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Anton Freiherr von Perfall

Schlag acht!

Die Steinerhütten liegt, ihrem Namen getreu, mitten in einem Gesteinsstrom, der einst von den Lacherwänden und den Grotenköpfen gegen sie herabgebraust war und sie wohl vernichtet hätte, wenn sie nicht aus dem Material ihrer Umgebung gebaut gewesen wäre; kein Sparren Holz war daran zu sehen; sogar das fast flache Dach bildeten graue Schieferplatten, wie sie zu Hunderten herumlagen.

Das alles gab ihr von Anfang ein düsteres Aussehen inmitten der sonst heiteren Natur und im Gegensatz zu den anderen behäbigen Hütten mit den heimlichen, steinbeschwerten Schindeldächern.

Alles grau in grau; selbst der Viehweg war bucklig und rauh; kaum daß da und dort ein Grasl wuchs, und das Jungvieh, das zum erstenmal auf die Alm kam, hatte stets arg an den Schalen zu leiden. Kam noch hinzu, daß der Steinstrom die Hütte etwas zur Seite gebogen hatte, so daß ihr das Dach ganz schief saß, kurz, sie hatte ein grämliches, nichts weniger als verlockendes Aussehen.

Ihre Lage in dem Gefels, im Rücken von uraltem Almwald gedeckt, mochte wohl der Grund sein, daß sie nicht im besten Rufe stand, was Schmuggel und Wilderei betraf. Wiederholt hatte sie in Gerichtsverhandlungen schon eine Rolle gespielt; die Lust am »Romantischen«, die dem Bergvolk in allen Knochen steckt, tat das übrige dazu.

Es war, bevor der Michl das Kar bezog, also vierzig Jahre zurück. Der Wildstand war damals noch gut. Rudel von Gemsen belebten das Kar, und im Herbst fand sich das Hochwild von allen Seiten zu nächtlichen Orgien ein.

So galt's einer ganz besonders guten Aufsicht für das Kar auf der einen und einer starken Versuchung auf der anderen Seite, so daß des Kampfes und des Streites kein Ende war und sich manches Drama um die Lacherwände und die Grotenköpfe herum abspielte.

Am 28. Juli 186., abends, es dunkelte bereits stark, fiel ein Schuß in der Richtung gegen den Schwarzgraben zu, aus dessen waldig zerklüfteten Schluchten die Grotenköpfe aufsteigen.

Die Sennerin von der Steinerhütten, die Karlin, die gerade die Kühe melkte, sprang so heftig von ihrem Sitzbankl auf, daß ein Teil der Milch auf die Steine floß, und lauschte mit offenem Mund, die braune Hand vor dem Ohre als Schalltrichter. Nichts mehr – dann sah sie sich nach dem Sepp, dem Kühbuben, um; er war nicht zu sehen. Sie ging der Hütte zu, trat in die enge Kammer neben dem Kaser, in dem das Feuer schon unter dem schwarzen Kupferkessel brannte, zündete hastig ein Schwefelholz an und beleuchtete damit das Zifferblatt einer Uhr. Diese gehörte zu der Art der Schwarzwälder; über der Zwölf glotzte ein rohgemaltes Auge aus einem von Strahlen umzitterten Dreieck – das Auge Gottes, während ein Kranz aus feuerroten plumpen Rosen das Zifferblatt umwand; die Gewichte hatten die Form von Tannenzapfen und hingen fast bis zum Boden herab. Die Uhr zeigte auf acht; es mußte gerade die Stunde geschlagen haben.

Karlin rieb rasch den großen Zeiger zurück, bis er auf der Sechs stand. Ein Rasseln ging los, so daß die ganze Stube zitterte; ein Schlag: halb acht Uhr. Karlin wartete das letzte Summen ab; dann eilte sie hurtig in den Stall, den Sepp, singend und pfeifend, eben in Ordnung brachte.

Er hatte offenbar den Schuß nicht vernommen; sonst hätte er davon gesprochen; er war jetzt schon in dem Punkt nicht sauber. Karlin lachte vergnügt in sich hinein: Wer weiß, für was guat is, schaden kann's ja net – ja, der Maxl hat alleweil die richtigen Finten.

