. Und inzwischen finde ich es außerordentlich unterhaltend, über sie, als von anderen begangen, zu lesen.«
»Würdest du sie denn unter irgend welchen Umständen begehen?«
»Nicht um alle Schätze der Welt.«
»Aber ihr Bild muß deine Phantasie beschäftigen, wenn du sie vorlesen hörst. Da sie dich unterhalten, müssen deine Gedanken bei ihnen verweilen und zwar mit Vergnügen.«
»Gewiß, und was weiter?«
»Jene Bilder sind Sünde, jene Gedanken Verderbtheit.« »Wie ist das möglich? Die Sünde bedarf doch erst einer That, um Sünde zu werden?«
»Gewiß, meine Herrin. Und was ist die That des Geistes, oder wie ich sage, der Seele, anderes als der Gedanke? Eine Leidenschaft, welche den Tod wünscht, ist die, wenn auch unsichtbare That jener unsichtbaren Gewalt; der Schlag, welcher ihn ausführt, ist nur die mechanische That des Körpers, die eben so sichtbar ist, wie ihr Ausgangspunkt! Aber welche Macht gebietet – und welche gehorcht? Welche von ihnen trägt die Verantwortlichkeit der schließlichen Wirkung?«
»Ich verstehe dich,« sagte Fabiola nach einer kurzen Pause verletzten Schweigens. »Aber es bleibt noch ein Bedenken übrig. Du behauptest, es bestehe eine Verantwortlichkeit sowohl für die innere wie für die äußere That. Aber wem gegenüber? Wenn die sichtbare That auf die unsichtbare folgt, so giebt es eine doppelte Verantwortlichkeit für beide, der Gesellschaft, den Gesetzen, den Grundsätzen der Gerechtigkeit, dem eigenen Selbst gegenüber, denn traurige Resultate werden daraus entstehen. Wenn aber nur die unsichtbare That besteht, wem gegenüber kann es da eine Verantwortlichkeit geben? Wer sieht sie? Wer kann sich anmaßen, sie verdammen zu wollen? Wer kann sie ergründen?«
»Gott!« antwortete Syra mit einfachem Ernst.
Fabiola war enttäuscht. Sie hatte erwartet, von einer ganz neuen Lehre, irgend einem Aufsehen erregenden Grundsatz zu hören. Anstatt dessen waren sie bei dem angekommen, was, wie sie befürchtete, bloßer Aberglaube war, wenn sie auch bereits einsehen gelernt, daß dieser nicht ganz so stark, wie sie ihn einst beurteilt.
»Wie, Syra, du glaubst also wirklich an Jupiter und Juno oder vielleicht Minerva, die doch so ziemlich die anständigste der ganzen olympischen Familie ist? Glaubst du wirklich, daß sie irgend etwas mit unseren Angelegenheiten zu thun haben?«
»In der That weit entfernt davon. Ich verachte und verabscheue sogar ihre Namen und ich hasse die Schlechtigkeit, welche durch ihre Geschichte oder Fabel auf Erden symbolisiert wird. Nein, ich spreche nicht von Göttern und Göttinnen, sondern von einem einzigen Gott.«
»Und wie nennt ihr ihn in eurem System, Syra?«
»Er hat keinen anderen Namen als Gott; und diesen haben Ihm die Menschen nur gegeben, um überhaupt von Ihm sprechen zu können. Denn der Name bezeichnet weder Sein Wesen noch Seine Eigenschaften, noch Seinen Ursprung.«
»Und diese wären?« fragte die Herrin, deren Neugierde erwacht war.
»Einfach wie das Licht ist Sein Wesen; ein und dasselbe überall, unteilbar, unbefleckt, erforschend, allgegenwärtig, und unbegrenzt. Er war bevor es einen Anfang gab, Er wird sein lange nachdem das Ende gewesen. Macht, Weisheit, Güte, Kraft, Liebe und auch Gerechtigkeit sind Sein eigen Seinem Wesen nach, und sie sind so grenzenlos und unendlich wie Er. Nur Er allein kann schaffen, Er allein kann erhalten, Er allein kann zerstören.«
Fabiola hatte sehr oft von den begeisterten Blicken einer Sibylle oder einer Orakelverkünderin gelesen; gesehen hatte sie sie indessen bis zu diesem Augenblick noch nicht. Das Antlitz der Sklavin glühte, ihre Augen strahlten in ruhigem Glanze, ihre Gestalt war unbeweglich, die Worte strömten ihr von den Lippen, als seien diese nur ein musikalisches Rohr, welches durch den Atem eines anderen tönen gemacht wurde. Ihr Ausdruck und ihr Wesen erinnerten Fabiola mächtig an jenen zerstreuten, abwesenden und geheimnisvollen Blick, welcher ihr oft an Agnes aufgefallen war; und obgleich er bei jenem Kinde anmutiger und zärtlicher war, so erschien er bei dieser Dienerin ernster und orakelhafter.
