Kardinal Wiseman
Fabiola oder Die Kirche der Katakomben
Kardinal Wiseman

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Die Wegzehrung

Einen starken Gegensatz zu dem Toben und Streiten, welches draußen vor sich ging, bildete die Scene innerhalb des Gefängnisses. Friede, Heiterkeit, Gelassenheit, Frohsinn und Freude herrschten hier; die rauhen Steinmauern und Gewölbe tönten wieder von dem Absingen der Psalmen, welche Pancratius anstimmte, und in welchen der Abgrund dem Abgrunde zurief, denn die Gefangenen in dem unteren Kerkerloch stimmten in den Gesang der Psalter ein.

Der Vorabend des »Kampfes« mit den wilden Tieren – dieser »Kampf« bedeutete nichts anderes als »zerrissen werden«, war immer ein Tag größerer Freiheit. Die Angehörigen und Freunde der auserwählten Opfer wurden zugelassen, um diese noch einmal zu sehen; und die Christen machten sich diese Erlaubnis im vollen Umfange zu Nutzen; sie zogen in Strömen nach dem Gefängnis und empfahlen sich den Gebeten der Bekenner Christi. Am Abend wurden sie hinaus geführt, um das zu genießen, was ein »freies Mahl« genannt wurde; das war ein reichliches und sogar üppiges, öffentliches Mahl. Die Tafel war von Heiden umgeben, welche begierig waren, das Verhalten und die Mienen der Fechter des nächsten Tages zu beobachten. Aber sie sahen weder die Prahlerei und das Toben, noch die Bitterkeit und Niedergeschlagenheit gewöhnlicher Verbrecher. Für die Gäste war es in der That eine agape oder Liebesmahl, denn sie speisten unter fröhlichen Gesprächen in freudiger Ruhe.

Pancratius konnte jedoch nicht umhin, über diese rohe, gefühllose Neugierde und die hämischen Bemerkungen der Menge ein- oder zweimal einen scharfen Verweis zu erteilen; er sagte:

»Der morgende Tag ist noch nicht genug für euch, weil es euch unsagbare Freude gewährt, auf die Gegenstände eures künftigen Hasses zu blicken. Heute seid ihr unsere Freunde, morgen unsere Feinde. Aber merkt euch unsere Gesichter wohl, damit ihr sie am Tage des Gerichts wieder erkennt.«

Viele der Umstehenden zogen sich nach diesem Verweise zurück, und nicht wenige wurden durch ihn zur Bekehrung geführt.

Aber während die Verfolger auf diese Weise ein Fest für die Körper ihrer Opfer vorbereiteten, hatte die Kirche, ihre Mutter, für ein viel köstlicheres Mahl Sorge getragen, ein Mahl, das für die Seelen ihrer Kinder bestimmt war. Die Diakone, besonders Reparatus, welcher sich freudig zu ihnen gesellt haben würde, waren bis dahin unablässig um sie beschäftigt gewesen. Jetzt aber verbot seine Pflicht ihm dies. Nachdem er daher so gut wie möglich für ihre zeitlichen Bedürfnisse gesorgt hatte, kam er mit dem frommen Priester Dionysius, welcher noch in Agnes Hause wohnte, überein, gegen Abend hinreichende Anteile vom Brote des Lebens zu senden, um früh am Morgen der Schlacht die Kämpfer Christi damit zu stärken. Obgleich die Diakonen die konsekrierten Elemente von der Hauptkirche nach anderen trugen, wo sie nur durch die Titularpriester ausgeteilt wurden, so lag das Amt, dieselben zu den Märtyrern im Gefängnisse oder zu den Sterbenden zu tragen, den niederen Priestern ob. An diesem Tage, wo die feindlichen Leidenschaften des heidnischen Rom so ungewöhnlich erregt waren durch das bevorstehende Blutbad so vieler christlicher Opfer, war es ein Werk, das mehr als gewöhnliche Gefahr in sich barg, diese Pflicht zu erfüllen. Denn durch die Enthüllungen des Torquatus war es bekannt geworden, daß Fulvius sich alle im Heiligtum anwesenden Priester gemerkt und seinen unzähligen sehr rührigen Spionen eine Beschreibung von ihnen gemacht hatte. Daher konnten sie sich bei Tage ohne genügende Verkleidung kaum hinauswagen.