Sie trank ihren Kaffee, dessen würziger Duft in die schwüle Sommernacht hinauszog. Der Sepp leistete ihr Gesellschaft und schmauchte seine Pfeife. Kein Lüfterl, dann und wann ein Glockenton; nur drinnen im Stübel tickte und tackte die Uhr.

»Hast den Jaga g'sehn heut nachmittag im Grotenkopflahner?« fragte der Sepp plötzlich. »Lang hat er runterg'schaut mit dem Spektiv auf d' Hütten.«

Die Karlin stutzte; ein Angstgefühl stieg in ihr auf. »Wann war das nacher?«

»Na, so um fünfe umeinand. Wird schon wieder ein auf der Mucken haben! A Luader, der Lechner, i tät'n scheucha.«

Die Karlin sprach kein Wort mehr; aber ihre Hand zitterte, mit der sie die Kaffeeschale zum Munde führte. Auf einmal hielt sie still und horchte in die Nacht hinaus, die bereits eingefallen war; auch der Sepp wurde aufmerksam.

Es schlich etwas draußen in der Nacht, nichts Besonderes für die Karlin; aber heute beunruhigte sie es stark. Der Sepp lachte nur tückisch.

Da trat ein Mann unter die Tür; trotz allen Bemühens, gelassen zu erscheinen, verriet er atemlose Hast. Das bartlose Gesicht war voll Schweiß und doch blaß, der Atem fliegend, das Gewand beschmutzt wie von einem Sturz auf nassem Grund. »Was schaut's denn so?« fragte er, mühsam seine Atemnot verbergend, »wär schon an Wunder – bei dem Weg …«

»Woher kommst denn nacher, Maxl – heut noch?« fragte Karlin, scheinbar gelassen das Feuer schürend.

»Oh, von – von Grasweg halt – von wegen der Sau vom Michl – wenn grad a G'schäftl gang. – Grad a frisch's Wasser, Sepp – aber frisch – i – i verbrenn …« Dabei ließ er sich erschöpft auf die Bank fallen.

In dem Augenblick schlug die Uhr in der Stuben nebenan langsam acht Schläge. Der Ankömmling lauschte mit sichtlicher Unruhe – als der achte Schlag gefallen war, atmete Maxl auf. »Gel, achte?« fragte er die Karlin.

»Schau nein, Sepp, oft schlagt's falsch«, gebot sie.

Sepp trat in die Stube. »Acht! Fehlt sich nix.«

Die Karlin und der Maxl wechselten einen Blick.

»A Wasser! I verdurst – aber a frisch's, Sepp!«

Sepp nahm den Krug und lief zum Brunnen hinaus.

Da packte der Maxl die Hand der Karlin. »Geht die Uhr a recht?«

Karlin sah ihn scharf an. »Ganz recht – für di wenigstens«, flüsterte sie ihm zu, und schon fühlte sie einen dankbaren Händedruck. Eine Frage schwebte auf ihren Lippen; sie mußte sie gewaltsam unterdrücken: sie weiß nichts und will nichts wissen.

Der Maxl legte die Hand auf seine Brust, als ob ihm der Atem fehlte; sonst hätte sie die Frage doch noch gestellt. Zum Glück kam der Sepp mit dem Wasser; der Maxl leerte den Krug auf einen Zug. »Das war guat!«

»Hast halt so viel heiß Bluat«, meinte die Karlin.

»Ja, ja, 's Bluat, das is ja.« Er sprang auf. »Jetzt muaß i noch zum Michl umi, wenn's erst achte vorbei is.«

»Der schlaft ja schon«, meinte der Sepp.

Der Maxl ließ sich nicht aufhalten und eilte hinaus. Karlin folgte ihm nicht – es war besser so –; sie weiß nichts und will nichts wissen.

Das war eine schlimme Nacht. Sie ließ die Uhr stillstehen; jeder Stundenschlag pochte wie Hammerschlag gegen ihr Gehirn. – –

Am 30. Juli 186. fanden die Holzknechte im Schwarzgraben unter den Grotenköpfen die Leiche des Jagdgehilfen Johann Lechner aus Grasweg. Der Todesschuß mußte aus nächster Nähe abgefeuert worden sein; ein angebrannter Papierpfropfen hing in dem mächtigen Rotbart des Getöteten. Auf der einen Partei grenzenlose Entrüstung, der Hannes galt nicht einmal als ein besonders Scharfer im Dienst. Auf der anderen Seite, der größeren, schlecht unterdrückte Schadenfreude.