»Welch ein enthusiastisches, orientalisches Temperament sie hat, wahrlich!« dachte Fabiola, als ihr Blick auf ihrer Sklavin ruhte. »Kein Wunder, daß man den Osten für das Land der Poesie und der Begeisterung hält.«
Als sie gewahrte, daß die sichtliche Spannung Syras nachgelassen hatte, sagte sie in dem leichtesten unbefangensten Ton, der ihr für den Augenblick zu Gebote stand:
»Aber Syra, kannst du dir denn vorstellen, daß ein Wesen solcher Art, wie du es mir beschrieben, das weit über den Begriff einer alten Fabel oder Sage hinausgeht, sich fortwährend damit beschäftigen kann, die Thaten, ja selbst die bedeutungslosesten Gedanken von Millionen von Geschöpfen zu bewachen?«
»Es ist keine Beschäftigung, Herrin, es ist auch keine freie Wahl. Ich nannte Ihn Licht. Ist es denn eine Beschäftigung oder eine Arbeit für die Sonne, wenn sie ihre Strahlen durch das krystallhelle Wasser dieses Brunnens sendet und sogar die Kieselsteine auf seinem Grunde erkennen läßt? Sieh nur, wie sie nicht allein das schöne, sondern auch das garstige und unreine aufdecken, welches dort unten seine Zuflucht gefunden hat; nicht nur die Funken, welche die herabfallenden Tropfen aus dem rauhen Felsgestein des Ufers zu schlagen scheinen; nicht nur die perlengleichen Bläschen, welche nur an die Oberfläche steigen, einen Augenblick glitzern und dann zerplatzen; nicht nur die goldenen Fischlein, welche sich in ihrem Lichte sonnen – sondern auch schwarzes, widerliches, kriechendes Gewürm, welches sich dort unten in den dunklen, schlammigen Winkeln zu verbergen sucht und es doch nicht kann, weil das Licht sie überall hin verfolgt. Und ist alles dies Mühsal oder Arbeit oder Beschäftigung für die Sonne, welche scheint? Viel mehr Mühseligkeit würde es für sie sein, wenn sie ihre Strahlen an der Oberfläche des durchsichtigen Elements zurückhalten und sie verhindern sollte, ihr Licht bis auf den Grund zu werfen. Und was sie hier thut, das thut sie auch am nächsten Strom mit derselben Leichtigkeit, und auch an dem, welcher tausend Meilen von hier entfernt ist; und keine nur denkbare Zunahme ihrer Zahl oder ihres Umfanges könnte uns glauben oder vermuten lassen, daß Strahlen fehlen oder Licht mangeln könnte, um sie alle, alle zu erforschen und bis auf den Grund zu prüfen.«
»O Syra, deine Theorien sind immer schön, und wenn sie wahr sind, höchst bewundernswert,« bemerkte Fabiola nach einer Pause, während welcher ihre Augen unverweilt auf dem Quell geruht hatten, als wollte sie die Wahrheit der Worte Syras auf die Probe stellen.
