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Anton Tschechow

Fünfundsiebzigtausend

Um Mitternacht gingen auf dem Twerski Boulevard zwei Freunde. Der eine war ein großer, hübscher, brünetter Mann mit einem etwas abgetragenen Bärenpelz und Zylinder. Der andere, klein und rothaarig, hatte einen dunklen Paletot mit hellen Beinknöpfen an. Beide schritten gemächlich dahin und schwiegen. Der Brünette pfiff leise eine Mazurka vor sich hin; der Rothaarige sah düster vor sich zu Boden und spuckte ab und zu zur Seite.

»Sollen wir uns nicht niedersetzen?« schlug endlich der Brünette vor, als sie den schattenhaften Umriß des Puschkin-Denkmals und das Ewige Licht über den Pforten des Passionsklosters sahen.

Der Rothaarige stimmte schweigend zu, und die Freunde setzten sich.

»Ich habe eine kleine Bitte an dich, Nikolai Borissitsch«, sagte der Brünette nach dumpfem Schweigen. »Kannst du mir nicht, lieber Freund, zehn bis fünfzehn Rubel leihen? In einer Woche werde ich sie dir zurückgeben.«

Der Rothaarige schwieg.

»Ich würde dich damit nicht belästigen, wenn ich das Geld nicht unbedingt brauchte. Heute hat mir das Schicksal einen garstigen Streich gespielt … Heute früh hat mir meine Frau ihr Armband gegeben, damit ich es versetze. Sie muß für ihre Schwester das Schulgeld im Gymnasium bezahlen … Weißt du nun, ich habe es versetzt und … du warst ja dabei, wie ich es heute im Hasardspiel unerwarteterweise verloren habe …«

Der Rothaarige regte sich: »Du bist ein nichtswürdiger Mensch, Wassili Iwanitsch!« sagte er und verzog den Mund zu einem bösen Lächeln. »Du bist ein nichtswürdiger Mensch! Welches Recht hattest du, dich mit den Damen hinzusetzen und zu hasardieren, wenn du wußtest, daß dieses Geld nicht dir gehört, sondern einem anderen? Bist du nicht ein Hochstapler? Halt, unterbrich mich nicht … Ich will es dir endlich ein für allemal sagen … wozu diese ewig neuen Anzüge, diese Krawattennadel da? Darf es denn für dich, Bettler, eine Mode geben? Wozu dieser lächerliche Zylinder, während du ohne Schaden für die Mode oder die Ästhetik ganz gut mit einer Mütze für drei Rubel herumgehen könntest! Wozu diese ewige Prahlerei mit deinen nicht existierenden Bekanntschaften? Du bist mit Chochlow und mit Plewako und mit allen Redakteuren bekannt. Als du heute über deine Bekanntschaften logst, brannten mir aus Scham für dich Augen und Ohren. Du aber lügst und wirst nicht rot. Und wenn du mit diesen Damen spielst und das Geld deiner Frau an sie verlierst, da lachst du so abgeschmackt und dumm, daß es einem sogar um eine Ohrfeige leid tut!«

»Laß sein, laß – – – du bist heute schlechter Laune …«

»Nun, meinetwegen ist dieses Hochstaplertum Kinderei, Schülerhaftigkeit … Ich bin ja bereit, zuzugeben, Wassili Iwanitsch … du bist noch sehr jung. Aber etwas … werde ich nicht zulassen … Wie konntest du, als du mit diesen Puppen spieltest … betrügen? Ich habe gesehen, wie du dir beim Kartengeben von unten das Pique-As heraufgenommen hast!«

Wassili Iwanitsch errötete wie ein Schüler und begann sich zu rechtfertigen. Der Rothaarige blieb bei seiner Anschuldigung. Sie stritten laut und lange. Schließlich wurden beide allmählich ruhiger und nachdenklich.

»Es ist wahr, ich habe mich stark verzettelt«, sagte der Brünette nach langem Schweigen. »Es ist wahr … Ich habe mich ganz verausgabt, bin verschuldet, habe fremdes Geld veruntreut und weiß jetzt nicht, wie ich mich herausarbeiten soll. Kennst du jenes unerträglich garstige Gefühl, wenn es dich am ganzen Körper juckt und du kein Mittel gegen dieses Jucken hast? Ein ähnliches Gefühl habe ich jetzt auch … Bis über die Ohren stecke ich in der Tunke … Ich schäme mich vor den Leuten und vor mir selber … Ich mache eine Menge dummer und häßlicher Dinge aus den kleinlichsten Gründen und kann dem auf gar keine Weise Halt gebieten … Das ist sehr häßlich! Wenn ich eine Erbschaft oder in der Lotterie einen Treffer machte, würde ich wahrscheinlich alles sein lassen und ein neues Leben beginnen … Du aber, Nikolai Borissitsch, verurteile mich nicht … wirf keinen Stein auf mich … Erinnere dich an den psalmischen Nekljuschew.«