Die Behörde nahm sich der Sache mit größtem Eifer an. Eine unermüdliche Suche begann, die immer wieder auf einen Verdächtigen zurückführte, einen gewissen Maximilian Loferer aus Grasweg, Dienstknecht in einer Sägmühle. Das Alibi, das er bei der Verhaftung nachweisen wollte, rechtfertigte eher den Verdacht, als daß es ihn aufhob. Er behauptete, am 28. Juli, abends 8 Uhr, in der Zeit, um die man nach übereinstimmenden Aussagen den fraglichen Schuß in der Nähe der Grotenköpfe gehört hatte, auf der Steineralmhütten im großen Kar gewesen zu sein; die Almerin Karlin Roßtaler und der Kühbub Joseph Mangl könnten es auf Eid bezeugen; von der Steinerhütten sei er dann zum Schweizermichl hinüber, um eine Sau zu kaufen.

Diese Alibi kannte man. Die Karlin, natürlich sein Schatz, schwört kalt einen Meineid. Es handelt sich also nur darum, die anderen beiden Zeugen, den Kühbuben und den alten Schweizer, in ein gehöriges Kreuzverhör zu nehmen. Das halten sie selten aus.

Sehr merkwürdig war ja schon, daß diese drei genau die Zeit angeben konnten, zu der der Verdächtige auf der Alm gewesen sein sollte, und daß diese Zeit genau die Zeit der blutigen Tat war: darin lag ja schon das gegenseitige Einverständnis.

So stieg der Untersuchungsrichter in Begleitung seines Schreibers mit Zuversicht in das Kar hinauf, um die Angelegenheit rasch ins klare zu bringen.

Die Karlin wäre schier umgefallen, als ihr der Sepp die Kunde vom Tode des Jägers brachte. Sie ahnte ja längst das Schlimmste; es starrte ihr ja aus dem verzerrten Antlitz des Maxl entgegen; aber noch immer hoffte sie wenigstens auf eine weniger grausame Lösung. Sie war gewiß von hartem Holz und unumwunden auf Seite der Wilderei. Aber das Bild trieb ihr doch alles Blut aus dem Gesicht: der starke Hannes mit seinem roten Bart als blutige Leiche! Vor dem Mord hielten weder ihre Nerven noch ihre brüchige Moral stand.

»Aber das is a Glück für den Maxl«, setzte der Sepp der Botschaft hinzu, »daß er grad um achte in der Hütten war bei uns – auf den hätten s' gleich an Verdacht.«

»Gel, Sepp, grad um acht!« bekräftigte Karlin.

»Wenn i's noch schlagen hör – und du mich eini schickst a noch zum Nachschaun.«

»Daß i den Schuß nit g'hört hab bei die Grotenköpf – seltsam«, sondierte Karlin noch einmal.

»Mein Gott, a Schuß is gleich überhört, i war im Stall, da hörst eh nix –«

»Wann hast denn nacher du g'hört, daß er g'fallen is – was sagen die Leut?« fragte Karlin, ihre Aufregung geschickt verbergend.

»Um achte umanand halt, schaut ma a net grad gleich auf d' Uhr wegen so an Schuß.«

»Kümmer dich net, bald werden's heroben sein vom G'richt zum Ausfragen. I sag's, wia's is – was kümmert's mich.«

Karlin war nur mehr Erwartung des Kommenden. Den Maxl sollen s' nicht ankönnen, es wird ihm selber nah g'nug g'stand'n sein – wenn er's wirklich war. G'sagt hat er's ja net, und sie hat sich wohl gehütet, eine Frage an ihn zu richten. Dieser Umstand hob ihre letzten moralischen Bedenken wegen der Uhrlist auf. Ja, sie redete sich förmlich ein, daß er es nicht war.

Als dann die Verhaftung des Maxl bekannt wurde, da ging es von Hütte zu Hütte, und alle kamen sie herüber, sie auszufragen. Wußte man doch, daß der Bursch oft um die Wege war. Die Schadenfreude und die grausame Lust an der Entwicklung kämpften zusammen mit der eingewurzelten Sympathie, die doch dem Wilderer galt, gegen das verhaßte Jägertum.

