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Aus dem alten Pitaval

Martin Guerre

Martin Guerre stammte aus einer Familie in Biscayen, die sich etwas über den Bauernstand erhob.

Im Januar 1539, in einem Alter von elf Jahren, heiratete er Bertrande von Rols aus Artigues in dem Sprengel von Rieux, ein Mädchen von ungefähr gleichem Alter, das mit den Reizen einer seltenen Schönheit den Vorzug eines gesitteten Verhaltens verband.

Acht oder neun Jahre lang wurde die Ehe dieses beinahe noch im Kindesalter stehenden Paares nicht anerkannt. Alle Verwandten glaubten schon, wie es damals Mode war, es sei Zauberei im Spiel. Die Familie der Frau wünschte die Ehe wieder getrennt; aber die Frau, die ihren Mann sehr zärtlich liebte, war durchaus nicht dazu zu bewegen. Da dieser Plan einer Scheidung scheiterte, wandte die Familie der Frau alle erdenklichen Mittel an, die Verzauberung zu beheben. Die jungen Eheleute mußten geweihten Kuchen und Hostien essen, und man ließ von vier Priestern vier Messen für sie lesen.

Die Natur selbst übernahm endlich die Entzauberung, da das reifere Alter eintrat. In ihrem zwanzigsten Jahre machten die beiden Eheleute mit zwei Bekannten, einem Geschwisterpaar, eine Reise. Unterwegs mußten alle vier in einem Zimmer schlafen, wo nicht mehr als zwei Betten waren. Das eine nahmen die beiden Frauen ein; in dem andern schliefen die Männer. In der Nacht schlich sich Martin Guerre von der Seite seines Freundes zu seiner Frau, und in jener Nacht wurde er Vater eines Sohnes, den er bei der Geburt Sanxi nennen ließ.

Nicht lange nach der Geburt dieses Knaben gelüstete es Guerre, seinem Vater Getreide zu stehlen; er wurde entdeckt. Da er den Zorn des Vaters fürchtete, ergriff er die Flucht. Acht Jahre lang hörte man nicht das geringste von ihm. Sein Vater starb inzwischen, und sein Onkel Peter Guerre, ein Bruder seines Vaters, übernahm für den Abwesenden die Verwaltung des ihm zugefallenen väterlichen Erbteils.

Nach acht Jahren erschien plötzlich ein Mann, der nicht nur den Namen, sondern auch das Aussehen des Entwichenen hatte. Bertrande von Rols, die sich während der langen Zeit ihrer Witwenschaft einen unbescholtenen Ruf erhalten hatte, erkannte ihn sogleich und räumte ihm ohne Bedenken Wohnung, Tisch und Bett wieder ein.

Vier Schwestern Guerres erkannten den Ankömmling als ihren Bruder. Peter Guerre nahm ihn als seinen Neffen auf. Mit einem Wort, die ganze Familie empfing ihn als ihren Verwandten; es fiel niemand unter ihnen ein zu zweifeln, daß er wirklich derjenige war, für den er gehalten wurde.

Seine alten Freunde und seine ehemaligen Gespielen erkannten ihn. Er erinnerte sie an allerlei Geschehnisse ihres Lebens. Er spielte in seinen Gesprächen auf bekannte Geschichten an, kurz, er benahm sich unter ihnen mit der Unbefangenheit und der Vertraulichkeit, die sich nur im Umgang der engsten Freundschaft findet.

So lebte er einige Jahre mit der größten Sicherheit im Besitz seines Glücks. Bertrande gebar ihm zwei Kinder, von denen das eine bald nach der Geburt starb.

Diese Ruhe wurde durch einen Soldaten von Rochefort gestört, der bei seiner Durchreise in Artigues beiläufig erzählte, Martin Guerre halte sich in Flandern auf und trage jetzt ein hölzernes Bein, weil ihm eins bei St. Laurent durch eine Kanonenkugel abgerissen sei. Bei Bertrande von Rols erregte diese Nachricht einigen Verdacht. Sie ließ sogar über die Aussage des Soldaten durch Notare eine Akte fertigen. Allein – sei es nun aus Scham über die Folgen, die ihr Irrtum schon gehabt hatte, sei es wirklich Täuschung durch die Ähnlichkeit der Züge oder irgendeine andere Ursache, wodurch sie von der weiteren Untersuchung abgehalten wurde – sie fuhr fort, den Heimgekehrten öffentlich als ihren Ehemann zu behandeln.