Das heilige Brot wurde vorbereitet, und der Priester wandte sich vom Altar, auf welchem es lag, um zu sehen, wer wohl der sicherste Überbringer sein könne. Bevor noch ein anderer hervortreten konnte, kniete bereits der junge Akolythgehilfe Tarcisius zu seinen Füßen. Mit emporgestreckten Händen, bereit das anvertraute heilige Pfand entgegen zu nehmen, mit einem Antlitz, das in seiner rührenden Unschuld strahlend schön wie das eines Engels war, schien er nicht nur um diesen Vorzug zu bitten, sondern ihn beinahe zu fordern.

»Du bist zu jung, mein Kind,« sagte der gütige Priester von Bewunderung für das sich ihm darbietende Bild erfüllt.

»Meine Jugend, heiliger Vater, wird meine beste Beschützerin sein. O! verweigere mir diese hohe Ehre nicht!«

Thränen glänzten in den Augen des Knaben und seine Wangen glühten in bescheidener Rührung, als er diese Worte sprach. Eifrig streckte er die Hände aus, und seine Bitte war so voll Innigkeit und Mut, daß ein Widerstand ganz unmöglich war. Der Priester hüllte die heiligen Geheimnisse sorgsam in ein Tuch von seinem Linnen, dann in eine äußere Decke, legte sie in seine Hände und sagte:

»Vergiß nicht Tarcisius, daß ein unermeßlicher Schatz deiner schwachen Kraft anvertraut ist. Vermeide alle öffentlichen Plätze auf deinem Wege und vergiß nicht, daß heilige Dinge nicht den Hunden gegeben, Perlen nicht den Schweinen vorgeworfen werden dürfen. Wirst du die heiligen Gaben Gottes sicher behüten?«

»Ich werde eher sterben als sie verraten,« antwortete der fromme Jüngling, indem er das himmlische Gut in den Falten seines Überwurfs verbarg und sich mit fröhlicher Ehrfurcht auf den Weg machte. Auf seinen Zügen lagerte ein Ernst, welcher weit über den gewöhnlichen Gesichtsausdruck seiner Jahre hinausging, als er leichtfüßig durch die Straßen trippelte, dabei gleichmäßig die belebtesten wie die besonders einsamen Gassen vermeidend.

Als er sich der Thür eines großen Wohnhauses näherte, sah dessen Gebieterin, eine reiche Dame ohne Kinder, ihn daherkommen. Ihr fiel seine Schönheit und seine Sanftmut auf, als er mit auf der Brust gekreuzten Armen dahineilte.

»Warte einen Augenblick, teures Kind, nenne mir deinen Namen und sag' mir, wo deine Eltern sind,« sagte sie, ihm den Weg vertretend.

»Ich bin Tarcisius, ein Waisenknabe,« erwiderte er, lächelnd emporblickend, »und ich habe keine Eltern und kein Heim außer dem einen, von dem zu hören dir vielleicht mißfallen könnte.«

»So tritt in mein Haus und ruhe dich aus. Ich will mit dir reden. O, wenn ich ein Kind hätte, das dir gleich wäre!«

»Nicht jetzt, edle Dame, nicht jetzt! Mir ist eine schwere und heilige Pflicht auferlegt worden, und ich darf nicht einen Augenblick verweilen.«

»So versprich mir, morgen wieder zu kommen; dies hier ist mein Haus.«

»Wenn ich am Leben bin, so werde ich kommen,« antwortete der Knabe mit strahlendem Blick, so daß er ihr wie ein Bote aus einer höheren Sphäre erschien. Sie blickte ihm noch lange nach, und nachdem sie einen kurzen Augenblick mit sich zu Rate gegangen war, beschloß sie, ihm zu folgen. Bald darauf aber schlug das Getöse eines Tumults, untermischt mit Angstgeschrei, an ihr Ohr. Sie hielt auf ihrem Wege inne, bis dieses wieder verstummt war, dann schritt sie von neuem vorwärts.

Inzwischen eilte Tarcisius weiter. Seine Gedanken beschäftigten sich mit besseren Dingen als mit dem Reichtum jener Dame. Gleich darauf gelangte er auf einen freien Platz, wo Knaben, welche soeben aus der Schule entlassen waren, zu spielen begannen.

»Wir brauchen noch einen zu unserem Spiel. Woher sollen wir den nehmen?« fragte ihr Anführer.

