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Der Gefangene im Kaukasus
Eines Morgens erhielt Tschilin, ein Offizier im Kaukasus, einen Brief aus der Heimat von seiner alten Mutter. Er lautete:
»Mein geliebter Sohn, ich fühle, daß mein Ende nahe ist, und es ist mein sehnlichster Wunsch, Dich vor meinem Tode noch einmal zu sehen. Komm eilends, um mir Lebewohl zu sagen; danach magst Du mit Gottes Segen wieder zu Deiner Pflicht zurückkehren. Ich wüßte auch eine Braut für Dich, ein verständiges und braves Mädchen mit einem Landgut. Wenn Du sie heiratest, kannst Du hier bleiben.«
Dieser Brief gab Tschilin zu denken. Da die Mutter das schrieb, mußte sie doch wohl schon sehr krank sein, und er mußte sich beeilen, wenn er sie überhaupt noch am Leben finden wollte.
»Ich will mich aufmachen«, sprach er zu sich selbst, »und wenn mir das Mädchen gefällt, so kann ich es ja auch heiraten.«
Also bat Tschilin seinen Vorgesetzten um Urlaub, sagte seinen Kameraden Lebewohl, spendete den Soldaten vier Wedro Branntwein und packte seinen Koffer.
Da man gerade Krieg im Kaukasus führte, waren Weg und Steg höchst unsicher und das Reisen gefährlich. Unablässig wurden Räubereien verübt; jeder Russe, der seine Festung unvorsichtigerweise verließ, fiel in die Hände der Tataren, die ihn entweder töteten oder in die Berge schleppten und quälten. Es war daher angeordnet, daß die Reisenden zweimal wöchentlich unter starker Bedeckung von einer Festung zur anderen gebracht wurden; vorn und hinten gingen Soldaten, zwischen ihnen, wohl beschützt, die Reisenden mit ihrer Habe.
An einem Sommermorgen hatte sich zu zeitiger Stunde abermals ein Häuflein Wagen unter den schützenden Festungsmauern versammelt. Nachdem die Soldaten dazu gekommen waren, setzte sich der Zug, in dessen Reihen sich Tschilin auf seinem Pferde und sein gepäckbeladener Wagen befanden, in Bewegung.
Freilich ging es nur sehr langsam vorwärts, denn unablässig stellten sich Hindernisse ein. Entweder brach ein Wagenrad, oder ein Pferd versagte den Gehorsam, oder die Soldaten hielten inne. Jedesmal mußte dann der ganze Zug halten.
Schon hatte die Sonne den Höhepunkt am Himmel überschritten, und kaum war die Hälfte der fünfundzwanzig Werst zurückgelegt. Welche Qual, diese Reise durch die öde Steppe voll Staub und brennender Sonnenglut, wo kein schattenspendender Baum, kein Strauch die nackte Ebene unterbricht!
Der ungeduldige Tschilin war ein Stückchen vorausgeritten und wendete sein Pferd, um den Zug wieder herankommen zu lassen, da ertönte schon wieder ein Hornsignal, das Zeichen zum Stillstand.
Es wäre doch viel besser, wenn ich allein reiten könnte, ohne den langweiligen Zug, dachte er. Wenn ich in die Hände der Tataren gerate, so wird mich mein schnelles Pferd schon der Gefahr entreißen!
Während er so noch das Für und Wider erwog, galoppierte ein anderer Offizier heran und sprach:
»Ach, Tschilin, lassen Sie uns beide zusammen allein weiterreisen! Mich quält der Hunger, und diese Sonnenglut ist nicht länger zu ertragen. An meinem Hemde ist kein trockener Faden mehr.«
Das Aussehen Kostylins – das war der Name des Offiziers – strafte seine Worte nicht Lügen, denn er war krebsrot im Gesicht, und der Schweiß lief in dicken Tropfen von seiner Stirn.
Nach kurzem Besinnen erwiderte Tschilin:
»Ist Ihre Flinte da geladen?«
»Gewiß.«
»So reiten wir, jedoch nur unter der Bedingung, daß wir uns nicht voneinander trennen!«
Sie verfolgten also ihren Weg allein, vergaßen aber trotz ihrer eifrigen Unterhaltung nicht, in der Steppe, die sich da vor ihnen meilenweit ausdehnte, nach Feinden auszuspähen.
Schließlich erreichten sie ihr Ende, und nun führte ihr Weg über einen zwischen zwei Bergen liegenden Paß.
»Es wäre wohl gut, wenn einer von uns erst auf dem Berge Umschau hielte; sonst werden wir schließlich von oben angefallen!« mahnte Tschilin.
Kostylin dagegen schien weniger bedenklich.
»Ach, was sollen wir erst Umschau halten! Kommen Sie nur vorwärts.«
»Nein«, erwiderte der andere, »ich werde doch erst hinaufreiten, Sie mögen immerhin unten bleiben.«
Damit lenkte er sein Pferd links ab, den Berg hinauf. Das gute Tier – er hatte es als Füllen für hundert Rubel gekauft und sich selbst zugeritten – trug ihn rasch den steilen Abhang hinauf. Jetzt ist er oben, aber siehe da, wenige Schritte vor ihm hält ein Trupp Tataren auf ihren Pferden; es mochten wohl dreißig Mann sein.
Das sehen und kehrtmachen war eins. Aber schon hatten ihn die Feinde bemerkt und galoppierten, während sie ihre Flinten bereitmachten, ihm nach.