Drei Jahre waren unter diesen Umständen schon verflossen. Peter Guerre hatte inzwischen seinem Neffen alle bisher für ihn verwalteten Güter übergeben. Dieser verlangte aber auch eine Abrechnung über die daraus gezogenen Einkünfte, und da der Oheim diese Abrechnung unter nichtigem Vorwand immer wieder hinausschob, belangte er ihn endlich auf dem Rechtswege.

Dieses Verfahren, das an sich schon große Erbitterung hervorrief, verbunden mit der Härte, mit der der Kläger die Bezahlung des Rückstandes eintrieb, bestimmte Peter Guerre zur Rache.

Der vermeintliche Martin Guerre bekam Händel mit einem gewissen Johann von Escarbœuf. Die Sache kam zur peinlichen Untersuchung vor den Landrichter zu Toulouse, und Guerre wurde festgenommen. Während er im Arrest saß, wendete Peter Guerre zusammen mit seinen vier Schwiegersöhnen alles auf, Bertrande davon zu überzeugen, daß dieser Mensch, den sie für ihren Mann halte, ein Betrüger sei. Sie verlangten, sie solle sich öffentlich von ihm lossagen, und drohten, sie aus ihrem eignen Haus zu verjagen, wenn sie nicht einwillige. Bertrande wies diese Zumutungen zurück und erklärte endlich aufgebracht, sie müsse ihn besser kennen als irgendein anderer Mensch, und sie könnte den töten, der das Gegenteil behaupte.

Der Gefangene wurde endlich kraft eines richterlichen Spruches auf Beweis und Gegenbeweis wieder in Freiheit gesetzt.

Sobald er frei war, eilte er wieder zu seiner Gattin, die ihn mit Freude aufnahm, wie sie eine tugendhafte Frau bei dem Wiedersehen ihres Mannes empfinden muß, der sich aus einer Gefahr, die seiner Ehre oder sogar seinem Leben drohte, glücklich gerettet hat. Sie überhäufte ihn mit Liebkosungen, reichte ihm weiße Wäsche, half ihm, sich zu reinigen, und gestattete ihm alle Rechte eines Ehemannes.

Sehr früh am anderen Morgen erschienen aber Peter Guerre und dessen Schwiegersöhne, alle bewaffnet, und brachten den Ehemann unter dem Vorwand, daß sie von Bertrande von Rols dazu bevollmächtigt seien, ins Gefängnis zu Rieux.

Später gestand Peter Guerre, daß damals noch keine Vollmacht dazu vorlag, sondern daß erst am Abend desselben Tages ein solches Schriftstück von Bertrande unterschrieben worden sei. Inzwischen hatte Bertrande ihrem Ehemann Kleidungsstücke und Wäsche und Geld ins Gefängnis geschickt.

Der Angeklagte gründete seine Verteidigung zuerst nur darauf, daß er bei seiner Ankunft von allen Einwohnern des Ortes, von allen, die vorher in vertrautestem Umgang mit ihm gelebt hatten, von seinen Verwandten und endlich selbst von seiner Frau anerkannt worden sei.

Diese allgemeine Anerkennung konnte er um so mehr als einen Verteidigungsgrund für sich anführen, weil sie ohne alle vorhergegangene Untersuchung geschehen war. Sobald er sich nur unter dem Namen Martin Guerre gezeigt hatte, waren Frau, Verwandte und Freunde seiner Umarmung entgegengeeilt. Man hatte ihn auf den ersten Blick erkannt, obgleich sich das Milchhaar, das er bei seiner Flucht noch am Kinn trug, inzwischen in einen männlichen Bart verwandelt hatte.