»Und sie klingen wie Wahrheit,« fügte sie hinzu, »denn könnte Unwahrheit schöner sein als Wahrheit? Aber welch ein furchtbarer Gedanke ist es, das man niemals eine Minute allein gewesen, niemals einen geheimen Wunsch gehegt, niemals eine einzige Betrachtung für sich allein angestellt hat, niemals die thörichte Phantasie eines hochmütigen oder kindischen Hirns vor Ihm hat verbergen können, der keine Unvollkommenheit kennt. Furchtbarer Gedanke, daß man, wenn du die Wahrheit sprichst, stets unter dem unabgewandten Blicke eines Auges lebt, im Vergleich zu dem die Sonne nur ein Schatten ist; denn sie kann nicht in die Seele eindringen! Er genügt, um mich an irgend einem Abend Selbstmord begehen zu lassen, nur um dieser qualvollen Überwachung zu entgehen! Und doch klingt alles so wahr!«
Fabiola sah beinahe wild aus, als sie diese Worte sprach. Der Stolz ihres heidnischen Herzens bäumte sich wie rasend empor; und sie empörte sich gegen die Hypothese, daß sie sich niemals wieder allein mit ihren eigenen Gedanken fühlen könne, oder daß es irgend eine Macht geben solle, welche über ihre innersten Wünsche, Einbildungen und Launen herrschen könne. Und doch kehrte ihr der Gedanke immer und immer wieder: »Aber es klingt so wahr!«
Ihr edler Geist kämpfte gegen die qualvolle Leidenschaft, wie ein Adler mit einer Schlange; mehr mit dem Auge als mit Schnabel und Krallen den furchtsamen Feind besiegend. Nach einem Kampfe, welcher sich auf ihrem Antlitz und in ihren Bewegungen verriet, bemächtigte die Ruhe sich ihrer wieder. Zum erstenmal schien sie die Gegenwart eines Wesens zu empfinden, welches größer als sie selbst, welches sie fürchtete – und trotzdem lieben zu können wünschte. Sie legte ihren Geist und ihren Verstand Ihm zu Füßen; und auch ihr Herz gestand zum erstenmale, daß es seinen Meister und Herrn gefunden.
Mit ruhiger Intensivität des Gefühls beobachtete Syra die Wirkungen ihrer Worte auf das Gemüt ihrer Herrin. Sie wußte, wieviel von ihrem Erfolge abhing, welch einen mächtigen Schritt auf dem Wege der Religion ihre ahnungslose Schülerin machen müßte, wenn sie die Wahrheit der Worte Syras anerkennen würde; und inbrünstig bat sie um diese Gnade.
Endlich erhob Fabiola das Haupt, welches sie zusammen mit ihrer Seele gebeugt zu haben schien, und mit anmutiger Freundlichkeit sagte sie:
»Syra, ich bin fest überzeugt, daß ich den tiefsten Grund deiner Wissenschaft noch lange nicht erreicht habe; du mußt noch mehr zu lehren haben.« (Eine Thräne und ein tiefes Erröten schafften der armen Dienerin Erleichterung.) Aber heute hast du meinen Gedanken ein neues Leben, eine neue Welt eröffnet: eine neue Sphäre der Tugend, welche über das Urteil und die Meinungen der Menschen hinausgeht, das Bewußtsein, daß es eine prüfende, gutheißende und belohnende Macht giebt – nicht wahr, so meintest du es? (Syra nickte Beifall) – welche uns zur Seite steht, wenn kein anderes Auge uns sehen oder zurückhalten oder ermutigen kann; ein Gefühl, daß selbst, wenn wir für immer in abgeschlossener Einsamkeit lebten, wir stets dieselben bleiben würden, weil dieser Einfluß auf uns selbst die stärksten, unerschütterlichsten, menschlichen Grundsätze überwinden, uns führen müßte und uns niemals wieder verlassen könnte. Und so erhaben ist die moralische Stellung, zu welcher sie jedes Individuum emporheben würde, wenn ich deine Theorie recht verstehe. Unter derselben zu stehen, selbst wenn man ein äußerlich tugendhaftes Leben führt, wäre nichts als Betrug und positive Schlechtigkeit. Ist es nicht so?«
»O meine teure Herrin,« rief Syra aus, »wieviel besser du alles dies in Worte kleiden kannst als ich!«
»Du hast mir noch niemals geschmeichelt, Syra,« entgegnete Fabiola lächelnd, »fang jetzt nicht damit an. Aber durch dich ist mir ein neues Licht über andere Gegenstände aufgegangen, welche mir bis heute dunkel waren. Sag mir jetzt, war es nicht dies, was du meintest, als du mir einst sagtest, daß deiner Ansicht nach kein Unterschied zwischen Herrin und Sklavin bestände? Du wolltest damit sagen, daß, da es nur ein äußerer, körperlicher und socialer Unterschied ist, so fällt er durchaus nicht in die Wage jener Gleichheit gegenüber, welche vor eurem höheren Wesen besteht, und er bedeutet nichts im Vergleich zu jener moralischen Überlegenheit, welche jenes Wesen möglicherweise dem einen im umgekehrten Verhältnis zu dem äußeren sichtbaren Range beider zuerkennen würde?«
»Ja, das war es zum größten Teil, meine edle Gebieterin; obgleich dieser Gedanke noch andere Betrachtungen in sich schließt, welche dich augenblicklich kaum interessieren würden.«
»Und doch, als du jene Ansicht aussprachst, erschien sie mir so ungeheuerlich, so albern, so unerhört, daß Stolz und Zorn die Oberhand in mir gewannen. Erinnerst du dich dessen wohl noch? Sprich, Syra.«
»O nein, nein, nein!« rief die sanftmütige Dienerin aus; »o, ich bitte dich, sprich niemals wieder davon!«
»Hast du mir jenen Tag vergeben, Syra?« fragte die Gebieterin mit einer Rührung, welche etwas ganz neues für sie war.