Das war eine gute Vorprobe für Karlin, wie sie sich dem Gericht gegenüber in ihrer Aussage zu verhalten habe. Ihre Auskunft war kurz und vorsichtig. In der Hütten war er um die fragliche Zeit. Weiter ging sie die ganze Geschichte nix an.

Endlich kamen zwei Herren den Almweg herauf. Sepp meldete sie sofort der Karlin. Vor jeder Hütten standen die Einwohner.

Ein kleiner Mann, städtisch gekleidet, und ein langer Hagerer, eine Mappe unter dem Arm. Ein gruseliges Behagen zog in jedes Herz, als die beiden ihre Schritte gerade auf die Steinerhütten zu lenkten.

Karlin rechte das Heu, und nahm nicht die geringste Notiz von den beiden, bis sie dicht bei der Hütten waren. Der Kleine sah nichts weniger als gefährlich aus. Er war behäbig, hatte ein offenes Gesicht mit zwei lustig blitzenden, schwarzen Augen; der andere sah schon kritischer aus, amtsmäßiger. Karlin hielt zuerst diesen für den Herrn. Doch der Kleine sprach sie an: »Fleißig, fleißig!«

»Na, man tut halt sein möglichstes«, erwiderte Karlin harmlos, »wollen die Herren net Platz nehma? A Milch oder an Kaffee?«

»Nichts, mein Kind, gar nichts«, bemerkte der Kleine, »ich will nur dich einen Augenblick ungestört sprechen. Komm einmal herein!« Er betrat die Hütten.

»Rasch, rasch, der Herr Untersuchungsrichter hat keine überflüssige Zeit«, drängte der Begleiter die Karlin.

Der Richter warf ihm einen verweisenden Blick zu.

»Nur keine Angst, Karlin, es geschieht dir nichts; ich verlange nur eine Auskunft von dir«, und da die Tür zur Stube offenstand und er den Tisch erblickte, der drin stand, trat er ein. Sein Begleiter nahm Platz, holte Schreibzeug und Aktenpapier aus seiner Tasche und setzte seine Brille auf.

»Ein heimliches Stübchen«, meinte der Richter, »also fangen wir an.«

Karlin saß vor ihm. Da schlug die Uhr dreimal. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Das Verhör begann.

»Du kennst einen gewissen Maximilian Loferer aus Grasweg?«

»Ja, den kenn i –«

»Er war schon wiederholt diesen Sommer auf der Alm?«

»Ganz richtig.«

»Kannst du dich erinnern, daß er am Samstag, den 28., also vorigen Samstag, auch hier war?«

Karlin machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß du wahrscheinlich in bezug auf die Aussage, die du mir jetzt machst, vereidigt werden wirst; also bleib gleich jetzt bei der Wahrheit.«

»Was soll i denn lügen, i mach doch kein G'heimnis draus, daß der Maxl mein Schatz is. Jeden Samstag kommt er, und am vorigen is er a komma.«

»Gut, gut, ich habe ja nichts dagegen, mein Kind«, bemerkte der Richter gemütlich. Nur die kleinen, schwarzen Augen blickten so spitz, daß Karlin ihren Blick senken mußte. »Um welche Zeit war er vorigen Samstag bei dir? Ungefähr wirst du dich noch erinnern können, nachmittags oder abends oder später …?«

»Um achte, Punkt achte«, erwiderte Karlin etwas zu hastig.

Der Richter warf den Kopf auf und sah sie durchdringend an. »Wo warst denn du, als der Maxl kam? Bei der Arbeit oder in der Küche oder hier?«

»In der Küch war i, Kaffee hab i kocht.«

»Hast du eine Uhr bei dir? Zeig einmal!«

Das Wort »Uhr« verwirrte Karlin.

»Du hast keine bei dir, überhaupt nie eine bei dir. Wie konntest du denn wissen, daß es Punkt acht Uhr war?«

»Wenn's g'schlagen hat – gleich drauf – die Uhr – Sehen Sie's ja.« Sie wies auf die Uhr.