In seinem Verhör gab er über jeden Umstand, über den er befragt wurde, genaue Rechenschaft; er kam sogar den Fragen zuvor. Er gab zutreffende Einzelheiten an von seinen Eltern, von seiner Verheiratung, dem Priester, der ihn mit Bertrande getraut hatte, von den Hochzeitsgästen und sogar von ihren Anzügen. Er nannte die Personen, die ihm und seiner Frau aus Scherz in der Hochzeitsnacht einen Besuch in der Brautkammer gemacht hatten. Er erzählte die Geschichte, der sein Sohn Sanxi das Leben zu verdanken hatte, und gab den Geburtstag dieses Kindes an. Er sprach von Personen, die er auf dem Wege getroffen hatte, wußte noch anzugeben, was er mit ihnen geredet hatte, und benannte alle Städte in Frankreich, durch die er gezogen war. Er berichtete, daß er dem König sieben bis acht Jahre gedient habe, nachher nach Spanien gegangen und dort einige Monate Soldat gewesen sei. Er benannte alle Personen, die er in den beiden Königreichen kennengelernt hatte, und gab selbst Mittel an, sich der Wahrheit seiner Aussagen zu versichern. Die Gerichte gingen den angezeigten Spuren nach und fanden alle seine Angaben bestätigt.

Man verhörte auch Bertrande von Rols und einige andere Personen, auf die sich der Beklagte in seinem Verhör berufen hatte. In allen Tatsachen, die Bertrande bekannt sein konnten, stimmten ihre Antworten mit seinen Aussagen genau überein. Ein einziger Umstand, von dem er nichts erwähnt hatte, die Geschichte der vermeintlichen Verzauberung, wurde von ihr ausführlicher erzählt. Als man ihn aber darüber befragte, gab er auch über diesen Punkt eine mit Bertrandes Erzählung genau übereinstimmende Auskunft.

Er stellte dem Gericht vor, daß seine Frau zu der Verfolgung, die man gegen ihn angezettelt habe, gewiß nur durch List überredet worden sei und daß er deshalb bitte, man möchte sie in ein sicheres Haus unter die Aufsicht rechtschaffener Leute bringen, wo sie nicht mehr den Überredungen und Zudringlichkeiten von Peter Guerre ausgesetzt sei.

Diese Bitte wurde ihm gewährt. Zugleich erhielt er die Erlaubnis, Anzeigen zu veröffentlichen, um dadurch etwa zu entdecken, auf welche Art Bertrande von Rols zu diesem Schritt gegen ihn verleitet worden sei, und um seine Einwürfe gegen die Zeugen zu rechtfertigen, die man gegen ihn vernehmen wolle. Außerdem wurde angeordnet, daß in Pin, in Sagais und in Artigues über alles, was auf Martin Guerre, den Beklagten, auf Bertrande von Rols und auf die Ehrlichkeit und den guten Ruf der Zeugen Bezug haben könnte, von Gerichts wegen Untersuchungen angestellt werden sollten.

Die Ergebnisse dieser Bemühungen bestätigten Bertrandes Tugend; und diese Tugend selbst diente als ein neuer Beweis für die Rechtfertigung des Angeklagten. Man schloß nämlich daraus, daß ihn Bertrande gewiß aus wahrer Überzeugung für ihren Mann gehalten habe und nicht aus Begierde, die Stelle des Ehemanns, auf dessen Rückkehr sie nicht mehr rechnen konnte, durch einen anderen besetzt zu wissen.

Es waren hundertfünfzig Zeugen angehört worden. Dreißig bis vierzig versicherten eindeutig, daß der Beklagte wirklich Martin Guerre sei, daß sie von Kindheit an Umgang mit ihm gehabt hätten und daß sie ihn an gewissen Merkmalen und Narben seines Körpers erkannten, die noch deutlich zu sehen seien. Ungefähr fünfzig andere behaupteten, er sei nicht Martin Guerre, sondern Anton Tilh, mit dem Beinamen Pansette, aus Sagais gebürtig, mit dem sie seit frühester Jugend Bekanntschaft und Umgang gehabt hätten. Ungefähr sechzig Zeugen gestanden, die Ähnlichkeit zwischen diesen zwei Menschen sei so auffallend, daß sie sich nicht getrauten zu bestimmen, ob der Angeklagte Martin Guerre oder Anton Tilh sei.

Endlich wurde auch noch angeordnet, den Beklagten mit Sanxi und mit den Schwestern von Martin Guerre zu vergleichen. Bei dieser Vergleichung fand man, daß Sanxi dem Beklagten nicht im mindesten ähnlich sehe, hingegen die Schwestern von Guerre ihm so vollkommen glichen wie ein Ei dem anderen.

