Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Robert Louis Stevenson

Markheim

»Ja«, sagte der Händler, »die Wechselfälle unseres Geschäfts sind vielfältig. Es gibt unwissende Kunden, dann profitiere ich durch mein größeres Wissen. Es gibt auch Unehrliche«, hier hielt er den Leuchter in die Höhe, so daß der Schein voll auf seinen Besucher fiel, »und in diesem Falle«, fuhr er fort, »ziehe ich aus meiner Tugend Gewinn.«

Markheim kam gerade erst aus der Tageshelle der Straße; seine Augen hatten sich noch nicht an das Gemisch von Licht und Dunkel in dem Laden gewöhnt. Bei diesen vielsagenden Worten und angesichts der Flamme blickte er schmerzhaft blinzelnd beiseite.

Der Händler kicherte: »Sie kommen am Weihnachtstage zu mir«, redete er weiter, »obwohl Sie genau wissen, daß ich allein im Hause bin, die Läden heruntergelassen habe und streng darauf halte, Geschäften aus dem Wege zu gehen. Nun, Sie werden dafür zahlen müssen; Sie werden dafür zahlen müssen, daß ich jetzt Zeit versäume, während ich über meinen Rechnungsbüchern sitzen sollte; Sie müssen außerdem für ein gewisses Benehmen zahlen, das mir heute an Ihnen ganz besonders auffällt. Ich bin die Diskretion selbst und stelle keine unliebsamen Fragen; aber wenn mir ein Kunde nicht ins Auge sehen kann, muß er dafür zahlen.« Wieder kicherte der Händler und fuhr dann im üblichen Geschäftston, wenngleich mit einem Schatten von Ironie, fort: »Sie können natürlich wie gewöhnlich einwandfrei nachweisen, wie Sie in den Besitz des Gegenstandes gelangt sind? Wieder mal aus Ihres Onkels Kabinett? Ein hervorragender Sammler, Herr!«

Der kleine blasse Händler mit dem krummen Rücken stellte sich fast auf die Zehenspitzen, guckte über die Gläser seiner goldenen Brille hinweg und schüttelte mit allen Zeichen des Unglaubens den Kopf. Markheim erwiderte seinen Blick mit grenzenlosem Mitleid und leisem Grauen.

»Diesmal«, sagte er, »befinden Sie sich im Irrtum. Ich bin nicht gekommen, um zu verkaufen, sondern um zu kaufen. Ich will keine Raritäten losschlagen; meines Onkels Kabinett ist bis auf die Wände ausgeplündert; aber selbst wenn es noch intakt wäre, würde ich nichts verkaufen wollen. Ich habe an der Börse Glück gehabt und würde die Sammlung daher eher vergrößern als vermindern; mein heutiges Anliegen ist die Einfachheit selbst. Ich suche ein Weihnachtsgeschenk für eine Dame«, fuhr er mit wachsender Geläufigkeit fort, je mehr er sich für die Rede, die er sich zurechtgelegt hatte, erwärmte, »und sicherlich bin ich Ihnen darüber, daß ich Sie in einer so geringfügigen Angelegenheit störe, eine Erklärung schuldig. Ich habe die Sache gestern versäumt; ich muß meine kleine Aufmerksamkeit heute beim Essen anbringen; wie Sie sich denken können, darf man eine reiche Heirat nicht vernachlässigen.«

Der Händler schien die Worte ungläubig abzuwägen. Das Ticken zahlreicher Uhren, die zwischen dem fremdartigen Trödel des Ladens verborgen hingen, und das ferne Rollen der Wagen aus einer der benachbarten Verkehrsstraßen füllten die kurze Pause. »Gut, Herr«, sagte der Händler, »es sei. Schließlich sind Sie ja ein alter Kunde; und wenn sich Ihnen wirklich, wie Sie sagen, die Gelegenheit zu einer vorteilhaften Heirat bietet, will ich der letzte sein, der sich Ihnen irgendwie in den Weg stellt. Hier habe ich etwas Hübsches für eine Dame«, fuhr er fort, »einen Handspiegel – fünfzehntes Jahrhundert, garantiert echt; stammt überdies aus einer guten Sammlung, wenn ich auch den Namen im Interesse meines Kunden verschweigen muß, der ganz wie Sie, verehrter Herr, der Neffe und einzige Erbe eines hervorragenden Sammlers ist.«

Der Händler hatte sich, während er in seiner trockenen, bissigen Art zu schwatzen fortfuhr, gebückt, um den Gegenstand von seinem Platz zu holen; währenddessen fuhr ein Zittern durch Markheims Glieder, ein Zucken von Hand und Fuß, und plötzlich jagte ein Sturm aufrührerischer Leidenschaften über sein Gesicht. Der Anfall verging so rasch, wie er gekommen war, und ließ keine Spur zurück, bis auf ein gewisses Beben der Hand, die jetzt den Spiegel in Empfang nahm.

»Ein Spiegel«, sagte er heiser und wiederholte es deutlich nach einer Pause. »Ein Spiegel? Zu Weihnachten? Das ist doch nicht Ihr Ernst?«

»Warum denn nicht?« rief der Händler. »Warum kein Spiegel?«

Markheim blickte ihn mit undurchdringlichem Ausdruck an. »Sie fragen mich, warum ich keinen Spiegel will?« sagte er. »Sehen Sie her – sehen Sie selbst hinein – sehen Sie sich an! Lieben Sie es, sich zu betrachten? Nein! Ich auch nicht – und ich wüßte niemanden, der es täte.«

Das Männchen war zurückgeschnellt, als ihm Markheim so plötzlich den Spiegel hinhielt; jetzt aber, da er erkannte, daß er nichts Schlimmeres in der Hand hatte, kicherte er. »Ihre Zukünftige muß recht stiefmütterlich vom Schicksal bedacht sein«, meinte er.

»Ich bitte Sie um ein Weihnachtsgeschenk«, sagte Markheim, »und Sie geben mir dieses da – diesen verdammten Herold der Zeit, der von Sünden und Torheit spricht – diesen Mahner des Gewissens! War das Ihre Absicht? Haben Sie dabei einen Hintergedanken? Reden Sie, Sie tun gut daran! Kommen Sie und erzählen Sie mir von sich selbst. Ich rate aufs Geratewohl: Im Grunde Ihres Herzens sind Sie ein recht mildtätiger Mann?«

Der Händler musterte seinen Besucher scharf. Seltsam, Markheim schien nicht zu lachen; aus seinem Gesicht leuchtete etwas wie erwartungsvolle Hoffnung, aber keine Heiterkeit.