»Ich erinnere mich wohl an deinen Nekljuschew«, entgegnete der Rothaarige unwirsch, »ich erinnere mich … Er hat fremdes Geld verfressen, sich den Wanst vollgeschlagen, und nach dem Essen wollte er faulenzen, einem jungen Mädchen hat er vorgeflennt … Vor dem Essen hat er ja nicht geweint … Es ist eine Schande für Schriftsteller, solche Schurken zu idealisieren! Hätte dieser Nekljuschew kein glückliches Äußeres und keine galanten Manieren gehabt, dann hätte sich die Kaufmannstochter nicht in ihn verliebt, und es gäbe keinen Anlaß zur Reue … Überhaupt schenkt das Schicksal Schurken ein angenehmes Aussehen … Ihr seid ja alle Kupidos, euch liebt man, in euch verliebt man sich … Ihr habt furchtbares Glück bei Frauen!«

Der Rothaarige erhob sich und ging neben der Bank auf und ab.

»Deine Frau zum Beispiel, eine ehrenhafte, edle Frau … Warum hat sie dich liebgewonnen? Warum? Und heute den ganzen Abend, während du logst und Grimassen schnittest, hat die hübsche Blondine ihre Blicke nicht von dir gewendet … Euch Nekljuschews lieben sie, euch opfern sie, und unsereiner kann sein ganzes Leben arbeiten und um sich schlagen wie ein Fisch auf dem Eise … Man kann ehrenhaft sein wie die Ehrenhaftigkeit selber und hat nicht eine einzige glückliche Minute. Und außerdem … erinnerst du dich? Ich war der Verlobte deiner Frau Olga Alexejewna, als sie dich noch nicht kannte. Ich war ein wenig glücklich; doch da bist du gekommen und … mit mir war es aus …«

»Ei – fer – sucht!« lächelte der Brünette. »Ich habe nicht gewußt, daß du so eifersüchtig bist!«

Im Gesicht von Nikolai Borissitsch zeigte sich das Gefühl des Ekels und des Widerwillens … Mechanisch, sich dessen selbst nicht bewußt, streckte er die Hand aus und … schlug zu. Der Schall einer Ohrfeige unterbrach die Stille der Nacht. Der Zylinder flog vom Kopfe des Brünetten herab und rollte über den festgestampften Schnee. Alles das ging in einer Sekunde vor sich, unerwartet, und sah dumm und ungeschickt aus. Der Rothaarige schämte sich sofort dieser Ohrfeige. Er drückte sein Gesicht in den verblichenen Kragen seines Paletots und schritt über den Boulevard. Beim Puschkin-Denkmal sah er sich nach dem Brünetten um, stand eine Minute unbewegt und lief, als ob ihn etwas jagte, zur Twerskaja …

Wassili Iwanitsch saß lange schweigend da und regte sich nicht. Ein Frauenzimmer ging an ihm vorbei und reichte ihm lachend seinen Zylinder. Er dankte mechanisch, erhob sich und ging.

»Gleich wird das Jucken beginnen«, dachte er nach einer halben Stunde, als er die lange Stiege zu seiner Wohnung hinanstieg. »Meine Frau wird mir für den Spielverlust schön heimleuchten. Die ganze Nacht wird sie mir eine Predigt halten. Der Teufel soll sie holen. Ich werde sagen, daß ich das Geld auf der Gasse verloren habe …«

An seiner Tür angelangt, läutete er schüchtern. Die Köchin ließ ihn ein.

»Gratuliere!« sagte ihm die Köchin, über das ganze Gesicht grinsend.

»Wozu?«

»Sie werden's schon erfahren. Gott, der Herr, hat seine Gnade walten lassen.«

Wassili Iwanitsch zuckte die Achseln und trat ins Schlafzimmer. Dort saß seine Frau Olga Alexejewna, eine kleine Blondine mit Papilloten im Haar. Sie schrieb. Vor ihr lagen schon fertige, geschlossene Briefe. Als sie ihren Mann erblickte, sprang sie auf und fiel ihm um den Hals.

»Du bist da?« rief sie, »welches Glück! Du kannst dir dieses Glück nicht vorstellen! Wassja, ich habe auf diese Überraschung hin einen hysterischen Anfall bekommen. Da, lies!«

Und sie sprang zum Tisch, nahm eine Zeitung und hielt sie ihrem Mann vors Gesicht.