So weit war die Angelegenheit gediehen, als sich der Richter von Rieux unterfing, das Urteil zu fällen, daß der Beklagte als schuldig und überwiesen des Betruges enthauptet und sein Körper gevierteilt werden solle.

Gegen dieses so wenig überdachte und so leichtsinnig gesprochene Urteil appellierte der Angeklagte an das Parlament in Toulouse. Dieser Gerichtshof fand die Verhandlungen der ersten Instanz noch lange nicht hinreichend, um in einer so äußerst schwierigen Sache schon zum Endurteil schreiten zu können. Er gab also vor allen Dingen Befehl, dem Angeklagten vor der ganzen Parlamentsversammlung sowohl Peter Guerre wie Bertrande von Rols einzeln gegenüberzustellen.

Bei diesen Gegenüberstellungen zeigte sich der Angeklagte so ruhig und unbefangen, Peter Guerre und Bertrande von Rols dagegen schienen so außer Fassung zu sein, daß es die Richter in den Gesichtern der Parteien lesen zu können glaubten, daß der eine unschuldig verfolgt, die beiden anderen aber Verleumder seien. Der Angeklagte forderte Bertrande auf, eidlich zu erklären, ob sie ihn für ihren Mann erkenne. Er verlange keinen anderen Richter, sagte er, als sie, und er unterwerfe sich der Todesstrafe, wenn sie beschwöre, daß er nicht Martin Guerre sei. Sie antwortete aber nur, sie wolle dies weder beschwören noch glauben.

Aber die Richter wollten ihr Urteil nicht auf bloße Vermutungen bauen. Sie verfügten also eine erneute Untersuchung. Es wurden noch dreißig Zeugen verhört. Der Erfolg dieses zweiten Verhörs war aber ebensowenig befriedigend wie der des ersten. Neun oder zehn Zeugen versicherten, der Angeklagte sei Martin Guerre, sieben oder acht andere erklärten, er sei Anton Tilh, und die übrigen getrauten sich nicht, etwas zu entscheiden. Die Zeugen, deren Aussagen gegen den Angeklagten gerichtet waren, behaupteten, sowohl Martin Guerre wie Anton Tilh zu kennen und von Jugend auf Umgang mit beiden gehabt zu haben. Unter diesen Zeugen befanden sich einige von großem Gewicht. Der gewichtigste war ein Bruder der Mutter von Anton Tilh namens Carbon Barreau, der den Angeklagten bei der Gegenüberstellung auf den ersten Blick als seinen Neffen erkannte und bis zu Tränen gerührt war, da er einen Menschen, der ihn so nahe anging, in Ketten sah.

Unter den übrigen Zeugen dieser Klasse fanden sich einige, die teils selbst mit Anton Tilh Verträge abgeschlossen, teils von ihm ausgestellte Schriftstücke, die in ihrer Gegenwart verfertigt worden waren, als Zeugen unterschrieben hatten. Sie zeigten diese Dokumente bei der Gerichtsstelle vor.

Der Schuster, der für Martin Guerre Schuhe angefertigt hatte, sagte, dieser habe immer Schuhe von zwölf Stichen getragen, der Gefangene aber trage nur neun Stiche lange Schuhe. – Ein anderer Zeuge gab an, Martin Guerre sei ein guter Fechter und Ringer gewesen. Der Angeklagte verstand von beiden Künsten nichts. Johann Aspagnol, ein Gastwirt aus Touges, bezeugte, der Angeklagte habe ihm im Vertrauen entdeckt, Martin Guerre sei gestorben und habe ihn zum Erben seines ganzen Vermögens eingesetzt. – Ein anderer erzählte, als er einst mit dem Angeklagten zusammengetroffen und eben im Begriff gewesen sei, ihn mit seinem Namen Tilh anzureden, habe er ihm ein Zeichen mit dem Finger gemacht, daß er schweigen solle. Ein dritter behauptete, daß ihm der Angeklagte dasselbe Zeichen gemacht und ihm überdies, um sich seines Schweigens zu versichern, zwei Schnupftücher gegeben habe mit dem Auftrag, das eine davon Tilhs Bruder auszuhändigen. – Mehrere Zeugen endlich berichteten: Anton Tilh habe von Jugend an die schändlichsten Laster an sich gehabt, er sei ein Spieler und Gottesleugner gewesen, er habe beständig geflucht und gestohlen, woraus man folgern könne, daß er wohl fähig sei, die Rolle eines solchen Betrügers zu übernehmen und daß er Unverschämtheit genug besitze, sie durchzuführen. Dies waren die Gründe, aus denen sich schließen ließ, daß der Gefangene ein Betrüger sei. Ihnen standen andere Gründe gegenüber, die jenen an Stärke und Wahrscheinlichkeit gleichkamen.