»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte der Händler.

»Nicht mildtätig?« entgegnete düster der andere. »Nicht mildtätig, nicht fromm, nicht gewissenhaft; lieblos, ungeliebt; eine Hand zum Erraffen von Geld, eine Kassette für dessen Aufbewahrung. Ist das alles? Du großer Gott, Mensch, ist das alles?«

»Ich will Ihnen sagen, was ist«, begann der Händler mit einiger Schärfe und brach dann mit einem Kichern ab. »Aber ich sehe ja, daß dies eine Liebesheirat ist, und Sie haben auf der Dame Gesundheit getrunken.«

»Ah«, rief Markheim mit seltsamer Neugier. »Ah, sind Sie je verliebt gewesen? Erzählen Sie mir davon!«

»Ich«, rief der Händler, »ich und verliebt? Habe nie Zeit dazu gehabt und habe auch heute keine Zeit für diesen Unsinn. Wollen Sie den Spiegel?«

»Wozu die Eile?« entgegnete Markheim. »Es steht und plaudert sich hier doch recht angenehm; und das Leben ist so kurz und unsicher, daß ich keiner Freude entrinnen möchte, selbst einer so unschuldigen wie dieser nicht. Wir sollten vielmehr an allem, was uns gegeben ist, festhalten wie einer, der über einem Abgrund schwebt. Jede Sekunde stellt einen Abgrund dar, wenn man's recht bedenkt – einen schwindelnd tiefen Abgrund –, tief genug, um uns bis zur Unkenntlichkeit zu zerschmettern. Und daher ist es besser, sich angenehm zu unterhalten. Wir wollen über uns reden; wozu diese Maske? Lassen Sie uns gegenseitig Vertrauen fassen! Wer weiß, vielleicht werden wir noch Freunde?«

»Ich werde Ihnen kein einziges Wort mehr sagen«, erwiderte der Händler. »Entweder Sie erledigen Ihren Einkauf oder Sie scheren sich aus meinem Laden!«

»Wahr, sehr wahr«, sagte Markheim. »Genug der Torheiten! Zur Sache! Zeigen Sie mir etwas anderes!«

Der Händler bückte sich ein zweites Mal, um den Spiegel auf das Brett zurückzulegen; sein dünnes, blondes Haar fiel ihm über die Augen. Markheim trat, die eine Hand in der Tasche seines schweren Mantels vergraben, ein wenig näher. Er straffte sich zu seiner vollen Länge, und seine Lungen sogen sich voll Luft. Gleichzeitig malten sich die verschiedenartigsten Empfindungen auf seinem Gesicht: Furcht, Grauen und Entschlossenheit, gefesselte Aufmerksamkeit und körperlicher Widerwille; unter der verzerrten Oberlippe wurden seine Zähne sichtbar.

»Vielleicht ist dies etwas Passendes«, bemerkte der Händler. Während er sich aufrichtete, stürzte sich Markheim von hinten auf sein Opfer. Die lange schmale Klinge blitzte auf und traf. Der Händler zappelte wie eine Henne, stieß mit der Schläfe gegen das Wandbrett und sank als Häufchen zu Boden.

Die Zeit hatte wohl ein Dutzend feiner Stimmen in jenem Laden, gewichtige und gemessene, wie es dem hohen Alter zukommt, schwatzhafte und eilige; und alle zählten in verworrenem Ticktack die Sekunden. Von der Gasse her übertönte das hastige Getrappel von Knabenstiefeln auf Pflastersteinen den Chor der schwächeren Stimmen und erweckte Markheim zum Bewußtsein seiner Umgebung. Er blickte sich furchtsam um. Die Kerze stand auf dem Ladentisch; mahnend zuckte die Flamme im Luftzug, und diese Bewegung erfüllte den ganzen Raum mit stummem Leben und der wogenden Unruhe eines Meeres: die steilen Schatten nickten, die schweren, massigen Dunkelheiten schrumpften und wuchsen wie atmende Wesen, die Gesichter der Porträts und der chinesischen Porzellangötter wandelten sich und verschwammen gleich Spiegelbildern im Wasser. Die Innentür stand offen und spähte in das Heer der Schatten mit einem langen schmalen Streifen Tageslicht, der einem gestreckten Zeigefinger glich.

Von diesen schreckerfüllten Irrfahrten kehrten Markheims Augen zu dem Körper seines Opfers zurück, wie er bucklig, mit gespreizten Gliedern, unglaublich klein und unendlich viel erbärmlicher als im Leben dalag. In den ärmlichen Kleidern eines Geizhalses und in dieser zusammengesunkenen Stellung war das Ganze nicht viel mehr als ein Haufen Lumpen. Markheim hatte sich vor diesem Anblick gefürchtet, und siehe! es war ein Nichts. Und dennoch, während er dieses blutbesudelte Bündel alter Kleider betrachtete, begannen beredte Stimmen laut zu werden. Dort lag es und mußte es liegen; niemand war, der die geschickt gearbeiteten Angeln und Scharniere spielen ließ, der das Wunder der Bewegung zu steuern vermochte. Ja, dort mußte es liegen, bis es gefunden wurde. Gefunden! Ja, und dann? Dann würde aus diesem toten Leib ein Schrei aufsteigen, von dem ganz England widerhallen mußte. Das Echo der Jagd würde die ganze Welt erfüllen. Tot oder lebend, hier lag der Feind. »Zeit war, da der gehemmte Geist entwich« – fuhr es ihm durch den Sinn, und das erste Wort zündete in seinem Hirn. Die Zeit, für das Opfer ausgelöscht, war nun, nach vollbrachter Tat, für den Mörder unaufhaltsam, ungeheuerlich, bedeutungsvoll geworden.

Dieser Gedanke erfüllte ihn ganz, als erst die eine und dann die anderen Uhren, in jeder möglichen Variation von Takt und Stimme, tief wie die Glocke einer Kathedrale, leicht und hell wie der Auftakt zu einem Walzer, die dritte Nachmittagsstunde zu schlagen begannen.