»Mein Brüderchen, eile auf Windesflügeln und strauchle mir nicht; denn fällst du, so ist's auch mein Tod!« so feuerte Tschilin schmeichelnd sein Pferd an und schrie, sobald er in Hörweite war, Kostylin mit lauter Stimme zu:
»Die Flinte heraus! Es naht der Feind!«
Kaum bemerkte der Angerufene die drohende Gefahr, so warf er sein Pferd herum und jagte, den Kameraden treulos verlassend, davon. An der Staubwolke, die bald ihn und sein Tier einhüllte, sah man, wie eifrig er die Sporen gebrauchte.
Da erkannte Tschilin, in welch großer Gefahr er war. Was konnte er, ohne Flinte, mit dem Säbel allem tun? Nur in der Flucht lag seine Rettung. Darum wandte auch er sein Pferd. Kaum war er ein paar Schritte vorwärts gesprengt, so hatten ihm schon sechs Tataren den Weg abgeschnitten.
Grinsend und mit gespanntem Hahn näherte sich ihm einer der Feinde, ein rotbärtiger Tatar auf einem Grauschimmel.
»Euch Halunken kennt man«, dachte Tschilin, »erwischt ihr einen lebend, so steckt ihr ihn in eine Grube und mißhandelt ihn! Das Vergnügen will ich euch nicht machen.«
Obgleich nur von Mittelgröße, war Tschilin doch sehr kräftig und mutig. Ohne Zaudern ließ er daher sein Pferd gerade auf den Rotbart zugehen und sprach zu sich, indem er seinen Säbel schwang:
»Wenn ihn jetzt mein Pferd nicht zerstampft, so mache ich ihm doch mit dem Säbel den Garaus!«
Es sollte aber anders kommen. Nur eine kurze Entfernung trennte Tschilin noch von seinem Widersacher, da peitschten plötzlich Schüsse von hinten, und das Pferd stürzte zu Boden, noch ehe der Reiter den Fuß aus dem Steigbügel ziehen konnte. Noch bemühte er sich, das Bein unter dem Tier hervorzuziehen, als ihn schon zwei Tataren faßten und ihm die Hände auf dem Rücken zusammenbanden. Noch einmal riß er sich mit Gewalt los und drängte die Feinde zurück, da verließen noch drei ihre Pferde, stürzten sich auf ihn und hatten bald mit ihren Flintenkolben seinen Widerstand besiegt. Es ward ihm schwarz vor den Augen, und wankend fiel er in die Gewalt der Tataren, die ihm nun die Hände auf dem Rücken festbanden.
Der gänzlich Wehrlose wurde geplündert und der Mütze, seiner Stiefel, des Geldes, der Uhr und sogar seiner Uniform beraubt. Mühsam blickte er zurück und sah sein treues Tier noch auf derselben Stelle liegen. Wild schlug es mit den Füßen um sich; aus den klaffenden Wunden an Kopf und Brust strömte pfeifend das dunkle Blut und färbte den Sand rot. Da näherte sich einer der Unholde dem verendenden Tiere und durchschnitt ihm mit einem einzigen Streich die Kehle. Ein Gurgeln, ein Zucken, ein letztes wildes Umherschlagen!
Nachdem Sattel und Geschirr von dem Kadaver entfernt worden waren, bestieg der Rote wieder sein Pferd und ließ Tschilin hinter sich auf den Sattel heben. Mit einem Riemen wurde der Offizier mit seinem Vordermann zusammengebunden, damit er einen festen Halt hätte, und vorwärts trabte der Zug in die Berge.
So saß nun der Gefangene mit wundgeschlagenem Haupte und zerschundenen Gliedern schwankend hinter dem Tataren; dicht vor sich hatte er den breiten Rücken, den Stiernacken und den glattgeschorenen glänzenden Hinterkopf seines Feindes. Seine Arme waren beim Zusammenbinden so fest nach hinten gezogen worden, daß er einen heftigen Schmerz in den Schultern empfand und nur ganz unbeweglich, ohne sich rühren zu können, auf dem Pferde saß. Keine mitleidige Hand wischte ihm das herabrieselnde zum Teil schon festgebackene Blut ab.
Zuerst ritt der Zug querfeldein über Berg und Tal und gelangte dann, nachdem ein Fluß durchquert worden war, auf einen Weg, der durch eine Bodensenkung lief.
Nur zu gern hätte Tschilin auf diesen Weg geachtet, um ihn später wiederfinden zu können, doch vermochten seine mit Blut verklebten Augen nur wenig zu unterscheiden; auch konnte er sich nicht einmal zur Seite wenden.
In der Abenddämmerung gelangte der Zug endlich an einen breiten Felsen, wo man Hunde bellen hörte und Rauch aufsteigen sah. Das war der Aul – das Tatarendorf.
Es begann ein ungeheurer Lärm. Im Nu hatten sich Kinder, besonders Jungen, eingestellt, die da schrien und jauchzten, sich an Tschilin herandrängten und mit Steinen und Erde nach ihm warfen. Diesem tollen Spiel machte schließlich der Rotbart ein Ende, indem er den Offizier vom Pferde hob und einen lauten Befehl gab.