Dreißig oder vierzig Zeugen bejahten einstimmig, der Angeklagte sei Martin Guerre, und ihre Aussage hatte um so mehr Gewicht, als sie von Kindheit auf mit ihm umgegangen waren. Unter diesen befanden sich acht, deren Zeugnis wichtig genug war, um eine Aussage von tausend Zeugen, die das Gegenteil behaupteten, zu entkräften.

Die vier Schwestern von Martin Guerre hatten den Angeklagten von dem Augenblick seiner Ankunft an für ihren Bruder erkannt und bestanden darauf, daß er es wirklich sei. Zwei dieser Schwestern waren verheiratet. Ihre Ehemänner hatten ebenfalls den Angeklagten für ihren Schwager erkannt und beharrten noch immer auf dieser Meinung.

Ferner gehörte unter diese für den Angeklagten sprechenden Zeugen auch Peter Guerre, der ihn nicht nur im Anfang erkannt, sondern auch lange Zeit als Neffen behandelt harte. »Aus den durch die Akten bekannten Anschlägen, die er nachher auf dessen Leben gemacht hatte, sieht man deutlich genug, daß auch diese Anklage, die er, vorgeblich im Namen Bertrande von Rols', betreibt, nichts weiter ist als einer von den vielen Plänen, die seine gereizte Rachsucht zum Untergang seines Neffen entworfen hat«, so sprach man.

Das Zeugnis und das Betragen der Bertrande von Rols endlich rundete diese Beweise ab. Wenigstens zehn Jahre hatte sie mit ihrem Ehemann gelebt, ehe er sie verließ; sobald der Angeklagte unter dem Namen dieses Ehemannes bei ihr erschien, zögerte sie keinen Augenblick, ihn als diesen zu erkennen. Ihre Tugend war allgemein bekannt und gerichtlich erwiesen. Gleichwohl hatte sie ihm alle Rechte des Ehemanns zugestanden. In drei vollen Jahren, die sie seit seiner Rückkehr mit ihm verlebte, hatte sie beständig an ihm ebendenselben Charakter, dieselbe Gemütsstimmung bemerkt, die Martin Guerre hatte. Mit einem Wort, sie fand so viel innere und äußere Ähnlichkeit, daß sie, um ihn nicht für ihren Ehemann zu halten, sich schlechterdings hätte einreden müssen, es gebe in der Natur zwei vollkommen gleiche Körper, von einer Seele und von einem Geist belebt. Und war nicht ihr Betragen gegenüber dem Angeklagten sowohl unmittelbar nach seiner Verhaftung wie nachher bei der Gegenüberstellung der deutlichste Beweis, daß sie nur gezwungen durch Drohungen oder durch Zureden überlistet ihre Einwilligung zu der Anklage gegen einen Menschen gegeben hatte, den sie im Herzen noch immer für ihren Mann hielt?

Mit allen diesen Beweisen, die zur rechtlichen Gewißheit schon hinreichend waren, verbinde man noch die Aussagen der übrigen Zeugen! Die einen erkannten ihn für den, dessen Hochzeit sie mitgefeiert hatten, andere für ihren ehemaligen Gespielen. Er erneuerte das Andenken an sich bei einigen, die sich seiner nicht mehr recht erinnern konnten, dadurch, daß er ihnen besondere Begebenheiten ins Gedächtnis zurückrief, die nur ihnen und Martin Guerre bekannt sein konnten. Er begrüßte gleich in den ersten Tagen seiner Ankunft alle Menschen mit ihrem Namen und empfing diejenigen, die mit Martin Guerre naher verbunden gewesen waren, zuvorkommender und freundlicher als andere.