»Prächtig!« rief ein anderer, »hier kommt grade Tarcisius, den ich seit Menschengedenken nicht gesehen habe. Er pflegte in all diesen Spielen sehr gewandt zu sein. Komm Tarcisius,« fügte er hinzu, indem er diesen beim Arm faßte und ihn aufhielt, »wohin denn so schnell? Nimm doch an unserem Spiel teil! Thu's uns zu Liebe.«

»Jetzt kann ich nicht, mein guter Petilius, in der That, ich darf nicht. Ich habe ein Geschäft von großer Wichtigkeit vor.«

»Aber du mußt,« rief der erste Sprecher, ein großer, starker, lärmender Knabe, und packte ihn an. »Ich dulde keine wunderlichen Launen, wenn ich irgend etwas gethan haben will. Komm augenblicklich und spiel mit uns!«

»Ich flehe dich an,« sagte der arme Jüngling mit innigem Ton, »laß mich fort.«

»Durchaus nicht,« erwiderte der andere. »Was hast du da so sorgsam in deinen Brustfalten versteckt? Einen Brief vermutlich; nun, dem wird es nichts schaden, wenn er eine halbe Stunde später an Ort und Stelle kommt. Gieb ihn her, ich werde ihn sorgsam beiseite legen während wir spielen.«

Und mit diesen Worten griff er nach dem heiligen anvertrauten Gut, das der Knabe auf der Brust trug.

»Niemals, niemals,« antwortete das Kind und warf einen Blick zum Himmel empor.

»Ich muß und will sehen, was du dort verbirgst,« fuhr der andere beharrlich in rohem Tone fort, »ich muß dies wundersame Geheimnis kennen.«

Und dabei begann er, frech an ihm zu zerren. Bald waren sie von einem Haufen Männer aus der Nachbarschaft umgeben, und alle fragten neugierig, was geschehen sei. Sie sahen einen Knaben mit auf der Brust gekreuzten Armen, der mit übernatürlicher Kraft ausgestattet schien, denn er Widerstand jeder Anstrengung, welche sein viel größerer und stärkerer Gegner machte, um ihm das zu entreißen, was er trug. Stöße, Schläge, Püffe, Fußtritte – alles das schien er kaum zu fürchten. Er ertrug alles ohne Murren und ohne Versuch, Wiedervergeltung zu üben; aber er blieb unerschütterlich in seinem Vorsatze.

»Was giebt es? Was kann es sein?« begann einer den andern zu fragen, als Fulvius zufällig des Weges kam und zu dem Kreise trat, welcher sich um die Kämpfenden gebildet hatte. Er kannte sofort den Tarcisius wieder, welchen er bei der Ordination gesehen hatte; und da man an ihn, den besser Gekleideten, dieselbe Frage richtete, entgegnete er verächtlich, indem er sich auf dem Absatze umwandte:

»Was es giebt? Was es sein kann? Nur ein christlicher Esel, welcher die Geheimnisse trägt!«Asinus portans mysteria, ein lateinisches Sprichwort.

Dies war genug. Fulvius, welcher solche nutzlose Beute verachtete, kannte die Wirkung seiner Worte sehr wohl. Die heidnische Begierde, die Geheimnisse der Christen enthüllt zu sehen und sie beschimpfen zu können, war geweckt, und die allgemeine Forderung wurde an Tarcisius gestellt, seine Bürde herauszugeben.

»Niemals, so lange ich lebe!« war seine einzige Antwort.

Ein schwerer Schlag von der Faust eines Schmieds betäubte ihn fast, während das Blut aus der Wunde quoll. Dann folgte noch einer und noch einer, bis er mit Beulen und Quetschungen bedeckt, jedoch die Arme noch immer fest auf der Brust gekreuzt, schwer zu Boden fiel. Der Pöbel drängte sich um ihn zusammen und war grade im Begriff, ihn zu packen und das dreimal heilige ihm anvertraute Gut auseinander zu reißen, als eine gigantische Faust sich einen Weg bahnte und das Gedränge nach links und nach rechts auseinander teilte. Einige taumelten nach der gegenüberliegenden Seite des Platzes hinüber, andere wirbelten umher, sie wußten selbst nicht wie, bis sie umsanken, und die übrigen machten einem athletischen Offizier, welcher der Urheber dieser Niederlage war, freiwillig Platz. Kaum hatte er den Ort gesäubert, als er auf die Kniee fiel und mit Thränen in den Augen den verwundeten, sterbenden Knaben zärtlich wie eine Mutter empor richtete und ihn im weichsten Ton fragte:

»Hast du große Schmerzen, Tarcisius?«

»Kümmere dich nicht um mich, Quadratus,« entgegnete er, indem er die Augen lächelnd öffnete, »aber ich trage die göttlichen Geheimnisse; nimm sie an dich.«

Mit verdoppelter Ehrfurcht hob der Soldat den Knaben empor, als wenn er nicht nur das zarte Opfer jugendlicher Hingebung, die heiligen Überreste eines Märtyrers trüge, sondern den König und Herrn der Märtyrer selbst, jenen, der für unsere Erlösung in den Tod gegangen war. Das Haupt des Kindes lehnte vertrauensvoll an der mächtigen Brust des Soldaten, aber seine Arme und Hände umklammerten noch immer ängstlich das anvertraute höchste Gut. Der tapfere Träger fühlte nicht die Last der heiligen, doppelten Bürde, welche er trug.

Niemand hielt ihn an, bis ihm eine Dame entgegen kam und ihn bestürzt anblickte. Sie trat näher und betrachtete seine Last genauer.

»Ist es möglich?« schrie sie erschrocken auf. »Kann das Tarcisius sein, den ich noch vor wenigen Augenblicken so schön, so lieblich sah? Wer mag dies gethan haben?«

»Edle Frau,« antwortete Quadratus, »sie haben ihn gemordet, weil er ein Christ war.«

Die Dame blickte einen Augenblick in das Gesicht des Kindes. Tarcisius öffnete die Augen, lächelte sie an und – verschied.

Aus jenem Blicke ging ihr das Licht des Glaubens auf; sie beeilte sich, ebenfalls Christin zu werden.

Der ehrwürdige Dionysius konnte vor Thränen kaum sehen, als er die Hände des Kindes voneinander that und von seiner Brust, unverletzt, unberührt, das Allerheiligste nahm; und es dünkte ihn, daß er jetzt, wo er den Schlaf des Märtyrers schlief, mehr wie ein Engel aussah, als vor einer Stunde, da er ihn noch lebend gesehen.

Quadratus selbst trug ihn nach dem Cömeterium des Callistus, wo er zwischen älteren Gläubigen begraben wurde; später setzte ihm der heilige Papst Damasus ein Epitaph, das niemand lesen kann, ohne daraus zu schließen, daß der Glaube an die wahre Gegenwart des Leibes unseres Herrn Jesus Christus in der heiligen Eucharistie damals bereits derselbe war wie er es heute ist:

»Tarcisium sanctum Christi sacramenta gerentem,
Cum male sana manus peteret vulgare profanis;
Ipse animam potius voluit dimittere caesus
Prodere quam canibus rabidis coelestia membra.«

Tarcisius verbarg die Sakramente des Heilands,
Fest entschlossen, diese dem Volke nicht zu enthüllen.
Und eher sein Leben in heiliger Frommheit dahin zu geben.
Als des Himmlischen Glieder den reißenden Hunden zum Fraß.

Siehe ebenfalls Baronius' Anmerkungen zur Geschichte der Märtyrer. Die Worte »(Christi) coelestia membra« auf die heilige Eucharistie angewandt, stehen hier für eins jener gelegentlichen aber höchst auffallenden Argumente, welche mehr das Resultat der gewöhnlichen Sprach- und Denkweise des Altertums als einer konventionellen und wohlüberlegten Phraseologie sind.

In den Akten der römischen Märtyrer wird erwähnt, daß man seinen Gedenktag am fünfzehnten August in dem Cömeterium des Callistus feierte, von wo seine Überreste in späterer Zeit in die Kirche Sankt Sylvester in Campo übertragen wurden, wie eine alte Inschrift besagt.

Die Gefangenen erhielten die Nachricht von diesem Vorfalle erst nach ihrer Mahlzeit; und vielleicht war die Besorgnis, daß man sie der Seelennahrung berauben könnte, von welcher sie Kraft und Mut erhofften, das einzige, was für einen Augenblick den Frieden und die Reinheit ihrer Seele hätte trüben können. In diesem Augenblick trat Sebastianus ein und bemerkte sofort, daß eine traurige Botschaft eingetroffen sein müsse, und schnell erriet er, welcher Art diese gewesen sei, denn Quadratus hatte ihn bereits von dem Geschehenen in Kenntnis gesetzt. Er ermutigte daher die Bekenner und versicherte sie, daß die heißersehnte Glaubensstärkung ihnen nicht versagt bleiben würde. Dann flüsterte er Reparatus, dem Diakon, einige Worte zu, und dieser eilte augenblicklich mit einem hellen Blicke des Einverständnisses hinaus.