Da eilte ein Nogaier herzu, in dessen hagerem Gesicht die Backenknochen weit hervortraten und der nichts als ein zerfetztes Hemd auf dem Leibe hatte. Auf den wiederholten Befehl des Rotbarts trug er zwei Eichenblöcke, an denen Eisenringe befestigt waren, herzu, deren einer eine Krampe und ein Schloß trug.
Nachdem Tschilins Fesseln gelöst worden waren, stellte man den Bedauernswerten in diesen Fußblock, führte ihn bis an einen Schuppen, in den er hineingestoßen und dessen Tür verschlossen wurde. Taumelnd stürzte er auf einen Düngerhaufen.
Etwas erholt, kroch er in der tiefen Finsternis umher, bis er einen besseren Platz gefunden hatte, auf dem er sich dann zur Ruhe niederließ.
Die kurze Sommernacht, die Tschilin nur wenig Schlaf brachte, wich bald der Morgendämmerung, deren Schein der Gefangene durch eine Ritze im Holz bemerkte. Nach unendlicher Anstrengung gelangte er bis zum Spalt, den er zu erweitern versuchte.
Endlich konnte er ein wenig hindurchblicken. Er übersah gerade den Weg, der vom Felsen ins Tal hinabführte.
An der rechten Seite stand eine von zwei Bäumen beschattete Hütte, auf deren Schwelle ein schwarzer Hund lag. Auf dem Wege schritt eine junge Tatarin bergauf, die in ihrem bunten Hemd, in Hosen und Stiefeln, mit dem Turban auf dem Kopf, ganz malerisch aussah. Ihre Hand führte einen kleinen, glattgeschorenen, nur mit einem Hemd bekleideten Tatarenbuben, und sie ging gebückt, da der große blecherne Wasserkrug, den sie auf dem Kopfe trug, sie am Aufrechtgehen hinderte.
Gerade, als sie die Schwelle der Hütte überschritt, trat der Rote heraus; er trug einen seidenen Halbrock, Schuhe an den nackten Füßen, auf dem Kopfe eine hohe, schwarze Mütze aus Lammfell und dazu einen silbernen Dolch im Gürtel.
Nachdem er sich gestreckt, seinen Bart gestrichen und einem Arbeiter einen Befehl gegeben hatte, ging er weiter und war bald Tschilins Augen entschwunden.
Dann erschienen zwei junge Burschen mit Pferden, die sie wohl nach der Tränke führen sollten, und endlich wurden draußen mehrere Jungen, nur mit dem Hemd bekleidet, sichtbar. Nachdem sie beraten hatten, kamen sie an den Schuppen heran und steckten dürre Äste durch den Spalt. Als Tschilin sie anschrie, nahmen sie eilends Reißaus; ihre nackten, glänzenden Knie waren das letzte, was er sah.
Tschilin empfand heftigen Durst; sein Hals war ausgetrocknet. Wenn doch endlich jemand käme! Da öffnete sich wirklich seine Tür. Der rote Tatar erschien in Begleitung eines anderen Tataren, der kleiner war und schwarzes Haar hatte. Seine dunklen Augen blitzten; die vollen, roten Backen umgab ein dünner, kurzgehaltener Bart.
Er sah sehr vergnügt aus und verzog beständig das Gesicht zum Lachen. Seine Kleidung war noch feiner als die des Rotbarts; der blauseidene Rock war mit silbernen Tressen besetzt; die roten Pantoffeln aus Saffian trugen Silberverzierung. Aus dem Gürtel ragte der silberne Griff eines Dolches hervor. Die zierlichen Pantöffelchen waren mit plumpen Schuhen umhüllt. Den Kopf schmückte eine Mütze aus weißem Lammfell.
Während der Rotbart grimmigen Gesichts an der Tür stehen blieb und, mit seinem Dolch spielend, tückische Blicke auf Tschilin schoß, ging der Schwarze schnell, vergnügt und fast hüpfenden Schrittes auf den Gefangenen zu, kauerte sich neben ihm nieder, schlug ihn mit der Hand auf die Schulter, kniff die Augen zu und redete unter beständigem Lachen allerlei unverständliches Zeug. »Mich dürstet! Gebt mir Wasser zu trinken!« flehte Tschilin.
Der Schwarze blickte verständnislos auf und plauderte dann lustig weiter. Erst nachdem der Offizier seine Bitte mit lebhaften Gesten unterstützt hatte, schien der Schwarze zu verstehen. Er lachte, erhob sich und rief mit lauter Stimme: »Dina!«
Sofort erschien ein hübsches, schlankes Mädchen von ungefähr dreizehn Jahren, deren Gesichtsschnitt samt den blitzenden, schwarzen Augen ohne weiteres die Tochter des Schwarzen erkennen ließen. Sie trug ein langes, dunkelblaues Hemd ohne Gürtel, das an Brust und Ärmeln mit roten Säumchen verziert war. Hosen und Pantoffeln, die ebenfalls in Schuhen mit hohen Hacken steckten, vervollständigten ihre Kleidung. Als Schmuck trug sie eine Kette aus silbernen Halbrubeln; ferner schmückte ein mit Metallplättchen und einem Silberrubel besetztes Band ihr dunkles Haar.
Auf einige Worte ihres Vaters eilte sie davon, um dann mit einem Wasserkrug zurückzukehren, den sie dem Gefangenen reichte. Neugierig hockte sie sich dann nieder und schaute ihm beim Trinken zu, als wäre er ein seltenes Tier.