Man mußte ferner zugeben, daß sich am Körper des Angeklagten alle Zeichen fanden, die Martin Guerre gehabt hatte. Der einzige Unterschied, den man bemerkte, bestand in der Stärke und Länge des Wuchses. Aber es war doch nichts Außerordentliches, daß Martin Guerre, der zur Zeit seines Entweichens noch sehr jung gewesen war, während seiner Abwesenheit von acht Jahren körperlich stärker geworden war; nun schien er natürlich kleiner zu sein als damals, als er noch schlank und hager war.

Außerdem war die Gleichheit der Gesichtszüge zwischen Martin Guerre und dem Angeklagten durch den ansehnlichsten Teil der Zeugnisse erwiesen. Martin Guerre hatte in dem oberen Kinnbacken zwei Doppelzähne, an der Stirn eine Narbe, einen eingedrückten Nagel am ersten Finger der rechten Hand, drei Warzen an dieser Hand und noch eine am kleinen Finger, schließlich einen Tropfen geronnenen Bluts am linken Auge. Alle diese besonderen Zeichen fanden sich auch bei dem Gefangenen.

Durch solche Betrachtungen in unauflösliche Schwierigkeiten verwickelt, waren die Richter in großer Verlegenheit, als auf einmal ein neuer Martin Guerre mit einem hölzernen Bein erschien, wie ihn der Soldat, dessen erwähnt worden ist, beschrieben hatte. Dieser neue Ankömmling übergab sogleich eine Bittschrift, worin er seinen Namen und Stand als Martin Guerre zurückforderte und verhört zu werden verlangte. Man ließ ihn in Arrest bringen und stellte ein Verhör mit ihm an. Er wurde über alle die Punkte befragt, über die sein Nebenbuhler vernommen worden war. Er gab in bezug auf seinen Stand Umstände an, die in jedem andern Fall mehr als hinreichend gewesen wären, ihn völlig zu legitimieren. Aber verglichen mit den Aussagen, die der andere gemacht hatte, fand man diese ebenso treffend, ausführlich und vollständig. Man stellte die beiden einander gegenüber.

Der erstere behauptete, der Neuangekommene sei ein von Peter Guerre erkaufter Betrüger. Er erklärte mit einem Ton der Zuversicht, den man nur der Wahrheit eigen glaubt, daß er sich der Todesstrafe unterwerfen wolle, wenn er nicht diese gegen ihn angezettelte Intrige aufdecken würde. Er befragte seinen Nebenbuhler über mehrere Umstände, die niemand als Bertrandes Ehemann wissen konnte. Der Neuangekommene beantwortete diese Fragen richtig. Aber er zeigte dabei nicht die ruhige Fassung, die den anderen nie verlassen hatte. Man befragte beide einzeln über zehn oder elf besondere Punkte, von denen man bisher weder mit dem einen noch mit dem andern gesprochen hatte. Der eine antwortete so richtig wie der andere.

Nun war nur noch ein einziges Mittel übrig, die Wahrheit zu entdecken, nämlich die Gegenüberstellung der beiden Gefangenen mit ihren Familien. Man wollte den Versuch zuerst mit Anton Tilhs Brüdern machen. Man wollte ihnen beide Männer vorstellen, und sie sollten sagen, welchen von beiden sie für ihren Bruder hielten. Aber weder Befehl noch Drohung konnte diese bewegen, vor Gericht zu erscheinen. Man ließ es dabei bewenden, weil man glaubte, daß es der Menschlichkeit nicht entspräche, sie zu zwingen, ein Zeugnis gegen ihren Bruder abzulegen, das ihn um den Kopf bringen konnte.

Man schritt also zur Gegenüberstellung der Gefangenen mit der Familie Guerre. Die älteste von Guerres Schwestern wurde zuerst vorgeladen. Sie stand einige Zeit still, den Blick unverwandt auf den Neuangekommenen geheftet, stürzte aber plötzlich in seine Arme und bat unter Tränen um Verzeihung wegen des Irrtums, in den der Betrüger sie und ganz Artigues geführt habe. Auch Martin Guerre war zu Tränen gerührt; er umarmte seine Schwester und versicherte, daß er einen Irrtum, dem zu entgehen so schwer gewesen sei, sehr verzeihlich finde.