Sebastianus, welchen die Wachen kannten, hatte ungehindert täglich in dem Gefängnis aus- und eingehen können. In seiner Sorge für die Insassen desselben war er unermüdlich gewesen. Jetzt aber war er gekommen, um seinem teuersten Freunde Pancratius das letzte Lebewohl zu sagen. Dieser hatte die Unterredung herbeigesehnt. Sie zogen sich in eine Ecke zurück, und der Jüngling begann:

»Erinnerst du dich, Sebastianus, wie wir vor dem Fenster deines Zimmers standen und die wilden Tiere brüllen hörten, und auf die vielen offenen Bögen des Amphitheaters hinabsahen, die ebensovielen Triumphbögen für die Christen glichen?«

»Ja, mein teurer Knabe; ich erinnere mich jenes Abends sehr wohl, und mir war es damals, als fühle dein Herz das, was morgen deiner harrt, bereits voraus.«

»So war es auch in der That. Ich hatte die innere Überzeugung, daß ich einer der ersten sein würde, welcher die tobende Wut jener Stellvertreter der menschlichen Grausamkeit werde befriedigen müssen. Aber jetzt, wo die Zeit gekommen ist, kann ich mich einer so hohen, fast unermeßlichen Ehre kaum würdig halten. Was kann ich gethan haben, Sebastianus – nicht sie zu verdienen – aber als ein Gegenstand so hoher Gnade auserwählt zu sein?«

»Du weißt, Pancratius, daß nicht der, welcher will, noch der, welcher läuft, sondern Gott der Barmherzige es ist, welcher erwählt.Röm. 9, 16. Aber sag mir, wie denkst du in diesem Augenblick über das glorreiche Schicksal, das deiner morgen harrt?«

»Ich muß dir in Wahrheit gestehen, es erscheint mir so köstlich, so hehr, so weit erhaben über alle Ansprüche, die ich zu machen wagen durfte, daß es mir oft mehr wie ein Traum als wie Wirklichkeit erscheint. Ist es nicht beinahe unglaublich, daß ich, der ich diese Nacht noch in einem kalten, düsteren, traurigen Kerker zubringe, morgen, bevor die Sonne wiederum untergegangen, den Tönen himmlischer Harfen lauschen und im Zuge mit weißgekleideten Heiligen einherschreiten werde, daß ich den Duft des himmlischen Weihrauchs einatmen und ans dem krystallhellen Bronnen des Wassers des Lebens schlürfen soll? Ist es nicht zu ähnlich dem, was man von einem Anderen hört oder liest, aber kaum für sich selbst in wenigen Stunden schon zu hoffen wagt?«

»Und nichts mehr als das, was du mir soeben beschrieben hast, Pancratius?«

»O ja, viel mehr noch; viel mehr, als man ohne Anmaßung sagen darf! Daß ich, ein Knabe, welcher kaum aus der Schule entlassen ist, der noch nichts für Christus gewirkt hat, sagen darf: ›Morgen werde ich Ihn von Angesicht zu Angesicht sehen und Ihn anbeten: und Er wird mir eine Palme und eine Krone geben, ja, und Er wird mich liebevoll in Seine Arme schließen‹ – das ist eine so schöne Hoffnung, daß es mich fast erschreckt zu denken, es wird bald Gewißheit sein. Und doch, Sebastianus, fuhr er innig fort, indem er die beiden Hände seines Freundes ergriff, es ist wahr, es ist wahr!«

»Und noch mehr, Pancratius?«

»Ja, Sebastianus, noch mehr, und immer noch mehr! Man schließt die Augen im Angesichte von Menschen, und öffnet sie wieder im Angesichte Gottes! Man schließt sie vor den Blicken von zehntausend Geschöpfen, welche von den Stufen des Amphitheaters mit Haß, Verachtung und Wut auf Einen herabsehen, und schlägt sie gleich darauf vor jenem einen sonnigen, gütigen Antlitz auf, dessen Glanz uns blenden oder versengen würde, wenn seine Strahlen uns nicht umgäben und umarmten und bewillkommten. Wir stürzen uns sofort in die unermeßliche Liebe des Herzens Gottes und tauchen ohne Furcht vor Vernichtung in dem glühenden Ocean von Gnade und Liebe unter! Wahrlich, Sebastianus, es klingt wie Anmaßung, wenn ich sage, daß morgen – nein, stille! – der Wächter vom Kapitol – verkündet die Mitternachtsstunde – daß heute – heute – mir alles dies zu teil werden wird!«