Der plötzliche Ausbruch so vieler Stimmen in dem stummen Raum traf Markheim wie ein Fausthieb. Er raffte sich zusammen, schritt, die Kerze in der Hand, hin und her, unablässig von gleitenden Schatten verfolgt und von zufälligen Bildern zu Tode erschreckt. Aus zahlreichen prunkvollen Spiegeln, teils heimischen Ursprungs, teils in Venedig oder Amsterdam gefertigt, blickte ihm sein Gesicht in vielfältigen Wiederholungen gleich einem Heer von Spionen entgegen; seine eigenen Augen stellten ihn bei der Begegnung, und seine eigenen Schritte schreckten trotz ihrer Leichtigkeit die Stille ringsum auf. Und noch während er seine Taschen füllte, warf ihm sein Hirn unablässig die tausend Fehler seines Planes vor. Er hätte eine ruhigere Stunde wählen, sich ein Alibi beschaffen sollen; er hätte kein Messer gebrauchen, hätte vorsichtiger sein sollen. Es hätte genügt, den Händler zu binden und zu knebeln, statt ihn zu töten; er hätte verwegener sein und sich auch noch des Dienstboten entledigen sollen; alles hätte er anders machen sollen: brennendes Bedauern, zehrender, nimmer endender Kreislauf der Gedanken, um das zu ändern, was nicht zu ändern war; zweckloses Planen, Baumeister der unwiderruflichen Vergangenheit zu werden. Und im Hintergrund dieses fieberhaften Denkens erfüllten tierische Schrecken, wie das Scharren und Rascheln der Ratten auf dem öden Dachboden, die geheimsten Kammern seines Hirns mit Aufruhr; die Hand des Konstablers fiel schwer auf seine Schulter, und seine Nerven zuckten wie ein Fisch am Angelhaken; oder es jagten Gerichtsschranken, Gefängnis, Galgen und der schwarze Sarg an seinem geistigen Auge vorüber.

Furcht vor den Leuten auf der Straße belagerte ihn wie die Armee eine Festung. Mußte die Tat nicht bereits ruchbar geworden sein und die Neugier aufgestachelt haben? Und plötzlich sah er Leute in den Nachbarhäusern sitzen, regungslos, die Ohren gespitzt – die Einsamen, die dazu verurteilt waren, Weihnachten allein mit ihren Erinnerungen zu feiern, durch sein Tun aus ärztlichen Gedanken aufgeschreckt; er sah glückliche Familien um den Tisch versammelt, aber unbeweglich, erstarrt, die Mutter mit erhobenem Finger: Menschen jeden Standes, jeden Alters, jeder Laune, alle um den eigenen Herd geschart und alle spähend, lauschend und den Strick flechtend, der ihn henken sollte. Mitunter war es ihm, als könnte er nicht leise genug gehen; das Klirren der hohen böhmischen Gläser tönte laut wie eine Glocke; durch das sonore Ticken erschreckt, fühlte er sich versucht, die Uhren anzuhalten. Und wieder, in wechselndem Entsetzen, schien ihm das Schweigen selbst voller Gefahr: es mußte den Fußgängern draußen auffallen, sie von Grauen erfüllt an die Stelle fesseln. Und sofort steigerte er die Sicherheit seines Auftretens, machte sich geräuschvoll im Laden zu schaffen und ahmte mit studierter Leichtigkeit das Treiben eines geschäftigen Mannes nach, der sich zwanglos in seinem eigenen Hause bewegt.

Jetzt aber fühlte er sich von so vielfachen Ängsten zerrissen, daß sein Hirn dem Wahnsinn nahe war, doch gleichzeitig wachsam und schlau auf der Lauer lag. Der Nachbar, der sein bleiches Gesicht gegen die Scheiben preßte, der Passant, den eine grausige Ahnung stehenbleiben hieß, sie konnten im schlimmsten Falle nur Vermutungen hegen: wissen konnten sie nichts. Die Ziegelmauern und die geschlossenen Fensterläden ließen nur Geräusche hinaus. Aber war er hier im Hause wirklich allein? Er wußte, daß er es war; er hatte das Dienstmädchen im ärmlichen Feiertagskleide fortgehn sehen, dem Schatz entgegen: »Ausgang« in jeder Rüsche, in jeder lächelnden Falte ihres Gesichts. Ja, er war allein, natürlich war er allein; dennoch hörte er ganz genau über sich in der Leere des Hauses leichte Tritte – er war sich deutlich einer fremden Gegenwart bewußt. Ja, bestimmt; seine Phantasie schlich ihr in jedes Zimmer, in jeden Winkel nach; jetzt war es ein Ding ohne Gesicht, aber mit Augen, die sahen, und dann war es ein Schatten seiner selbst, und dann wieder war es das Abbild des toten Händlers, zu neuem Haß und neuer Tücke auferweckt.

Mit Widerstreben blickte Markheim von Zeit zu Zeit nach der offenen Tür, von der seine Augen unwillkürlich zurückprallten. Das Haus war sehr hoch, das Oberlichtfenster sehr klein und schmutzig, der Tag von Nebel blind. Das Licht, das ins Erdgeschoß sickerte, war schmutzig-trüb und zeichnete sich nur matt auf der Ladenschwelle ab. Und doch – lauerte nicht ein schwankender Schatten dort in dem schmalen Dämmerstreifen?

Plötzlich fing ein äußerst jovialer Herr an, unter Rufen und Scherzen und indem er den Namen des Händlers fortgesetzt wiederholte, draußen mit einem Stock an die Ladentür zu pochen. Markheim blickte, zu Eis erstarrt, den Toten an. Nein, der lag ganz still, diesem Klopfen und Rufen unerreichbar, in einem Meer des Schweigens versunken, und sein Name, der ehedem für seine Ohren das Toben des Sturmes übertönt haben mochte, war ein leeres Geräusch geworden. Nach einer Weile hörte der joviale Herr mit dem Klopfen auf und ging seiner Wege.

Das war ein deutlicher Wink, mit dem, was es noch zu tun gab, nicht zu säumen; sich auf und davon zu machen aus dieser anklagenden Umgebung, unterzutauchen in die Millionen Londons und, jenseits des Tages, jenen Hafen der Sicherheit und scheinbaren Unschuld zu erreichen – das Bett. Ein Besucher hatte sich bereits gemeldet; jeden Augenblick konnte ihm ein zweiter, hartnäckigerer folgen. Nach vollbrachter Tat um ihre Früchte betrogen zu werden, wäre zu furchtbar gewesen. Das Geld, das war jetzt Markheims dringendste Sorge, und als Mittel dazu: die Schlüssel.