Die übrigen drei Schwestern erkannten ebenfalls den Neuangekommenen für ihren Bruder. Dasselbe geschah auch bei den anderen Zeugen, die zuvor am hartnäckigsten darauf bestanden hatten, daß Anton Tilh der wahre Martin Guerre sei.

Endlich kam die Reihe an Bertrande von Rols. Kaum hatte diese einen Blick auf den Neuangekommenen geworfen, als ihr die Tränen aus den Augen stürzten und sie sich zu seinen Füßen warf. Um sich wegen ihres Irrtums bei ihm zu verteidigen, stellte sie ihm vor, daß sie nur durch seine Schwestern dazu verleitet worden sei. Die Zuversichtlichkeit, sagte sie, mit der diese darauf beharrt hätten, den Betrüger für ihren Bruder zu halten, verbunden mit ihrer eigenen Sehnsucht, ihren geliebten Gatten wiederzufinden, habe sie verblendet und in diesen Abgrund von Schande gestürzt. Betrogen durch die listige Verstellung des Betrügers, durch dessen Reden, seine Kenntnis von Umständen, die nur ihrem Ehemann hätten bekannt sein können, und getäuscht durch eine so äußerst auffallende Ähnlichkeit auch im Äußeren, habe sie eine Zeitlang in dem Irrtum verharrt. Sobald ihr aber die Augen aufgegangen seien, habe sie alles angewendet, sich zu rächen. Sie habe es beim Unterrichter schon dahin gebracht, daß er den Betrüger zur Enthauptung verurteilt habe, und sie habe sich auch durch den Einspruch gegen dieses Urteil nicht abhalten lassen, ihre Sache mit Eifer fortzusetzen.

Der Ton, in dem sie sprach, ihre Schönheit, ihre Tränen, der Ausdruck der innigen Betrübnis in ihrem Gesicht und in ihren Bewegungen rührten selbst die Richter. Nur Martin Guerre, der bei den Zeichen der Zärtlichkeit und Reue, die ihm seine Schwestern gegeben hatten, so sehr gerührt gewesen war, blieb unempfindlich bei den Tränen seiner Frau. Er hörte sie an, ohne sie zu unterbrechen, aber mit einem finstern Blick und mit dem Ausdruck der Verachtung. »Ich kann dir«, sagte er endlich, »weder glauben noch verzeihen. Das Beispiel meines Oheims und meiner Schwestern ist keine Entschuldigung für dich. Es gibt so viele untrügliche Merkmale, an denen eine Frau ihren Ehemann erkennen kann, daß es unmöglich ist, einen Fremden dafür anzusehen, wenn sie nicht selbst an dem Irrtum Vergnügen findet. Du allein bist also an dem Unglück schuld, das unser Haus erlitten hat.«

Die Frau stand ganz betroffen. Die Richter selbst bemühten sich, ihren Mann von ihrer Unschuld zu überzeugen. Er blieb unbewegt. Was aber die Richter hier vergebens versuchten, vollbrachte späterhin die Zeit mit glücklicherem Erfolg.

Der Betrüger war nun entlarvt, und die Wahrheit stand in ihrem vollen Licht. Ehe aber die Richter zum Endurteil schreiten konnten, fanden sie es für nötig, noch die Frage zu untersuchen, ob nicht auch Martin Guerre und seine Frau eine Strafe verdient hätten. Das Verbrechen des Mannes bestand weniger darin, daß er sich von Haus entfernt, sondern darin, daß er in der Schlacht bei St. Laurent, in der er das Bein verlor, die Waffen gegen sein Vaterland geführt hatte. Im Hinblick auf den ersten Umstand wurde erwogen, daß seine Abwesenheit, wenn sie als Ursache des Ehebruchs angesehen werden konnte, den seine Frau begangen hatte, doch nur eine sehr schwache Ursache gewesen sei. Über das zweite Verbrechen urteilten die Richter, daß er eigentlich nicht den Vorsatz gehabt habe, gegen sein Vaterland zu kämpf en. Er hatte zuerst bei dem Kardinal von Burgos und dann bei dessen Bruder in Spanien Dienste angenommen und war mit dem Gefolge des letzteren nach Flandern geschickt worden. Dort war er gezwungen worden, seinem Herrn in die Schlacht zu folgen und gegen seinen Willen zu kämpfen. Außerdem, setzten sie hinzu, sei er durch den Verlust seines Beins und eines Teils seiner Güter, die Tilh durchgebracht hatte, und durch die unglückliche, für ihn so erniedrigende Zerrüttung, in der er seine Familie angetroffen habe, für dieses Verbrechen mehr als genug gestraft.