»Glücklicher Pancratius!« rief der Soldat aus, »schon stundenlang vorher kostest du die Wonne, deren du teilhaftig werden sollst.«

»Und weißt du, teurer Sebastianus,« fuhr der Jüngling fort, als hätte er die Unterbrechung gar nicht bemerkt, »es scheint mir so gütig, so gnädig, daß Gott mir einen solchen Tod gewährt! Wieviel bereitwilliger muß man ihm bei meinem Alter ins Antlitz sehen, wenn er allem, was auf Erden hassenswert ist, ein Ende macht, wenn er den Anblick widerlicher, wilder Tiere und sündiger Menschen auslöscht und dem teuflischen Gebrüll beider Schweigen gebietet! Wie viel schwerer würde es sein, zu scheiden, wenn der letzte liebende Blick einer Mutter, wie die meine es ist, auf mir ruhte, und der letzte Laut, den ich hörte, die wehmütige Klage ihrer süßen Stimme wäre! – Es ist wahr, ich werde sie noch sehen und hören, wie es bestimmt ist – zum letztenmale – heute – vor dem Kampfe. Aber ich weiß, daß sie mich nicht mutlos machen wird.«

Eine Thräne hatte ihren Weg in das Auge des liebevollen Knaben gefunden; aber er trocknete sie schnell und sagte in fröhlichem Ton:

»Aber Sebastianus, du hast dein Versprechen nicht erfüllt – dein doppeltes mir gegebenes Versprechen – mir die Geheimnisse zu enthüllen, welche du vor mir hattest. Dies ist die letzte Gelegenheit dazu, komm also, erzähle mir alles!«

»Erinnerst du dich noch, welches die Geheimnisse waren?«

»Sehr wohl in der That erinnere ich mich dessen, denn ich war damals sehr bestürzt und beunruhigt. Erstens sagtest du an jenem Abend bei der Zusammenkunft in deinen Gemächern, daß es einen Grund gäbe, welcher schwerwiegend genug sei, um deinem brennenden Wunsche, für Christus zu sterben, Einhalt zu thun; und jetzt vor kurzem weigertest du dich, mir den Grund dafür anzugeben, weshalb du mich so eilig nach Campania sandtest, und fügtest so noch ein zweites Geheimnis zu dem ersten. Weshalb – das vermag ich nicht zu begreifen.«

»Und doch bilden beide nur ein Geheimnis. Ich hatte versprochen, über deinem wahren Wohlergehen zu wachen, Pancratius; es war eine Pflicht der Liebe und der Freundschaft, welche ich erfüllte. Ich sah, wie glühend du das Märtyrertum ersehntest; ich kannte das warmblütige Temperament deines jugendlichen Herzens; ich fürchtete, daß du dich durch eine zu gewagte That bloßstellen würdest. Deshalb beschloß ich, meine eigene innige Sehnsucht zu dämpfen, bis ich dich sicher durch alle Gefahren hindurch geleitet haben würde. That ich recht damit?«

»O, es war zu gütig von dir, teurer Sebastianus; es war edel und gut. Wie aber steht dies alles mit meiner Reise im Zusammenhang?«

»Wenn ich dich nicht fortgeschickt hätte, so würde man dich ergriffen haben, weil du die Kühnheit besessen, das Edikt herabzureißen, oder weil du mutig genug gewesen, dem Präfekten im Gerichtshof eine Zurechtweisung zu geben. Man würde dich ohne Zweifel verurteilt haben, und du hättest für Christus gelitten; der Urteilsspruch jedoch würde einem anderen, einem bürgerlichen Vergehen gegolten haben, der Rebellion gegen die Kaiser. Und mehr noch, mein teurer Knabe, du wärest für einen Triumph auserlesen worden. Sogar die Heiden hätten mit Stolz auf dich gedeutet, wie auf einen mutigen und tapferen Jüngling; selbst in deinem Kampfe wäre deine Seele vielleicht durch eine vorüberziehende Wolke des Stolzes verdunkelt worden; auf jeden Fall wäre dir diese Schmach und Schande erspart geblieben, welche das unterscheidende Verdienst und den besonderen Ruhm derer bilden, die sterben müssen, nur weil sie Christen sind.«

»Sehr wahr, Sebastianus,« sagte Pancratius errötend.