Als aber Tschilin die Hand ausstreckte, um ihr den Krug zurückzugeben, entfloh sie hastig wie eine scheue Gazelle. Laut lachend rief ihr Vater ihr etwas nach, worauf sie umkehrte, den Krug nahm, davonlief und schnell mit einem Brettchen zurückkehrte, auf dem etwas ungesäuertes Brot lag.
Wieder schaute sie unverwandt dem Gefangenen zu, bis die beiden Männer mit ihr den Schuppen verließen und die Tür verschlossen.
Nach kurzer Zeit wurde sie jedoch wieder geöffnet, und der Nogaier erschien. Aus einem Zeichen entnahm Tschilin, daß er mit ihm gehen solle. Mühsam humpelnd, hinkend mit dem im Blocke seitwärts gebogenen Füßen, folgte er dem Boten.
Vor ihm lag der Aul, bestehend aus ungefähr zehn Hütten und der Moschee mit einem Minarett. Vor einer dieser Hütten standen Burschen, die drei gesattelte Pferde hielten.
Eben erschien in der geöffneten Tür der Schwarze und machte Tschilin ein Zeichen, daß er näher kommen solle. Lachend und lebhaft redend ging er wieder in das Haus zurück, gefolgt von dem Gefangenen.
Man betrat ein reich ausgestattetes Zimmer. An den mit Lehm glatt gemachten und mit kostbaren Teppichen behängten Wänden standen buntfarbige Diwane, über denen reich mit Silber geschmückte Waffen aufgehängt waren. An der einen Wand stand ein niedriger Ofen. Der saubere, glatte Lehmboden war in einer Ecke mit dickem Filz belegt, auf dem Teppiche und weiche Kissen ausgebreitet waren.
Hier saßen Tataren, alle in Pantoffeln. Da waren der Schwarze, der Rotbart und noch drei andere. Weiche Federkissen stützten ihre Rücken; runde Holzbrettchen vor ihnen trugen Hirsepfannkuchen, Näpfchen mit zerlassener Butter und Krüge mit Bier. Die würdigen Herren aßen mit den Fingern, und ihre Hände zeigten reichliche Spuren der fettigen Butter.
Der Schwarze befahl dem Nogaier, Tschilin nicht auf die Teppiche, sondern auf den blanken Fußboden setzen zu lassen, und ließ sich dann wieder nieder, um seine Gäste zu Hirsepfannkuchen und Busa zu nötigen.
Nachdem der Nogaier dem Offizier seinen Platz angewiesen hatte, zog er seine Überschuhe aus, stellte sie an die Tür, wo schon eine ganze Reihe solcher Überschuhe standen, und ließ sich dann in angemessener Entfernung von den Herren auf dem Teppich nieder, von wo aus er unverwandt ihrem Schmausen und Trinken zusah und sich von Zeit zu Zeit mit der Hand das aus dem Munde herauslaufende Wasser abwischte.
Sobald das Mahl verzehrt war, erschien die Tatarin, die wie das Mädchen mit Hemd und Hose bekleidet war und ein Tuch um den Kopf gebunden hatte. Sie räumte ab und brachte dann ein schönes Becken mit engem Ausguß, in dem sich die Männer die Hände wuschen. Danach falteten sie sie, richteten sich so weit auf, daß sie auf den Knien lagen, und murmelten Gebete. Eine Zeitlang unterhielten sie sich dann noch in ihrer eigenen Sprache, bis sich endlich einer der drei Fremden an Tschilin wandte und auf russisch sagte: »Kasi Muhamed« – dabei wies er auf den roten Tataren – »hat dich in der Steppe gefangen; er will dich aber Abdul Murad überlassen. Abdul Murad« – eine Handbewegung nach dem Schwarzen – »ist nun dein Herr!«
Als Tschilin nichts erwiderte, begann Abdul Murad in seiner Sprache zu reden, wobei er häufig nach Tschilin hinwies. Der zuerst gesprochen hatte, verdolmetschte: »Abdul Murad befiehlt dir, einen Brief nach Hause zu schreiben, in dem du um Lösegeld bittest; sobald das Lösegeld da ist, bist du frei!«
Nach kurzem Besinnen antwortete Tschilin:
»Wieviel Lösegeld verlangt ihr?«
Die Tataren verhandelten lang und lebhaft; dann sagte der Dolmetscher: »Dreitausend Rubel!«
»Oh«, versetzte der Gefangene, »das werde ich nicht geben!«
Worauf der Schwarze aufsprang und lebhaft auf Tschilin einredete.
»Wieviel gedenkst du ihm anzubieten?« übersetzte der Dolmetscher.
»Fünfhundert Rubel!« lautete nach kurzem Besinnen die Antwort.
Da erhob sich ein lautes Schreien auf der Seite der Tataren. Nur der Rote schwieg. Er kniff die Augen zusammen und schnalzte mit der Zunge.
Als sich der Lärm etwas gelegt hatte, begann der Dolmetscher von neuem:
»Deinem Herrn genügen die fünfhundert Rubel nicht, da er selbst zweihundert Rubel für dich gezahlt hat. Kasi-Muhamed schuldete ihm so viel, und dich nahm er für die Schuld an. Dreitausend Rubel ist das wenigste, wofür er dich freigeben kann. Schreibe danach, wenn du nicht in eine Grube geworfen und mit der Peitsche gezüchtigt werden willst.«
Nur jetzt keine Furcht zeigen, sagte sich der Offizier, sonst bist du verloren. Daher sprach er zu dem Dolmetscher:
»Nicht eine Kopeke wird der Hund haben, wenn er mir mit Drohungen kommt; ich werde dann gar nicht schreiben. Denkt ihr denn, ich fürchte mich vor euch Hunden?«
Auch das wurde übersetzt, worauf die Tataren wieder Rat hielten.