Im Hinblick auf die Frau waren ohnehin bloß Vermutungen vorhanden. Wie sollte man ihr gerichtlich beweisen, daß sie den Irrtum wirklich so bald entdeckt habe, wie man annehmen zu dürfen glaubte? Wie wollte man gerichtlich erweisen, daß sich die Ähnlichkeit des Betrügers, die so viele getäuscht hatte, wirklich nicht über alle einzelnen Teile des Körpers erstreckt habe? Für sie galt also die billige Regel, daß man in zweifelhaften Fällen stets die Unschuld vermuten solle, und das Parlament in Toulouse sprach sie von aller Strafe frei.

Nun wurde endlich das Urteil gesprochen. In einer Verfügung vom 12.9.1560 wurden Anton Tilh folgende Verbrechen zur Last gelegt: Namen, Stand und Person Martin Guerres sich angemaßt, dessen Frau zum Ehebruch verleitet, dessen Güter verschwendet, das Sakrament der Ehe entweiht und die Frau eines anderen bei sich behalten zu haben. Er wurde verurteilt, vor der Kirche in Artigues auf den Knien, im Hemd, mit bloßem Kopf und Füßen, einen Strick um den Hals und eine brennende Wachskerze in der Hand, Gott, den König, die Obrigkeit, Martin Guerre und Bertrande von Rols um Verzeihung zu bitten, von da durch die Straßen und Gassen der Stadt Artigues geführt und endlich vor dem Hause von Martin Guerre aufgehängt zu werden; sein Körper solle aber danach verbrannt werden. Das Vermögen von Tilh wurde seiner Tochter, die der Verurteilte mit Bertrande von Rols gezeugt hatte, zugesprochen.

Die Vollziehung des Urteils wurde dem Richter in Rieux aufgetragen. Martin Guerre und seine Frau wurden wieder auf freien Fuß gesetzt.

Vor der Vollstreckung des Urteils verhörte der Richter am 16. September 1560 noch einmal den Verurteilten. Bei dieser Vernehmung gab er näheren Aufschluß über den Gang seiner Betrügerei. Als Soldat, erzählte er, habe er zuerst Martin Guerre kennengelernt und nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht. In ihren Unterhaltungen habe ihm Guerre manchmal sehr viel von seinem Herkommen, seinem Vermögen und von seiner Frau erzählt und ihn auf diese Art nach und nach unterrichtet. Einst habe er ihn sogar in der Trunkenheit mit Geheimnissen bekannt gemacht, die sonst nur unter Eheleuten offenbar würden. Er habe nachher das Soldatenleben verlassen. Bei seiner Rückkehr sei es ihm begegnet, daß mehrere von Martin Guerres vertrautesten Freunden ihn für diesen angesehen hätten. Dieser Irrtum habe in ihm den ersten Gedanken zu seinem Unternehmen angeregt. Er habe von diesen Leuten noch mehrere besondere Umstände zu erfahren versucht, von denen ihm Guerre entweder nichts erzählt habe oder die ihm wieder entfallen gewesen seien, weil er damals an der Erzählung zu wenig Interesse gehabt habe. Endlich sei er dreist genug gewesen, seine Rolle zu spielen, und nun habe er die geheimsten Dinge von Bertrande selbst erfahren, die, in der Meinung, ihn an gewisse Umstände, die er längst wisse, wieder erinnern zu müssen, ihm eine Menge von Geheimnissen aufgedeckt habe, und er habe sich dabei so zu benehmen gewußt, daß sie wirklich geglaubt habe, er entsinne sich noch an alles ganz genau. Er endigte sein Verhör mit dem Bekenntnis noch anderer Verbrechen.

Dem Urteil zufolge wurde er am Galgen, der vor der Haustür Martin Guerres errichtet war, aufgehängt, sein Körper aber darauf wieder abgenommen und verbrannt.


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