Er warf einen Blick über die Schulter nach der offenen Tür, wo nach wie vor zitternde Schatten weilten. Ohne eigentlichen Widerwillen, aber unter körperlichem Schaudern näherte er sich der Leiche seines Opfers. Alles Menschliche war von ihm gewichen. Mit gespreizten Gliedern und gekrümmtem Rumpf glich sie einem lose mit Sägemehl ausgestopften Kleiderbündel; dennoch stieß dieses Ding ihn ab. Trotz der nichtssagenden Dürftigkeit des Anblicks fürchtete er sich vor der beredteren Sprache der Berührung. Er faßte die Leiche an den Schultern und legte sie auf den Rücken. Sie war seltsam leicht und geschmeidig, und die Arme und Beine nahmen dabei, wie gebrochen, die sonderbarsten Stellungen an. Das Gesicht war ohne jeden Ausdruck, wachsbleich und die eine Schläfe entsetzlich mit Blut beschmiert. Das war das einzige, was Markheim Widerwillen einflößte. Im Augenblick fühlte er sich in ein Fischerdorf zurückversetzt an einem bestimmten Jahrmarktstag: ein grauer Himmel, ein pfeifender Wind, eine Volksmenge auf den Straßen, Blechmusik, Trommelwirbel und die näselnde Stimme einer Bänkelsängerin; dazu ein Knabe, der, zwischen Furcht und Neugier hin und her gerissen, im Gedränge untertauchte, sich hierhin und dorthin wandte, bis er auf dem Hauptrummelplatz eine Bude mit einer ungeheuren Plakatwand entdeckte: elende, roh gemalte, schreiende Bilder, die Brownrigg mit ihrem Lehrling, die Mannings mit ihrem ermordeten Gast, Weare mit der Mörderfaust Thurtells an der Kehle und ein Dutzend andere berühmte Verbrecher darstellend. Das Ganze war so lebendig wie eine Fata Morgana; wieder war er der kleine Junge, wieder betrachtete er mit dem gleichen körperlichen Widerwillen diese gemeinen Bilder; wieder schlug der Trommellärm betäubend an sein Ohr. Einige Takte der damals gehörten Musik huschten ihm durch den Sinn, und hierbei überkam ihn zum erstenmal ein Ohnmachtsgefühl, eine Welle der Übelkeit, eine plötzliche Schwäche in den Kniegelenken, die es unverzüglich zu bekämpfen und zu überwinden galt.

Er hielt es für klüger, seinen Betrachtungen standzuhalten als ihnen zu entfliehen. Fest sah er dem Toten ins Gesicht und zwang sich, die Art und Größe des Verbrechens zu begreifen. Wie lange war es her, daß sich auf diesem Antlitz jedes wechselnde Empfinden gespiegelt, daß dieser Mund geredet, dieser Körper von gebändigter Energie geglüht hatte? Und jetzt war durch seine Tat dieses Stückchen Leben angehalten worden, wie der Uhrmacher mit gestrecktem Finger das Räderwerk einer Uhr zum Stehen bringt. So suchte er Klarheit zu gewinnen; vergeblich! So suchte er sich zu reuigerem Bewußtsein aufzupeitschen; vergeblich: dasselbe Herz, das vor den Abbildern des Verbrechens zurückgeschreckt war, blieb von der Wirklichkeit unberührt. Höchstens fühlte er ein schwaches Bedauern für dieses Wesen, dem ein gütiges Geschick vergebens alle Gaben in die Wiege gelegt hatte, die die Welt in einen Zaubergarten verwandeln, und das, ohne je gelebt zu haben, jetzt gestorben war. Von Reue kein Hauch.

Gewaltsam schüttelte Markheim diese Gedanken ab; er fand die Schlüssel und schritt auf die offene Tür zu. Draußen begann es heftig zu regnen, und das Geräusch der auf das Dach fallenden Tropfen verbannte das Schweigen. So wie in Höhlen das ständig rieselnde Wasser ein nie endenwollendes Echo weckt, so füllte sich das Haus mit ihrem Widerhall, der sich mit dem Ticken der Uhren vermischte. Im Näherschreiten war es Markheim, als antwortete seinen behutsamen Tritten ein anderer, fremder Tritt, der vor ihm die Treppe hinaufschlich. Immer noch zitterte der Schatten auf der Türschwelle. Mit dem Zentnergewicht seines Willens zwang Markheim seine Muskeln zum Gehorsam und schob die Tür vollends zurück.

Das schwache, dunstige Tageslicht schimmerte trübe auf dem kahlen Fußboden, auf der Treppe, auf der blinkenden Ritterrüstung, die mit aufgepflanzter Hellebarde auf dem Treppenabsatz stand, auf den dunklen Holzschnitzereien und gerahmten Bildern, die sich von der gelben Holzverkleidung der Wände abhoben. Das Prasseln der Regentropfen hallte so laut im Hause wider, daß Markheim in ihnen vielfältige Stimmen und Geräusche zu unterscheiden vermeinte. Fußtritte und Seufzer, der schwere Schritt eines in der Ferne marschierenden Regiments, das Klingen von Goldmünzen auf dem Ladentisch, das Knarren von Türen, die von heimlicher Hand offengehalten wurden, mischten sich, so schien es ihm, in das Geräusch des auf den Dachfirst klatschenden Regens und in das Rauschen des Wassers in den Leitungsrohren. Das Bewußtsein fremder Gegenwart brachte Markheim dem Wahnsinn nahe. Von allen Seiten umlagerten und verfolgten ihn unsichtbare Wesen. Er hörte, wie sie sich in den oberen Räumen bewegten; er spürte, wie sich der Tote aufrichtete, und als er sich mit großer Überwindung anschickte, die Treppe hinaufzusteigen, flohen Füße geräuschlos vor ihm her und schlichen ihm heimlich nach. Wäre er nur taub, fuhr es ihm durch den Sinn, wie ruhig würde seine Seele sein. Und wieder lauschte er gespannt und segnete jenen immerwachen Sinn, der auf Vorposten stand und als zuverlässige Schildwache sein Leben beschirmte. Unablässig drehte und wendete er den Kopf; seine Augen, die aus ihren Höhlen hervorzutreten schienen, spähten und schweiften nach allen Seiten, und von allen Seiten her ward ihnen ein halber Lohn durch ein namenloses Etwas, dessen schwindende Spur sie erhaschten. Die vierundzwanzig Stufen zum oberen Stockwerk waren vierundzwanzig Höllenstrafen.