»Als ich aber sah, wie man dich ergriffen hatte, indem du eine großherzige That der Liebe an den Bekennern Christi begingst; als ich sah, wie man dich an einen Galeerensträfling gekettet, wie einen gemeinen Verbrecher durch die Straßen schleppte; als ich sah, wie man dir drohte und dich mit Steinen warf, wie andere Gläubige; als ich den Urteilsspruch zusammen mit dem der anderen über dich aussprechen hörte, nur weil du ein Christ bist und um keines anderen Vergehens willen – da fühlte ich, daß meine Aufgabe vollendet sei! Ich würde nicht einen Finger gerührt haben um dich zu retten!«

»Deine Liebe zu mir ist gewesen wie die Liebe Gottes – so weise, so barmherzig – so strenge!« schluchzte Pancratius, indem er sich an die Brust des Soldaten warf. Dann fuhr er fort:

»Versprich mir noch eins! Versprich mir, daß du bis zum Ende dieses Tages bei mir bleiben und mein letztes Vermächtnis an meine Mutter in Sicherheit bringen wirst.«

»Ich verspreche es dir – und wenn es mein Leben kosten sollte! Wir werden nicht lange voneinander getrennt sein, Pancratius!«

Jetzt gab der Diakon das Zeichen, daß alles bereit sei, um das heilige Opfer im Kerker selbst darbringen zu können. Die beiden Jünglinge blickten umher, und Pancratius war in der That überrascht. Der heilige Priester Lucianus lag auf dem Boden ausgestreckt; seine Gliedmaßen qualvoll in die Catasta oder die Pflöcke gespannt, so daß er sich weder erheben noch bewegen konnte. Auf seine Brust hatte Reparatus die drei linnenen Tücher gebreitet, welche für den Altar gebraucht werden; auf diesen lag das ungesäuerte Brot und stand der mit Wein und Wasser gefüllte Kelch, welchen der Diakon mit der Hand stützte. Das Haupt des bejahrten Priesters wurde emporgehalten, als er die üblichen Gebete las und die vorgeschriebenen Ceremonien der Opferung und der Wandelung vollzog. Und dann näherte sich jeder andächtig mit Thränen der Dankbarkeit in den Augen und empfing aus seiner geweihten Hand die geheimnisvolle Speise.Eine solche Feier der göttlichen Geheimnisse durch einen Priester dieses Namens in Antiochien ist in der Geschichte des heiligen Lucianus beschrieben. (Ruinart, tom III, pag. 182.)

Wunderbares und schönes Beispiel, wie erfinderisch die Kirche Gottes war! Fest und bestimmt wie ihre Gesetze sind, findet ihre scharfsinnige Liebe stets Mittel und Wege, ihre Grundsätze, d. h. ihre unerschütterlichen Grundpfeiler zu zeigen, indem sie die Strenge jener Gesetze mildert; ja, die Ausnahmen, welche sie macht, dienen nur dazu, eine erhabenere Anwendung derselben zu bewerkstelligen. Hier war ein Diener Gottes und Spender Seiner Geheimnisse, welcher dieses eine Mal berufen war, mehr als andere Priester, dem ähnlich zu sein, dessen Stellvertreter er war – Priester und Altar zugleich. Die Kirche schrieb vor, daß das heilige Opfer nur über den Überresten von Märtyrern dargebracht werden dürfe; – hier war ein Märtyrer, dem es durch ein seltsames Vorrecht vergönnt war, es über seinem eigenen Körper darzubringen. Noch lebend, lag er bereits »unter den Füßen Gottes«. Die Brust hob sich noch, und das Herz schlug noch unter den göttlichen Geheimnissen; aber es war nur noch der Priester, welcher diesen Akt vollzog; sein Selbst war bereits tot, und das Opfer des eigenen Lebens hatte er schon gebracht, wenn auch nicht vollendet. Nur noch Christi Leben war in und außer dem Heiligtum jener Brust.Gal. Kap. 2, V. 20. Ich lebe, aber nicht ich, sondern Christus lebet in mir. Ist jemals die Wegzehrung für Märtyrer würdiger bereitet worden?


 << zurück weiter >>