Plötzlich sprang der Schwarze auf, trat an Tschilin heran und rief ihm lachend einige Worte zu, die der Dolmetscher mit »Gib tausend Rubel!« übersetzte.
Doch der Offizier blieb fest.
»Fünfhundert Rubel habe ich gesagt. Tötet ihr mich, so bekommt ihr auch die nicht.«
Nach einer abermaligen Unterredung der Männer wurde der Nogaier hinausgeschickt, und nun richteten sich aller Augen abwechselnd auf Tschilin und auf die Tür. Bald kehrte der Bote zurück, gefolgt von einem wohlbeleibten Menschen in zerrissenen Kleidern, dessen Füße ebenfalls in einem Block steckten.
Tschilin erkannte in dem Neuangekommenen Kostylin, und ein Ruf des Erstaunens entfuhr ihm. Also hatte man auch ihn erwischt!
Die beiden Gefangenen wurden nebeneinander gesetzt und erzählten sich nun ihre Erlebnisse, während die Tataren sie anstarrten. Kostylins Pferd hatte sich geweigert weiterzugehen, und überdies versagte seine Flinte. Daher war er leicht eine Beute Abduls geworden.
Jetzt erhob sich Abdul und sagte, auf Kostylin deutend, einige Worte, die der Dolmetscher den beiden dahin erklärte, daß sie beide demselben Herrn gehörten und daß derjenige die Freiheit zuerst erlangen würde, dessen Geld am ersten eintreffen würde.
»Dein Kamerad«, fuhr er, zu Tschilin gewendet, fort, »ist klüger als du. Er läßt sich fünftausend Rubel von Zuhause schicken; er bekommt tüchtig zu essen und wird gut behandelt.«
»Das kann er halten, wie er will, ist er doch reich. Ich aber habe euch meine Meinung gesagt; im übrigen macht mit mir, was ihr wollt. Fünfhundert Rubel, mehr schreibe ich nicht.«
Nach einer Pause sprang Abdul auf, entnahm einem kleinen Kasten Feder und Papier, reichte beides dem Offizier und gab ihm durch Zeichen zu verstehen, daß er schreiben möge. Also war er mit den fünfhundert Rubeln einverstanden.
»Nicht so eilig!« sagte Tschilin zum Dolmetscher.
»Wir verlangen ordentliche Nahrung und Kleidung; ferner soll man uns beisammen lassen; es wird uns dann weniger einsam sein – und man soll uns auch aus dem Block befreien.«
Dabei warf er einen Blick auf Abdul und lachte. Der erwiderte seine Heiterkeit und sagte:
»Ja, ja, die schönste Kleidung sollt ihr haben: einen Tscherkessenrock und Stiefel – könnt euch zur Hochzeit darin sehen lassen. Zu essen bekommt ihr wie die Fürsten, und zusammenbleiben mögt ihr auch, im Verschlag. Den Block aber müßt ihr, wenigstens am Tage, behalten. Ihr würdet mir sonst entwischen.«
Damit trat er ganz nahe an Tschilin heran, legte die Hand auf dessen Schulter und kauderwelschte:
»Gut sein – schreiben – ich gut!«
Und der Angeredete schrieb, doch unter falscher Adresse, denn er nahm sich vor zu fliehen.
Die beiden Gefangenen wurden in den Schuppen zurückgebracht; sie erhielten Maisstroh, Wasser, Brot, zwei abgenützte Tscherkessenanzüge und alte, vertretene Soldatenstiefel, die von getöteten Soldaten stammten. Abends befreite man sie von den Blöcken und schloß sie im Schuppen ein.
So hatten Tschilin und Kostylin bereits einen ganzen Monat zugebracht. Aber obgleich Abdul immer mit Scherzen bei der Hand war, gab er seinen Gefangenen doch schlechte Kost, die nur in ungesäuertem Hirsemehlbrot oder ungebackenem Teige bestand.
Obwohl Kostylin einen zweiten Brief nach Hause geschrieben hatte, kam kein Geld. Er saß daher tagelang traurig im Schuppen und überlegte, wann der Brief wohl ankommen könne, oder er schlief.
Tschilin dagegen wußte, daß sein Brief überhaupt nicht ankommen konnte; aber er schrieb auch keinen anderen.
Mutter hat kein Geld, mich auszulösen, dachte er bei sich; sie hat ja größtenteils von dem gelebt, was ich ihr schickte. Um fünfhundert Rubel aufzubringen, würde sie sich gänzlich entblößen müssen. Nein, ich muß mir selbst helfen.
Lieder pfeifend, ging er im Dorf umher; er formte Tonfiguren oder verfertigte mit seinen geschickten Händen allerlei Geflechte aus Reisig.
Eines Tages stellte er eine von ihm geformte Puppe im tatarischen Hemd, mit Nase, Händen und Füßen, auf das Dach.