Auf diesem Flur gähnten Markheim drei Türen entgegen, drohende Hinterhalte, die wie drei Kanonenmündungen seine Nerven erschütterten. Er fühlte, nichts war stark genug, um ihn fortan gegen die spähenden Augen der Menschen zu stählen und zu wappnen. Er sehnte sich danach, daheim zu sein, hinter festen Mauern, in den Bettüchern vergraben, allen unsichtbar außer Gott.

Bei diesem Gedanken wunderte er sich, als ihm die vielen Geschichten von anderen Mördern einfielen, die angeblich vor der Rache des Himmels gezittert hatten. Diese Berichte stimmten nicht, wenigstens nicht, was ihn betraf. Er fürchtete sich vor den Gesetzen der Natur; er befürchtete, sie könnten in ihrem gefühllosen und unabänderlichen Ablauf eine vernichtende Spur seines Verbrechens festhalten. Mit verzehnfachtem abergläubischem Grauen fürchtete er irgendeinen Riß in den menschlichen Erfahrungen, irgendeinen willkürlichen Bruch der Naturgesetze. Er spielte ein Spiel der Geschicklichkeit, dessen Ausgang von den Regeln, von den berechneten Wirkungen bestimmter Ursachen abhing. Wie, wenn nun die Natur, wie der besiegte Tyrann, das Schachbrett umstürzen, die Regeln des Spiels zertrümmern würde? Das gleiche hatte Napoleon erlitten, als der Winter den Zeitpunkt seines Beginnens änderte. Das gleiche konnte ihn, Markheim, treffen: die festen Mauern konnten durchsichtig werden und sein Treiben enthüllen wie ein gläserner Stock das Treiben der Bienen. Die starken Dielen könnten gleich trügerischem Flugsand nachgeben und ihn verschlingen. Wie, wenn plötzlich das Haus einstürzte und ihn samt dem Leichnam einschlösse? Oder wenn im Nachbarhaus Feuer ausbräche und ringsum die Feuerwehr auf ihn eindränge? Das waren die Dinge, die er fürchtete, die Dinge, die man gewissermaßen als Hand Gottes bezeichnen könnte, die Er der Sünde entgegenstreckt. Vor Gott selbst fürchtete er sich nicht; gewiß, seine Tat war eine Ausnahmetat; aber ungewöhnlich waren auch seine Entschuldigungsgründe, die Gott allein kannte. Bei ihm, nicht bei den Menschen, war er der Gerechtigkeit sicher.

Nachdem Markheim unbehelligt das Wohnzimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, fühlte er seine Furcht weichen. Die Einrichtung bildete einen Wirrwarr; der Teppich fehlte, ein paar Packkisten und Möbelstücke standen in wüstem Durcheinander umher; dazwischen mehrere hohe Spiegel, in denen er sich von allen Seiten erblickte, gleich einem Schauspieler in seltsamen Posen; zahlreiche Gemälde, gerahmte und ungerahmte, mit der Vorderseite gegen die Wand gelehnt, eine kostbare Sheraton-Anrichte, ein eingelegter Sekretär und ein mächtiges altes Bett mit schweren Vorhängen ergänzten das Bild. Die Fenster blickten auf den Hof; zum Glück verbargen ihn die geschlossenen Läden vor den Nachbarn. Markheim rückte eine der Kisten vor den Sekretär und begann nacheinander die Schlüssel zu probieren. Es war ein langwieriges, anstrengendes Geschäft; vielleicht war der Sekretär gar ausgeräumt. Und die Zeit drängte.

Die angespannte Arbeit ernüchterte ihn. Er schielte von Zeit zu Zeit nach der Tür – mitunter blickte er sie an wie ein belagerter Kommandant, um befriedigt festzustellen, daß sich seine Verteidigungseinrichtungen in gutem Zustande befanden. In Wahrheit war er jetzt völlig gefaßt. Das Plätschern des Regens auf der Straße klang wieder natürlich und angenehm in seinen Ohren. Nach einer Weile drangen aus der entgegengesetzten Richtung die Töne eines Klaviers zu ihm herüber, die sich der Melodie eines Chorals anschmiegten, und zahlreiche Kinderstimmen nahmen die Weise und die Worte auf. Wie majestätisch und trostreich klang die Melodie, wie frisch waren die jugendlichen Stimmen!

Markheim lauschte lächelnd, während er die Schlüssel ordnete; in seinem Geiste drängten sich Bilder und Gedanken: Kinder auf dem Wege zur Kirche und Orgelgebraus, Kinder auf der Wiese, Badende am Bachesrand, kleine Beerenleser im Gemeindewäldchen, jugendliche Drachenspieler unter einem windigen, wolkenzerrissenen Himmel; bei der nächsten Kadenz war er wieder in die Kirche zurückversetzt, in die schläfrige Hitze eines Sommersonntags, hörte die hohe, klangvolle Stimme des Geistlichen (die ihm in der Erinnerung noch ein leises Lächeln entlockte) und sah die gemalten Jakobitengrabmäler und die matten Buchstaben der zehn Gebote an der Kanzel.

Und während er so beschäftigt und abwesend zugleich dasaß, riß es ihn plötzlich auf die Füße. Ein Strahl von Eis und ein Strahl von Feuer, eine Woge pochenden Blutes, und er stand angenagelt, jeder Nerv gespannt. Ein langsamer, fester Schritt kam die Treppe herauf, und nach einer Weile legte sich eine Hand auf die Türklinke; das Schloß klirrte, und die Tür öffnete sich.

Furcht hielt Markheim wie mit Eisenklammern. Er wußte nicht, wer sich nahte. War der Tote auferstanden, kamen die Häscher menschlicher Justiz, ihn zu packen, war ein zufälliger Zeuge blind ins Haus hereingestolpert, um ihn dem Galgen zu überliefern? Als sich jedoch ein Gesicht durch die Öffnung schob, im Zimmer umherblickte, ihm in freundschaftlichem Erkennen zunickte und lächelte und sich dann wieder zurückzog, löste sich seine Furcht in einem heiseren Schrei des Entsetzens. Bei diesem Laut kehrte der Besucher um.

»Haben Sie mich gerufen?« fragte er freundlich, und mit diesen Worten trat er, die Tür hinter sich schließend, ins Zimmer.