»Diese Uhr …« Der Richter setzte jetzt zum erstenmal einen Zwicker auf, erhob sich, trat an die Uhr, berührte die Gewichte, besah sich das Zifferblatt. »Das Auge Gottes«, sagte er dann, »dem nichts verborgen ist, nicht wahr?«

»Fragen S' doch den Sepp, den Kühbuben, der hat's a g'hört und g'sehn, daß grad achte war.«

»Kurz, Sie sind bereit«, wandte sich der Richter plötzlich von der Uhr ab zu Karlin, »zu beschwören, daß es acht Uhr war, als der Loferer am 28. Juli zur Hütte kam?«

Karlin stockte etwas. »Ja, das – das – bin i –«.

»Dann rufen Sie den Sepp«, befahl der Richter plötzlich in völlig verändertem, strengem Tone.

Karlin atmete ordentlich auf und wollte hinaus.

»Bitte, können Sie ihn nicht von hier aus rufen? Wird wohl nicht weit sein.«

Karlin rief den Sepp, der gleich darauf, den Hut demütig gezogen, mit der reinsten Armensündermiene eintrat.

»Jetzt gehen Sie, Karlin, ich werde Sie schon rufen lassen, wenn ich Sie brauche.«

Das Verhör Sepps begann.

»Am 28. Juli, vorigen Samstag, kam ein gewisser Loferer aus Grasweg hierher auf die Alm. Zu welcher Zeit? Kannst du dich noch erinnern? Überlege, was du sprichst!«

»Um acht Uhr, Herr«, erwiderte der Sepp in einem Ton, der das Gepräge voller Wahrheit trug.

»Wie kommt es denn, daß du die Zeit so genau weißt?«

»Weil's g'schlagen hat gleich drauf, wia er kommen is …«

»Geschlagen? Diese Uhr? Wo warst du, wie es geschlagen hat?«

»In der Kuchl bei der Karlin.«

»Also selbst auf die Uhr gesehen hast du nicht!«

»Doch schon – wenn mich die Karlin einaschickt.«

»Die Karlin?«

»Ob's net am End falsch schlagat?«

»Hat sie oft falsch geschlagen, die Uhr?«

»I wüßt' net.«

»Warum hat denn die Karlin dann gemeint, sie habe vielleicht falsch geschlagen?«

Der Sepp stutzte, das war eine seltsame Frage. »Das weiß i net – wegen der Lichten vielleicht –«

»Wegen der Lichten? Es war also vielleicht dunkler, als es gewöhnlich um acht Uhr bei euch zu sein pflegt?«

»A Wetter is halt ober die Grotenköpf g'standen.«

»Und doch ist es dir aufgefallen? Die Lichten aufgefallen?«

Der Sepp schwieg. Der Schreiber und der Richter wechselten Blicke.

»Hast du etwas von einem Schuß gehört um diese Zeit?«

»Nix, gar nix.«

»Auch die Karlin nichts?«

»Nix, gar nix, bei der Stallarbeit hört man nix.«

»Also du bist bereit, unter Umständen auf Eid die Aussage zu wiederholen?«

»Wenn S' wollen?«

Der Richter stand auf, trat noch einmal vor die Uhr und besah sie genau. Dann ergriff er plötzlich den großen Zeiger und rieb ihn so lange, bis er nahezu auf acht Uhr zeigte. Die Uhr schlug jede Stunde völlig richtig. »Bitte, Herr Lehnert, treten Sie in die Küche!«

Dieser ging hinaus. »Haben Sie deutlich gehört?« »Acht Schläge«, erwiderte der Schreiber, »habe genau aufgepaßt.«

Dann blickte der Richter auf Karlin. Sie war hereingerufen. Totenblaß war sie, und das Herz schlug ihr unter dem Mieder. »Vorderhand sind wir fertig – wir sehen uns wahrscheinlich wieder, Karlin. Sehen Sie nur dann und wann in das Auge Gottes auf der Uhr; es wird Ihnen guttun!« Er ging auf die Hütten des Schweizermichl zu.

Karlin schlug die Stubentür hinter sich heftig zu, schob den Riegel vor und warf sich über den Tisch, den Kopf in ihre Hände vergrabend. »Mein Gott, mein Gott, hilf mir und ihm!« Als sie das Haupt wieder hob, fiel ihr erster Blick auf das fürchterliche Auge oben an der Uhr; es war, als ob es sich ganz schief zu ihr hinwende.