Als Dina, Abduls Tochter, die Figur gewahrte, rief sie eilends ihre Kameradinnen, die ihre Wasserkrüge niedersetzten und lachend auf das Dach blickten. Da trat Tschilin herzu und hielt ihnen die Puppe hin. Die Mädchen lachten von neuem, ohne sie indes zu nehmen.
Nach einiger Zeit entfernten sie sich, und auch Tschilin kehrte, die Puppe zurücklassend, in seinen Verschlag zurück.
Eiligst kam nun Dina heran, sah sich um, faßte die Puppe und rannte davon.
In der Frühe des anderen Morgens gewahrte Tschilin, wie Dina, die Puppe, die sie mit roten Läppchen verziert hatte, im Arm, aus der Hütte trat. Sie wiegte ihren Liebling wie ein Kind und sang ein Wiegenlied dazu.
Jetzt aber kam eine alte Frau herzu, die ihr zankend das Spielzeug entriß, es zerbrach und das Mädchen wegschickte.
Nun verfertigte Tschilin eine noch niedlichere Puppe, als die erste war, und schenkte sie dem Mädchen.
Eines Tages stellte Dina den frischgefüllten Krug vor ihn hin, setzte sich dann und deutete lachend auf den Krug.
Was sie nur hat, dachte der Offizier, nahm den Krug auf und setzte ihn an die Lippen. Er enthielt diesmal nicht Wasser, sondern Milch. »Gut!« rief er freudig, als er getrunken hatte, und er sah, wie Dinas Gesicht strahlte.
»Iwan – gut – gut!« rief sie laut, klatschte in die Hände, entriß ihm den Krug und lief hinaus.
Von nun an hatte er jeden Tag Milch. Aber auch Käse, aus Ziegenmilch bereitet und auf dem Dache getrocknet, brachte sie ihm heimlich; ja, als ihr Vater ein Schaf schlachtete, barg sie ein Stück Fleisch in ihrem Ärmel und warf es vor Tschilin hin.
Eines Tages ging ein heftiges Gewitter nieder; eine volle Stunde lang floß der Regen in Strömen; lehmig kam aus den Bergen das Wasser niedergestürzt; die Furten, die sonst den Durchgang gestatteten, waren drei Arschin hoch mit Wasser bedeckt; große Steine wurden fortgewälzt.
Als sich das Gewitter verzogen hatte, war das ganze Dorf mit Wassertümpeln besetzt. Da ließ sich Tschilin von Abdul ein Messer geben, mit dem er eine Walze und ein Rad aus Holz schnitzte, an dessen beiden Enden er Puppen anband.
Mit bunten Flicken, die ihm die Mädchen brachten, kleidete er diese Puppen ein; eine war der Bauer, die andere die Bäuerin. Nun wurde das Ganze an den Bach gesetzt: das Rad bewegte sich, die Figuren tanzten. Bald hatte sich das ganze Dorf versammelt, Knaben und Mädchen, Frauen, ja auch Männer kamen herbei und gaben ihrer Freude durch Schnalzen mit der Zunge Ausdruck.
Nun hatte Abdul eine zerbrochene Uhr; er rief Tschilin zu sich, um sie ihm zu zeigen. Der Offizier nahm sie auseinander, brachte sie in Ordnung, so daß sie wieder ging, und gab sie zurück.
Darüber empfand Abdul große Freude. Er revanchierte sich bei dem Offizier mit einem zerschlissenen Rock, der zwar sonst zu nichts zu gebrauchen war, als Decke in der Nacht aber immer noch Dienste leistete.
Kein Wunder, daß Tschilin bald als ein Tausendkünstler galt. Von weit und breit her wurde er aufgesucht: Hier sollte ein Flintenschloß hergerichtet, dort eine Pistole zurechtgemacht werden; ein dritter brachte eine Uhr. Die Werkzeuge, wie Zange, Bohrer und Feile, lieferte ihm Abdul.
Mit der Zeit erlernte Tschilin etwas Tatarisch. Von nun an begrüßten ihn die Tataren, die mit ihm bekannt geworden waren, ganz freundlich, wenn sie etwas von ihm begehrten, und nannten ihn Iwan. Einige sahen ihn allerdings immer noch mißtrauisch an.
Auch der rote Tatar gehörte zu den Gegnern. Kam er mit dem Offizier zusammen, so zog er die Stirn in Falten, drehte sich um und murmelte etwas Böses vor sich hin.
Von Zeit zu Zeit kam ein ganz alter Mann in das Dorf, um in der Moschee zu beten. Der Alte war klein; um seine Mütze hatte er noch ein weißes Handtuch gebunden. Der schneeweiße Bart war kurz gehalten, das Gesicht krebsrot; die Habichtsnase, die stechenden grauen Augen und der bis auf zwei hervorstehende Hauer zahnlose Mund verliehen ihm ein bösartiges Aussehen.
Sooft er Tschilin erblickte, räusperte er sich und drehte sich um.
Begierig zu wissen, wo der Alte lebte, stieg Tschilin eines Tages den Berg hinab. Nachdem er einen Steig überschritten hatte, erblickte er einen von einer Steinmauer eingefaßten Garten, in dem sich Kirschbäume und dahinter ein Häuschen mit einem platten Dach befanden. Auch Bienenkörbe aus Stroh gewahrte er beim Nähertreten. Von summenden Bienen umgeben, kniete der Alte.