Markheim stand und starrte ihn krampfhaft an. Vielleicht lag ein Schleier über seinen Augen. Es war ihm, als ob sich die Konturen des Ankömmlings wandelten und verschwammen, wie die der Götzen bei dem unruhigen Kerzenlicht im Laden. Mitunter kam er ihm bekannt vor; dann wieder schien er ihm selbst zu gleichen; und dabei lastete unablässig, gleich einem schweren Stein und voll lebendigsten Entsetzens, die Überzeugung auf seiner Brust, daß jenes Wesen dort nicht von der Erde und auch nicht vom Himmel sei. Der Dichter arbeitet hier mit einer Bewußtseinsspaltung, wie sie in der englischen Literatur eine Zeitlang beliebt war. Der Besucher verkörpert ein Teil des Ichs von Markheim selbst. Dieser führt gewissermaßen mit sich ein Gespräch, dessen Ergebnis eine Selbstreinigung ist.

Und dennoch – das Geschöpf sah seltsam alltäglich aus, wie es so dastand und Markheim lächelnd ansah; und als es gar hinzufügte: »Sie suchen, wie ich annehme, das Geld?«, klangen diese Worte im üblichen Ton eines höflichen Mannes.

Markheim antwortete nicht.

»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen«, fuhr der andere fort, »daß das Dienstmädchen sich heute früher als gewöhnlich von seinem Schatz getrennt hat und bald hier sein wird. Sollte Herr Markheim hier im Hause gefunden werden, so brauche ich Sie wohl nicht erst auf die Folgen hinzuweisen.«

»Sie kennen mich?« rief der Mörder.

Der Besucher lächelte. »Seit langem gehören Sie zu meinen ganz besonderen Freunden«, entgegnete er, »und schon lange habe ich Sie beobachtet und Ihnen helfen wollen.«

»Wer sind Sie?« rief Markheim. »Der Teufel?«

»Wer ich bin«, erwiderte der andere, »hat nichts mit dem Dienst zu tun, den ich Ihnen leisten möchte.«

»Nein«, rief Markheim, »nein! Mir von Ihnen helfen lassen? Niemals; von Ihnen nicht. Noch keimen Sie mich nicht; dem Himmel sei Dank, noch nicht.«

»Ich kenne Sie«, entgegnete der Gast in freundlichstrengem, aber festem Ton. »Ich kenne Sie bis auf den Grund Ihrer Seele.«

»Mich kennen!« rief Markheim. »Wer kennt mich? Mein Leben ist nichts als eine Verleumdung meiner selbst. Ich habe gelebt, um meine Natur Lügen zu strafen. Alle Menschen tun das; alle Menschen sind besser als die Maske, die sie tragen, die sich ihnen anschmiegt und sie erstickt. Sehen Sie nicht, wie das Leben sie packt und mit sich reißt, wie Räuber einen Menschen in einen Mantel hüllen und mit sich schleppen? Könnten diese Leute nur, wie sie wollten – wenn sie ihre Gesichter sähen, sie erschienen ganz anders; sie würden als Heroen und Heilige erglänzen. Ich bin schlimmer als die meisten, trage eine ärgere Verkleidung; meine Entschuldigung kennen nur Gott und ich allein. Hätte ich Zeit, ich würde mich Ihnen enthüllen.«

»Mir enthüllen?«

»Ihnen vor allem«, entgegnete der Mörder. »Ich hielt Sie für gescheit. Ich glaubte – da Sie wirklich existieren –, Sie verstünden in den Herzen zu lesen. Und doch wollen Sie mich nach meinen Taten beurteilen! Überlegen Sie, was das heißt: nach meinen Taten! Ich bin unter Riesen zur Welt gekommen, habe unter Riesen gelebt; Riesen haben mich, von dem Tage meiner Geburt an, bei der Hand genommen und fortgeschleppt – die Riesen des Zufalls, der Umgebung. Und Sie wollen mich nach meinen Taten beurteilen? Vermögen Sie nicht in mein Inneres zu blicken? Können Sie nicht begreifen, daß ich das Böse hasse? Erkennen Sie nicht in meinem Innern die klare Schrift des Gewissens, die keine willkürlichen Sophismen auszulöschen vermochten, obgleich ich sie gar zu oft unbeachtet ließ? Erkennen Sie in mir nicht jenes Wesen, das so weit verbreitet ist wie die Menschheit selbst – einen Sünder wider Willen?«

»Alles, was Sie sagen, klingt sehr schön«, lautete die Antwort, »geht mich aber nichts an. Fragen der Charakterstärke schlagen nicht in mein Fach, und es ist mir ganz gleichgültig, durch welchen Zwang Sie sich haben mitreißen lassen, vorausgesetzt, daß es in der richtigen Richtung geschah. Aber die Zeit fliegt; das Dienstmädchen hat es zwar nicht eilig; sie sieht sich die Volksmenge an und die Bilder an den Anschlagsäulen; ihr Kommen rückt jedoch immer näher, und vergessen Sie nicht, es bedeutet das gleiche, als käme der langbeinige Galgen selbst durch die festlichen Straßen auf Sie zugeschritten! Soll ich Ihnen helfen, ich, der ich alles weiß? Soll ich Ihnen sagen, wo das Geld zu finden ist?«

»Um welchen Preis?« fragte Markheim.

»Ich erweise Ihnen diesen Dienst als Weihnachtsgabe«, versetzte der andere.

Markheim mußte unwillkürlich in bitterem Triumph lächeln. »Nein«, sagte er, »ich begehre nichts aus Ihren Händen; und wenn ich vor Durst stürbe und Ihre Hand hielte den Wasserkrug an meine Lippen, ich würde Kraft genug besitzen, ihn zurückzuweisen. Ich will nichts tun, um mich dem Bösen zu verschreiben.«

»Oh, bitte, ich habe nichts gegen eine Reue auf dem Totenbett«, bemerkte der Besucher.

»Weil Sie an ihre Wirksamkeit nicht glauben«, rief Markheim.