Drei Monate darauf erklärten die Geschworenen den des Mordes an dem Jäger Johannes Lechner angeschuldigten Häuslersohn Maximilian Loferer für unschuldig und frei der Haft – trotz aller Einwände des Staatsanwalts, der die Zeugin Karlin in das schärfste Kreuzverhör nahm, die Übereinstimmung der Aussagen Sepps und Karlins nicht als stichhaltig gelten ließ und unumwunden auf die Möglichkeit eines Betrugs von seiten Karlins, der Geliebten des Angeklagten, hinwies.

Das Alibi war nicht gut umzustoßen. Besonders Sepps Aussage wirkte, der selbst zur fraglichen Zeit die Uhr kontrolliert hatte; die Behauptung des Staatsanwalts, die Uhr könne ja von Karlin falsch gestellt worden sein, erschien konstruiert.

Grasweg empfing den Maxl wie einen Helden. Es fehlte nicht viel, daß man ihm Triumphbögen errichtete.

Um so stiller war es auf der Steinerhütten. Es war schon Oktober; die Almleute waren alle schon abgezogen, nicht ohne einen letzten scheuen Blick auf das Haus zu werfen. Es war nicht alles in Ordnung damit. Die Karlin war ordentlich alt geworden und still, so still, wie nur ein Mensch werden kann, den etwas Arges drückt.

Der Sepp erzählte die sonderbarsten Sachen, die man gern anhörte.

Oft tät's in der Nacht an Schrei, und die Karlin springat aus'm Bett – das Seltsamste aber war, daß sie die Uhr hätt nimmer schlagen hören können. Ganz z'sammg'fahren sei s' bei jedem Schlag, zuletzt hab sie s' still stehen lassen, aber das hätt nix g'holfen – um achte hätt's immer wieder g'fragt: »Hat's jetzt net g'schlag'n, Sepp?« – »Aber Karlin, wenn s' gar nimmer aufzog'n is!« Dann hat s' nur immer mit dem Kopf g'schüttelt und ganz stier dreig'schaut – einmal aber, und das war das ganz Seltsamste – habe er, der Sepp, sie selber schlagen hören um achte – acht Schlag! Das kann er b'schwören, und wenn er dann nachg'schaut hat, san die G'wichter auf der Bank g'standen.

Da kannst glauben, was d' magst, war das Urteil, sauber is die Sach net.

Die Karlin aber bat den Bauern, noch den Oktober auf der Alm bleiben z'dürfen, z'tun geb's ja allerhand – grad als wenn s' herbunden wär. Und so blieb sie auf der Alm, ganz allein, und der Sepp trieb das Vieh heim.

Es war etwas Wahres an dem Gerede von der Uhr. Jeder Schlag ging ihr durch und durch, mahnte sie an furchtbare Dinge. Trotz allem Beschönigen ihrer eidlichen Aussage, im Grunde war sie doch erlogen; die Angst des bösen Gewissens kam über sie. Sie wußte diese ständige Mahnerin zum Schweigen zu bringen; daß sie trotzdem wiederholt ihre Schläge gerade um die verhängnisvolle Stunde zu vernehmen glaubte, das war Tatsache – aber was red't net alles so ein schlechtes Gewissen aus einem heraus!

Wenn sie die Probe machte und um acht Uhr in die Stube trat, dann rührte sich natürlich nichts, gar nichts. Nur das Auge Gottes durfte sie nicht anschauen – da war der Richter daran schuld, mit seinen verdächtigen Worten, ehe er ging.

Als sie nach der Gerichtsverhandlung förmlich auf den Berg floh, um ja von niemandem angesprochen zu werden, vor allem nicht von Maxl, da fühlte sie sich ganz gebrochen. Kaum daß sie hinaufkam. Nicht einmal freuen konnte sie sich über den Freispruch. Wie war's nur möglich, daß die g'scheiten Herren nicht hinter ihre Schliche kamen, daß sie dem Maxl die Schuld nicht aus dem Gesicht lasen! – Der Staatsanwalt hat das Richtige gehabt. Sie hat selbst Respekt davor haben müssen. Dann hat ihn der Advokat z'sammbögelt und aus dem Maxl einen Heiligen g'macht. Ihren Ohren hat s' net traut, und oft war's ihr, als ob s' aufstehen und die ganze Wahrheit bekennen müßt. Dann hat s' der Maxl wieder so dankbar ang'schaut, daß ihr die hellen Tränen gekommen sind.