Was er wohl tut? denkt Tschilin und reckt sich ein wenig in die Höhe, verursacht aber dabei mit seinem Fußklotz ein Geräusch. Der Alte dreht sich um, zieht blitzschnell die Pistole aus dem Gürtel und schießt los, so daß sich der Offizier kaum hinter der Mauer schützen kann.
Der Greis beschwerte sich bei Abdul über den Eindringling. »Aus welchem Grunde suchtest du den Alten auf?« fragte Abdul lachend.
»Ich wollte nur sehen, wo er wohnt; etwas Böses beabsichtigte ich nicht.«
Den gleichfalls anwesenden Greis verdroß die Antwort; er brummte etwas, fletschte den Mund, wies seine Raffzähne und ballte die Fäuste nach Tschilin hin.
Wenn auch Tschilin nicht alles klar war, so begriff er doch, daß der Greis Befehl gegeben hatte, die Russen zu töten, und deshalb fragte er Abdul nach dem alten Manne, worauf er folgenden Bescheid erhielt:
»Ein reicher Mann! Ein großer Mann, der viele Russen getötet hat. Drei Frauen und acht Söhne hatte er, mit denen er zusammen wohnte. Da sind die Russen gekommen, haben den Aul niedergerissen und ihm sieben Söhne ermordet. Der überlebende Sohn ergab sich den Russen. Da ging der Greis auch hin und ergab sich ihnen. Nachdem er drei Monate dort gelebt hatte, machte er seinen Sohn ausfindig, tötete ihn und floh. Von nun an kämpfte er nicht mehr; er machte eine Pilgerfahrt nach Mekka, um dort zu beten. Zum Zeichen, daß er in Mekka war, trägt er einen Turban und nennt sich Hadschi. Er hat mir befohlen, auch dich zu töten; das kann ich aber nicht, denn du kostest mich Geld, und außerdem habe ich dich gern, Iwan, du müßtest immer bei mir bleiben, wenn ich dir nicht mein Versprechen gegeben hätte.«
So schloß Abdul lachend und fügte auf russisch hinzu: »Iwan, du gut; Abdul gut!«
Und wieder war ein Monat ins Land gegangen. Immer noch streifte Tschilin am Tage im Dorfe umher oder beschäftigte sich mit allerlei kleinen Arbeiten. In der Nacht aber, wenn alles im Aul zur Ruhe gegangen war, grub er im Schuppen. Es war nicht leicht, durch die Steine zu kommen; mit großem Fleiß handhabte er die Feile und machte unterhalb der Wand eine Öffnung, die gerade groß genug zum Durchkriechen war. »Nur die Augen aufmachen«, dachte er, »damit ich mich ja nicht in der Richtung irre!«
Als sich Abdul einmal entfernt hatte, ging der Offizier nach dem Mittagessen auf den Berg hinter dem Aul, um Umschau zu halten. Indes hatte Abdul vorher dem Nogaier den Befehl gegeben, die Gefangenen während seiner Abwesenheit gut zu bewachen, weshalb der Bursche Tschilin nacheilte und ihm zurief:
»Du darfst nicht gehen! Der Herr hat's verboten. Ich rufe die Leute zusammen!«
»Ich gehe nur auf den Berg dort; das ist ja ganz nahe!« beruhigte ihn Tschilin. »Gehe mit mir, komm, du weißt ja, daß ich dir nicht fortlaufen kann. Morgen sollst du auch eine Armbrust und Pfeile von mir bekommen!«
Das lockte; der Bursche kam mit. Nur mit Mühe schleppte sich Tschilin den Berg hinauf; denn der schwere Block hinderte ihn am Gehen. Müde setzte er sich oben hin und blickte ringsum.
Nach Süden zu dacht sich der Boden ab. Eine Pferdeherde grast dort, und unten im Tale liegt ein Dorf. Jener Berg drüben steigt steil in die Höhe, wird aber noch von einem anderen hinter ihm liegenden Berge überragt. In den Schluchten dunkler Wald. Berge und wieder Berge; zu unendlicher Höhe streben sie empor; wie Zucker glitzert der Schnee auf ihren Gipfeln. Über alle diese weißen Berge hinweg aber erhebt sich majestätisch eine einzelne Kuppe.
Die gleichen Berge nach Osten, nach Westen zu. In den Schluchten dazwischen erblickt man einzelne Aule – in Nebel gehüllt. Das alles gehört den Tataren.
Und nun späht Tschilin nach der russischen Seite. Dort unten – in weiter Ferne – ein kleiner Fluß, ein von Gärten umgebenes Dorf. An dem Wasser sitzen Frauen und spülen Wäsche; in der Entfernung nehmen sie sich wie kleine Puppen aus. Im Hintergrunde erhebt sich eine Anhöhe, die von zwei bewaldeten Bergen terrassenförmig überragt wird, und zwischen diesen Bergen lagert ein weißlicher Schimmer, wie ferner Rauch.
Der junge Offizier orientiert sich in Gedanken, wo die Sonne auf- und niederging, als er noch in der Festung war. Im Tal dort unten, sagt er dann zu sich, muß unsere Festung sein; dorthin, zwischen jene beiden Berge, muß ich fliehen.
Jetzt ging die Sonne unter; ihr letzter Strahl tauchte die Berge in rötliches Licht; dann wurde es dunkel, und die Schatten der Nacht senkten sich nieder. Aus den Schluchten wallten Nebel auf. Aber dort, wo die Festung, das Ziel seiner Sehnsucht, lag, funkelte es wie Feuer. Mit seinen scharfen Augen durchbohrte Tschilin die Finsternis, und plötzlich wurde es ihm klar: Jener Rauch dort unten kam von der russischen Festung.