»Das möchte ich nicht sagen«, erwiderte der andere; »aber ich betrachte diese Dinge von einer anderen Warte, und mit dem Leben erlischt auch mein Interesse. Der Mensch lebt, um mir zu dienen, um unter der Maske der Religion Bosheit und Übelwollen zu verbreiten, oder um – wie Sie – in einem Dasein voll willfähriger Schwäche gegenüber seinen Trieben Unkraut ins Weizenfeld zu säen. Jetzt, da er sich dem Tor zur Freiheit nähert, vermag er seinen Dienst nur um die eine Tat noch zu bereichern – er bereut, stirbt lächelnd und erweckt bei den Furchtsameren unter meinen Anhängern Hoffnung und Zuversicht. Ich bin kein harter Herr. Versuchen Sie es mit mir. Nehmen Sie meine Hilfe an. Verfügen Sie weiter im Leben über meine Dienste, wie Sie es bisher getan haben; packen Sie noch nachdrücklicher zu, bedienen Sie sich Ihrer Ellbogen an der Tafel; und wenn sich die Nacht niedersenken und der Vorhang fallen will, wird es Ihnen ein leichtes sein, sich mit Ihrem Gewissen auszusöhnen und mit Gott einen Frieden auf Gegenseitigkeit zu schließen. Dessen kann ich Sie zu Ihrem Trost versichern. Soeben komme ich von solch einem Totenbett; das Zimmer war voll ehrlicher Leidtragender, die alle den letzten Worten des Mannes lauschten, und als ich in jene Augen blickte, die sich jeder mitleidigen Regung gegenüber zu Stahl verhärtet hatten, fand ich sie voll lächelnder Hoffnung.«

»Und halten Sie mich wirklich für ein solches Geschöpf?« fragte Markheim. »Glauben Sie wirklich, ich kennte kein höheres Ziel als zu sündigen und wieder und wieder zu sündigen, um mich zuletzt durch eine Hintertür in den Himmel zu schleichen? Mein Herz bäumt sich auf bei diesem Gedanken. Sind das Ihre Erfahrungen mit der Menschheit oder setzen Sie eine solche Schlechtigkeit nur bei mir voraus, weil meine Hände rot von Blut sind? Ist dies Verbrechen des Mordes wirklich so ruchlos, daß es die Quelle des Guten selbst versiegen ließe?« –

»Mord ist für mich kein gesonderter Begriff«, versetzte der andere. »Alle Sünden sind Morde, so wie das ganze Leben Krieg ist. Ich sehe Ihresgleichen, wie hungernde Seeleute auf einem Floß, die Brotkrusten dem Hunger selbst aus den Händen reißen und einander gegenseitig verschlingen. Ich gehe der Sünde nach bis über den Augenblick ihrer Entstehung und habe erkannt, daß ihre Folge überall der Tod ist. In meinen Augen trieft das hübsche Mädchen, das am Vorabend eines Balles mit gewinnendem Liebreiz die Mutter hintergeht, nicht weniger von Menschenblut als der eigentliche Mörder. Sagte ich, daß ich der Sünde nachgehe? Ich gehe auch der Tugend nach; sie unterscheiden sich voneinander nicht um Haaresbreite. Beide sind Sicheln in der Hand des Mähers Tod. Das Böse, für das ich lebe, wurzelt nicht im Handeln, sondern im Charakter. Ich liebe den schlechten Menschen, nicht die schlechte Tat, deren Früchte, könnten wir sie nur weit genug bei ihrem Sturz den sausenden Katarakt der Zeit hinab verfolgen, sich vielleicht segensreicher erweisen als die köstlichste Frucht der Tugend. Nicht weil Sie einen Händler getötet haben, sondern weil Sie Markheim sind, erbiete ich mich, Ihnen zur Flucht zu verhelfen.«

»Ich will Ihnen mein ganzes Herz enthüllen«, entgegnete Markheim. »Das Verbrechen, bei dem Sie mich ertappt haben, war mein letztes. Auf dem Wege zu ihm habe ich viel gelernt; ja, die Tat selbst ist mir zur denkwürdigen Lehre geworden. Bisher bin ich wider meinen Willen zu dem getrieben worden, was mir fern lag; ich war der gehetzte, gepeitschte Sklave der Armut. Es gibt robuste Tugenden, die diesen Versuchungen zu widerstehen vermögen; die meine war nicht von dieser Art: mich dürstete nach Genuß. Heute aber, dank dieser Tat, ernte ich sowohl gute Lehren wie Reichtümer, den erneuten Entschluß und die Kraft, wieder ich selbst zu sein. Ich bin in Zukunft in allen Dingen Herr meiner Handlungen; ich sehe mich bereits als einen ganz anderen: diese Hände werden künftig Werkzeuge des Guten sein; Frieden wohnt in diesem Herzen. Etwas aus der Vergangenheit überkommt mich, etwas, von dem mir an Sabbatabenden träumte, wenn die Orgel erklang; Ahnungen, die ich hatte, wenn ich über großen, reinen Büchern weinen mußte oder als unschuldiges Kind mit meiner Mutter sprach. Dort liegt mein Leben; ich bin einige Jahre in der Fremde umhergeirrt; jetzt aber sehe ich den Ort meiner Bestimmung wieder vor mir liegen.«

»Sie wollen dieses Geld, glaube ich, auf der Börse gebrauchen?« bemerkte der Gast. »Dort haben Sie aber, soviel ich weiß, schon einige Tausende verloren?«

»Ah«, sagte Markheim, »diesmal ist es eine ganz sichere Sache.«

»Auch dieses Mal«, sagte der Gast sehr bestimmt, »werden Sie verlieren.«

»Ich setze doch nur die Hälfte aufs Spiel«, rief Markheim.

»Sie werden auch die andere Hälfte verlieren«, widersprach der andere.

Auf Markheims Stirn brach der Schweiß aus. »Gesetzt, dem wäre so«, rief er, »angenommen, ich verliere alles, angenommen, ich stürze zurück in Armut und Elend, soll deswegen ein Teil meines Wesens, und zwar der schlimmere Teil, bis zuletzt das Gute in mir verdrängen? Gut und Böse in mir sind gleich mächtig und zerren mich nach verschiedenen Seiten. Ich liebe nicht nur das eine, ich liebe alles. Ich kann von großen Taten träumen, von Verzicht und Märtyrertum, und obwohl ich mich zu diesem Verbrechen erniedrigt habe, ist mir doch Mitleid nicht fremd. Ich bemitleide die Armen; wer kennt ihre Nöte besser als ich? Ich bemitleide sie und helfe ihnen; ich schätze die Liebe, ich liebe ein ehrliches Lachen; es ist nichts Gutes und Wahres unter der Sonne, das ich nicht von ganzem Herzen liebte. Sollten wirklich meine Laster allein mein Leben bestimmen und meine Tugenden brachliegen wie toter Ballast des Geistes? Niemals! Auch das Gute ist eine Quelle der Tat.«