»Lies! Mein Los hat Fünfundsiebzigtausend gewonnen. Ich habe nämlich ein Los. Mein Ehrenwort, ich habe eins. Ich habe es vor dir versteckt, weil … weil … du es vielleicht verpfändet hättest. Nikolai Borissitsch hat es mir, als er noch mein Verlobter war, geschenkt und wollte es später nicht mehr zurücknehmen. Was für ein guter Mensch ist dieser Nikolai Borissitsch! Jetzt sind wir schrecklich reich. Du wirst dich jetzt bessern und kannst ein ordentliches Leben beginnen. Du hast ja nur aus Not und Elend getrunken und betrogen. Ich kann das verstehen. Du bist ja ein kluger, ordentlicher Mensch.«

Olga Alexejewna ging im Zimmer auf und ab und lachte vor sich hin.

»Wie unerwartet! Ich bin von einer Ecke in die andere gegangen, schalt dich wegen deines unordentlichen Lebens, haßte dich, und dann setzte ich mich vor lauter Kummer hin, die Zeitung zu lesen … Und plötzlich sehe ich … Ich habe Briefe an alle geschrieben … an die Schwestern, an die Mutter. Werden sich freuen, die Armen! … Wohin gehst du?«

Wassili Iwanitsch hatte in die Zeitung geblickt … Betäubt und bleich, ohne auf seine Frau zu hören, stand er einige Zeit schweigend und nachdenklich da; dann setzte er seinen Zylinder auf und ging aus dem Hause.

»Auf die Große Dmitrowka, Hotel N. N.!« rief er einem Droschkenkutscher zu.

Im Hotel fand er die Person nicht, die er brauchte. Das ihm bekannte Zimmer war zu.

»Sie muß wohl im Theater sein«, dachte er, »und ist nach dem Theater … soupieren gefahren … ich werde ein wenig warten …«

Und er blieb und wartete … Es verging eine halbe Stunde; es verging eine Stunde … Er schritt im Korridor auf und ab und sprach mit dem verschlafenen Kellner … Unten schlug es auf der Hoteluhr drei … Endlich verlor er die Geduld und begann langsam zum Ausgang hinunterzusteigen … Doch das Schicksal erbarmte sich seiner.

Gerade in der Einfahrt begegnete er einer hohen, mageren, brünetten Dame, die in eine lange Boa gehüllt war. Ihr folgte auf dem Fuße ein Herr mit blauen Augengläsern und einer Lammfellmütze.

»Pardon«, sagte Wassili Iwanitsch zu der Dame. »Darf ich Sie eine Minute belästigen?«

Die Dame und der Mann machten ein böses Gesicht.

»Ich bin gleich fertig«, sagte die Dame zu ihrem Begleiter und ging mit Wassili Iwanitsch zur Gaslampe. »Was wünschen Sie?«

»Nadine, ich bin zu dir … zu Ihnen gekommen in einer wichtigen Sache«, begann Wassili Iwanitsch stotternd. »Schade, daß dieser Herr bei dir ist; sonst würde ich dir alles erzählen …«

»Ja was denn, ich habe keine Zeit!«

»Hast dir neue Anbeter eingeführt und hast natürlich keine Zeit! Gut machst du das, fürwahr! Warum hast du mir zu Weihnachten den Laufpaß gegeben? Du hast nicht mit mir leben wollen, weil … weil ich dir nicht genügend Mittel zum Leben bieten konnte … Siehst du, jetzt stellt sich heraus, daß du unrecht hattest … Ja … Erinnerst du dich an jenes Los, das ich dir zum Namenstag geschenkt hatte? Da lies! Es hat Fünfundsiebzigtausend gewonnen!«

Die Dame nahm die Zeitung in die Hand und suchte mit gierigen, gleichsam erschrockenen Augen die Telegramme aus der Hauptstadt … und sie fand …

Zur selben Zeit suchte ein anderes Augenpaar verweint, stumpf vor Jammer, beinahe sinnlos in der Schatulle nach dem Los … Die ganze Nacht suchten diese Augen und fanden nichts. Das Los, das noch dagewesen war, als Wassili Iwanitsch heimkehrte, war gestohlen, und Olga Alexejewna wußte, wer es gestohlen hatte.

In derselben Nacht wälzte sich der rothaarige Nikolai Borissitsch von einer Seite auf die andere und bemühte sich, einzuschlafen; aber er schlief erst gegen Morgen ein. Er schämte sich jener Ohrfeige.


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