Aber eins war ihr in ihrer Herzensangst klar: Aus muß's sein zwischen ihr und ihm.

Acht Tage waren vergangen, und er hatte sich noch nicht sehen lassen. Sie war ihm dankbar dafür; er wird sich wohl das gleiche denken. Dann kamen wieder Stunden, in denen sie ihn herbeisehnte. Den hellen Undank sah sie in seinem Ausbleiben …

Nichts Traurigeres als die Steinerhütten im Spätherbst, wenn die schwarzen Nebel die ganze Woch' hereinhängen, ein fahles, gleichmäßiges Licht, nicht Tag und nicht Nacht. Kein Laut als dann und wann der Brunstschrei eines Hirschen. Und die endlosen Nächte in dem ewigen Schweigen … Weh dem, der da etwas auf dem Gewissen hat, es wächst und schwillt im Herzen mit dem Nebel um die Wette.

Endlich klapperte eines Abends ein Bergstock vom Tal herauf. Sie freute sich so darüber, daß sie weiter an gar nichts dachte. Der Bauer oder ein Knecht mit irgendeinem Auftrag oder nur zum Nachschauen – nur wieder einmal ein Mensch – sie war dankbar für jeden.

Jetzt kam er über die Almlichten – der Nebel ließ ihn nicht erkennen – immer größer wurde er – auf einmal preßte es ihr einen Schrei aus: »Der Maxl!« Ganz frisch und frei. Jetzt schwenkte er gar den Hut und rief ihr zu.

Sie mußte sich an den Brunnenrand halten. Ganz schwindlig wurde ihr: Ja, war denn das wirklich nur a böser Traum – oder war er wirklich – unschuldig – daß sie sich das all's nur so z'sammg'reimt – Kann denn ein Mensch mit ein' Mord am G'wissen – so daher komma – ja dann – dann wär ja all's – dann hätt sie ja – dann gab's ja gar keine Schuld …

Eine Erlösung kam über sie. Entgegen ging sie ihm doch nicht, und den Ruf beantwortete sie auch nicht. Da stand er vor ihr, keine Spur von Leid oder Schuld in dem lebfrischen Gesicht.

»Ja, was freust dich denn net, Karlin?« Beide Hände streckte er ihr entgegen. »Dir hab i ja all's z'danken – all's – im Zuchthaus sitzat i ohne dich …«

Karlin wußte sich nicht zurechtzufinden.

»Ja – aber – ja was –, sie haben dir ja doch nix beweisen könna.«

»Ah was, beweisen, des hätt's weiter net braucht, wenn du mir net außa holfen hätt'st mit deiner Uhr. – Ja was schaust denn so seltsam – freilich grad das hat mir außa g'holfen – daß du dir das nur so g'merkt hast, das Stückl, und hab grad amal so im G'spaß davon g'redt – Na, so red doch – bist du g'spaßig!«

Karlin ließ seine Hand fahren. »Rausg'holfen, sagst – daß d' net unschuldig – verurteilt –«

»Unschuldig!« Maxl lachte. »Geh, Karlin, das glaubst ja selber net –«

Karlin fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sah ihn groß an. »Also du bist – du hast wirklich die Tat –«

»Aber, Karlin, wia du red'st – ja, Herrgott«, fuhr er dann ganz zornig auf, »hätt i mi derschiaßen lassen sollen – von dem Jaga? – So is g'standen.«

»Ja, ha, so wird's g'standen sein, das hab i mir schon dacht«, erwiderte Karlin ganz verwirrt, »aber g'wußt – g'wußt hab i's net –«

»No und jetzt –jetzt bin i komma, um dir z'danken, Karlin – mehra – viel mehra – um dir z'sagen, daß i – daß wir z'sammg'hörn müassen. I bin net so arm, i hab' a klein's Sachei, auf dem sich's schon hausen laßt. Also, Karlin – viel umschneiden kann i net –« Er reichte ihr die Hand.

Karlin betrachtete ihn mit unverhohlenem Erstaunen. »Ja, aber – das war ja a Mord! –« Sie schrie das letzte Wort heraus.

Der Maxl fuhr selbst zurück. »Das heißt so viel, als daß du, – komm, Karlin, in der Stuben – da – da red't sich's besser.« Er ergriff sie bei der Hand und zog sie gewaltsam in die Hütten.