Die arme Sklavin war überwältigt. Sie erhob sich und warf sich vor ihrer Herrin auf die Kniee und versuchte die Hand derselben zu erfassen; aber diese verhinderte es, und zum erstenmale sank Fabiola an die Brust einer Sklavin und weinte bitterlich.
Ihre Thränen flossen lange und unaufhaltsam. Ihr Gemüt sänftigte sich mehr und mehr; ihr Herz siegte über den Verstand. Endlich wurde sie wieder ruhig, und als sie sich den Armen der Dienerin entwand, sagte sie:
»Noch eins, Syra. Darf man dieses Wesen, welches du nur beschrieben hast, in Anbetung anreden? Ist es nicht zu groß, zu erhaben, zu fern dazu?
»O, durchaus nicht, meine edle Herrin,« antwortete die Dienerin, »Er ist niemandem von uns fern, denn so wie wir in dem Licht Seiner Sonne leben und uns bewegen und unser Wesen haben, so leben und atmen wir auch in dem Glanze Seiner Macht, Seiner Güte und seiner Weisheit.
»Und daher dürfen wir ihn anreden, nicht als wäre Er weit entfernt, sondern um uns und in uns, gleichsam wie wir in Ihm sind. Und Er hört uns nicht mit Ohren, sondern unsere Worte fallen sofort in Seinen Busen, und die Wünsche unseres Herzens senken sich augenblicklich in den göttlichen Abgrund des Seinen.«
»Aber,« fuhr Fabiola ein wenig scheu und verlegen fort, »giebt es nicht irgend einen großen Akt der Art – wie zum Beispiel das Opfer ist – durch den er öffentlich angebetet wird?«
Syra zögerte, denn das Gespräch schien auf heiligen und geheimnisvollen Boden hinüberzuschweifen, welchen die Kirche einem profanen Fuße niemals öffnete. Doch gleich darauf antwortete sie einfach und allgemein bejahend.
»Und könnte ich nicht,« fragte die Herrin noch bescheidener und demütiger, »so weit in eurer Schule unterrichtet werden, daß ich diese erhabene Huldigung mit darbringen dürfte?«
»Ich fürchte, nein, edle Fabiola; denn man muß durchaus ein Opfer bringen, welches der Gottheit würdig ist.«
»O, gewiß, gewiß! ich begreife!« entgegnete Fabiola. »Ein Stier mag gut genug für Jupiter sein oder eine Ziege für Bacchus, wo aber könnte man ein Opfer finden, welches Dessen wert wäre, den du mich kennen gelehrt hast?«
»Es muß allerdings eines sein, welches Seiner in jeder Weise würdig wäre; ohne Flecken in seiner Reinheit, unfaßbar in seiner Größe, ohne Gleichen in seiner Annehmbarkeit.«
»Und was kann das sein, Syra?«
»Nur – Er selbst.«
Fabiola schlug beide Hände vor das Gesicht; nach einer kurzen Pause blickte sie ernst in Syras Antlitz und sagte zu ihr:
»Ich bin überzeugt, daß, nachdem du mir so klar das tiefe Bewußtsein der Verantwortlichkeit beschrieben hast, in welchem du gewöhnlich sprichst und handelst, du eine große Bedeutung in diese furchtbaren Worte gelegt haben mußt, obgleich ich dich jetzt noch nicht verstehen kann.«
»So gewiß, wie jedes Wort, das ich spreche gehört wird, so gewiß, wie jeder meiner Gedanken gesehen wird – so gewiß liegt eine tiefe Wahrheit in dem, was ich gesprochen habe.«
»Ich habe nicht die Kraft, jetzt noch weiter über den Gegenstand zu sprechen; mein Geist bedarf der Ruhe.«