Allein der Gast hob warnend den Finger. »Sechsunddreißig Jahre lang haben Sie in dieser Welt gelebt«, sagte er; »durch wechselvolle Schicksale und Launen habe ich Sie ununterbrochen von Stufe zu Stufe sinken sehen. Fünfzehn Jahre sind es her, daß Sie mit einem Diebstahl begannen. Noch vor drei Jahren hätte das Wort Mord genügt, um Ihnen das Blut aus den Wangen zu treiben. Gibt es wirklich noch ein Verbrechen, eine Grausamkeit, eine gemeine Handlung, vor der Sie heute zurückschräken? In fünf Jahren werde ich Sie auch dabei ertappen. Tiefer, immer tiefer führt Ihr Weg; und nichts, außer dem Tode, vermag Sie aufzuhalten.«

»Wahr«, knirschte Markheim heiser, »ich habe bis zu einem gewissen Grade dem Bösen nachgegeben. Aber so geht es allen; selbst Heilige werden durch die bloße Tatsache des Lebens weniger wählerisch und passen sich der Farbe ihrer Umgebung an.«

»Ich will eine einzige schlichte Frage an Sie richten«, sagte der andere, »und je nach Ihrer Antwort werde ich Ihnen Ihr moralisches Horoskop stellen. Sie sind in vielen Dingen lässiger geworden; vielleicht mit Recht. Wenigstens geht das allen Menschen so. Aber das zugegeben – sind Sie in irgendeinem wenn auch noch so geringfügigen Punkt sich selbst gegenüber strenger geworden, oder lassen Sie all Ihren Trieben die Zügel schießen?«

»In irgendeinem Punkt?« wiederholte Markheim in qualvoller Überlegung. »Nein«, fügte er verzweifelt hinzu, »nirgends! Überall ist es bergab mit mir gegangen.«

»Dann«, sagte der Besucher, »dann begnügen Sie sich mit dem, was Sie sind; Sie werden sich niemals ändern; die Worte Ihrer Rolle auf dieser Bühne sind unwiderruflich niedergeschrieben.«

Markheim stand lange schweigend; der Besucher unterbrach als erster die Stille. »Soll ich Ihnen, da dem so ist, das Geld zeigen?« fragte er.

»Und die Gnade?« rief Markheim.

»Haben Sie es mit der nicht auch schon versucht?« entgegnete der andere. »Sah ich Sie nicht vor zwei, drei Jahren bei religiösen Versammlungen? Hat nicht Ihre Stimme im Choral am lautesten geklungen?«

»Es ist wahr«, stöhnte Markheim, »ich sehe klar, wohin mich die Pflicht jetzt führt. Ich danke Ihnen aus tiefster Seele für die Lehren, die Sie mir gegeben haben. Sie haben mir die Augen geöffnet, und endlich erkenne ich mich als den, der ich bin.«

In diesem Augenblick tönte der grelle Klang einer Türglocke durchs Haus, und der Besucher änderte, wie auf ein verabredetes und erwartetes Zeichen, sein Benehmen. »Das Dienstmädchen!'' rief er. »Es ist zurückgekommen, wie ich es Ihnen voraussagte; jetzt gilt es, nur noch eine einzige schwierige Aufgabe zu erfüllen. Sie müssen sagen, daß sein Herr erkrankt sei; Sie müssen es hereinlassen mit zuversichtlicher, ernster Miene. Nur ja kein Lächeln, keine Übertreibung, und ich bürge für den Erfolg! Sobald das Mädchen eingetreten und die Tür verschlossen ist, wird der gleiche behende Griff, mit dem Sie sich des Händlers entledigten, auch diese letzte Gefahr aus dem Wege räumen. Dann bleibt Ihnen der ganze Abend, ja die ganze Nacht, wenn Sie wollen, um die Schätze dieses Hauses zu plündern und für Ihre Sicherheit zu sorgen. Es ist Hilfe, die sich Ihnen in der Maske der Gefahr nähert. Auf!« rief er, »auf, mein Freund! Ihr Leben hängt nur noch an einem Faden rauf zur Tat!«

Markheim blickte seinem Ratgeber fest ins Gesicht. »Bin ich auch verdammt, Böses zu tun«, sagte er, »so bleibt mir doch eine Tür zur Freiheit offen – ich kann mich jederzeit der Kraft des Handelns begeben. Ist auch mein Leben ein Übel, so kann ich es doch niederlegen. Erliege ich auch, wie Sie sagen, der geringsten Versuchung, so kann ich doch in ein Bereich jenseits aller Versuchungen fliehen. Meine Liebe zum Guten ist zur Unfruchtbarkeit verdammt; wohlan, es sei! Mir bleibt ja noch der Haß gegen das Böse, und aus ihm kann ich, das werden Sie zu Ihrer bitteren Enttäuschung erfahren, Kraft und Mut schöpfen.«

Über die Züge des Besuchers ging eine wunderbare, lichte Verwandlung; sie verklärten sich und zerschmolzen in zärtlichem Triumph, und in diesem Glanz verblaßten und schwanden sie allmählich dahin. Markheim wartete nicht, um diese Verwandlung zu beobachten und zu verstehen. Er öffnete die Tür und schritt langsam und in Gedanken versunken die Treppe hinab. Ernst und gemessen folgte ihm seine Vergangenheit. Er sah sie, wie sie wirklich war, häßlich und quälend wie ein Traum, willkürlich und ungesetzlich wie ein Straßenkampf – eine einzige Niederlage. Das Leben, so wie er es jetzt überblickte, lockte ihn nicht mehr; am jenseitigen Ufer jedoch gewahrte er für sein Lebensschiff einen stillen Ankerplatz. Im Gang blieb er stehen und schaute in den Laden hinein, wo immer noch über der Leiche die Kerze flackerte. Es war seltsam still. Gedanken über den Toten drangen, während er vor sich hinstarrte, auf ihn ein. Und dann zerriß der ungeduldige Lärm der Glocke abermals das Schweigen.

Er trat dem Mädchen auf der Schwelle mit einer Art Lächeln entgegen.

»Sie täten gut, zur Polizei zu gehen«, sagte er, »ich habe Ihren Herrn ermordet.«


[Aus Urheberrechtsgründen gelöscht:]

» Eine Stunde vor der Tat« von Ottokar Eck
Erstveröffentlichung

» Die Hamburger Reise« von Rudolf Hirsch
Erstveröffentlichung

» Auf Tod und Leben« von Günther Weisenborn
Aus: »Der Rote Greif«, herausgegeben von Karl Dietz,
Greifenverlag 1947.

» Der Lippenstift« von Günter Prodöhl
Aus: »Das Magazin«, Berlin, Novemberheft 1955.



 << zurück weiter >>