Maxl öffnete die Tür zur Stube. Karlin folgte ihm willenlos in das Dunkel. Er warf den Bergstock in die Ecke und umfaßte sie in neuerwachter Leidenschaft.

Erst duldete sie es. Dann fuhr sie jäh auf: »Hörst! Hörst! Die Uhr!«

Maxl wußte nicht, was ihr war, was sie damit sagen wollte.

»Acht Schläg' – hast d' g'hört?« flüsterte Karlin.

»No, und was is nacher – acht halt«, meinte der Maxl mit erzwungenem Lachen.

»Um acht is die Mordtat g'schehn –« flüsterte Karlin.

Maxl stieß einen wilden Fluch aus und stieß sie von sich.

»Was hat das mit der Uhr z'tun, närrische Dirn?«

»Die Uhr steht schon seit an Monat still, nur um acht schlagt s' seit dem Tag –«

Der Maxl lachte höhnisch auf. »Na, die will i mir doch a amal anschaun.« Er strich ein. Streichholz auf der Tischplatte an und beleuchtete das Zifferblatt. Karlin verfolgte jede Bewegung von ihm, genau so, wie sie es damals getan hatte.

»Da hast's ja, Ding dumm's«, rief der Maxl, »mein Bergstock hat die G'wichter runterg'schlagen von der Bank, wo s' aufg'standen san. Da, schau her!« Er zündete ein zweites Zündholz an. Der Bergstock hatte sich im Fallen an die Gewichtskette verhängt. »Glaubst jetzt noch an den Unsinn? Red'!«

Karlin sprach kein Wort, das Auge war drohend auf sie gerichtet – das Streichholz verlosch – Finsternis umgab sie wieder.

Maxl näherte sich ihr nicht mehr. »Du scheust dich also vor meiner? A Mörder bin i für dich –«

Keine Antwort erfolgte auf die Frage. Schwer lastete die Finsternis auf beiden.

»Na dann – in Gottes Namen!« Der Maxl tat einen schweren Seufzer, griff nach seinem Bergstock – ein dumpfer Schlag erfolgte, dann ein Klingen – und Schnurren – und Ticken, daß die ganze Stube davon erfüllt war – der Maxl hatte mit dem Stock die Uhr herabgerissen – – –

Kein Wort fiel – der Maxl sah nur zwei schwarze Augen leuchten. Da packte ihn selbst das Grauen; er floh aus der Hütten in die Nacht hinaus.

Karlin aber vergrub sich diese Nacht über im Heu. Das Summen und Klingen in der Stube unten wollte kein Ende nehmen – – –

Im Frühling darauf riß eine Steinlawine, die von den Lacherwänden losging, das Stallgebäude der Steinerhütten hinweg, und das halbe Dach fiel; da zu gleicher Zeit ein Besitzwechsel stattfand, blieb die Ruine außer Gebrauch. Was noch zu gebrauchen war, nahm der Schweizermichl hinüber; nur der völlig zerschlagene Trankkessel blieb drüben an dem schwarzen Galgen hängen, der jetzt ins Freie ragte, und an der Wand der Stube, deren Decke geborsten war, die Uhr – ohne Pendel und Gewicht, das Zifferblatt verwaschen und gesprungen, hängt sie noch dort. Keine Hand wagte sie herabzunehmen; das Auge blickt noch stumm und starr auf den Beschauer. Maxl ist aus dem Tal verschwunden und hat damit den Glauben an seine Täterschaft von neuem bekräftigt. Die Karlin zog lange Zeit von Hof zu Hof. Sie hielt es nirgends lange aus, und man nahm sie nur mehr aus Barmherzigkeit.

»Wird halt die Uhr kei Ruh' in ihr geben haben«, meinte der Michl in seiner Weise, und damit traf er den Kern der Begebenheit und allen Spuks, der je irgendwo gehaust hat: die Uhr in der eigenen Brust mahnt und klagt an.

Taten sterben nicht. Ewig wirken sie fort im Kreislauf des Werdens und Vergehens, und ihre Spuren sind unverwischbar im Geist und in der Materie. Stammen sie von Guten, so erfüllt Ehrfurcht und Dankbarkeit unser Herz stammen sie von Bösen, so schüttelt uns das Grauen, und die Beklommenheit der Seele lastet auf uns.


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