Immer dunkler wurde es, und schon rief der Mulla vom Minarett. Die Kühe wurden zusammengetrieben und eilten brüllend dem Stalle zu. Da begann der Bursche dringend zur Rückkehr zu mahnen; aber es wurde Tschilin sehr schwer, diesen Ort zu verlassen.
Nun ist die Zeit der Rettung gekommen, dachte er bei sich. Ich weiß nun die Richtung und will fliehen. Gleich heute nacht will ich losziehen, denn der abnehmende Mond spendet nur schwaches Licht.
Leider aber kamen die Tataren schon an diesem Abend zurück. Nicht wie sonst sprengten sie lustig auf ihren Pferden herein, da sie von ihrem Streifzuge nicht nur keine Beute mitbrachten, sondern auch einen ihrer Leute, den Bruder des Roten, verloren hatten.
Nachdem der Tote vom Sattel herabgenommen worden war, eilte alles zur Beerdigung herbei, bei der auch Tschilin zugegen war. Die in Linnen gehüllte Leiche wurde hinter das Dorf getragen und dort unter die Platanen auf den Rasen gelegt. Dann erschien der Mulla. Die Alten versammelten sich um ihn, entblößten ihre Füße und umwickelten ihre Mützen mit weißen Tüchern. Nun kauerten sie sich bei dem Toten nieder: vor den zwei Reihen von je drei Alten hockte der Mulla. So blieben sie lange Zeit stumm und mit gesenkten Häuptern.
Endlich aber schaute der Mulla auf und rief: »Allah!« Dann blickten auch die anderen auf, neigten die Köpfe wieder und verblieben abermals regungslos und in tiefstem Schweigen, bis der Mulla wieder den Kopf hob und den Allahruf wiederholte.
»Allah! Allah!« riefen auch die anderen. Erneute Stille; man hörte nichts als den Wind, der die Blätter der Platanen bewegte.
Nachdem der Mulla die Gebete verlesen hatte, standen alle auf und trugen mit ihren Händen die Leiche zum Grabe – es erstreckte sich wie ein Keller weit unter die Erde. Durch Biegen der Arme und der Beine brachten sie den Toten in eine sitzende Stellung, worauf sie ihm die Hände auf der Brust falteten.
Mit grünem Schilfrohr, das der Nogaier herbeibrachte, wurde der Tote bedeckt und dann die Grube rasch mit Erde ausgefüllt, die oben fest und glatt gestampft wurde.
Als endlich noch ein Stein zu Häupten des Toten aufgerichtet war, kauerten alle schweigend am Grabe nieder.
»Allah! Allah! Allah!« wehklagten sie dann und erhoben sich.
Und nun wurde von dem Rotbart Geld unter die alten Leute verteilt, worauf er eine Peitsche ergriff und sich damit dreimal an die Stirn schlug. Alsdann kehrte er nach Hause zurück.
Am nächsten Morgen bemerkte Tschilin den Roten, der, gefolgt von drei Tataren, mit einer Stute das Dorf verließ. Draußen zog er seinen Oberrock aus, entblößte die strammen, muskulösen Arme, zog den Dolch aus dem Gürtel und wetzte ihn an einem mitgebrachten Schleifsteine. Danach faßten die Tataren den Kopf des Tieres und hielten ihn in die Höhe, worauf der Rote mit geschickter Bewegung ihm den Hals durchschnitt. Mit kräftiger Faust streifte er dann die Pferdehaut ab, während Frauen und Mädchen herbeieilten, um die Eingeweide zu waschen. Nachdem sie die Stute noch zerlegt hatten, wurden die Stücke in die Hütte des Roten gebracht, wo sich indes die ganze Bewohnerschaft des Dorfes zur Totenfeier versammelt hatte.
Drei Tage lang wurde zu Ehren des Gestorbenen Stutenfleisch gegessen und Busa dazu getrunken. So lange verließ keiner den Aul; erst um die Mittagsstunde des vierten Tages rückten die Männer wieder aus. Sie holten ihre Pferde herbei, sattelten sie und ritten davon.
Es waren ungefähr zehn Mann, unter ihnen der Rote, nicht aber Abdul.
Noch herrschte in den Nächten völlige Dunkelheit, denn nur eine ganz schmale Mondsichel stand am Himmel. Das war endlich die ersehnte Gelegenheit.
»Diese Nacht müssen wir's wagen!« raunte Tschilin seinem Kameraden zu, worauf Kostylin ängstlich meinte:
»Wie sollen wir das denn bewerkstelligen? Wir wissen ja keinen Weg!«
»Ich weiß ihn.«
»Aber in einer Nacht kommen wir doch nicht weit genug, um sicher zu sein!«
»So verstecken wir uns einstweilen im Walde; ich habe einige Käsefladen für uns gesammelt. Oder wollen Sie vielleicht hierbleiben? Das ginge ja ganz gut, wenn wir auf das Geld rechnen könnten. Aber wird das je kommen? Ich habe gehört, daß die Tataren uns töten wollen; sie sind darüber erzürnt, daß die Russen einen ihrer Leute erschossen haben.«
Nur durch langes Zureden war Kostylin zu bewegen, den Fluchtversuch zu wagen.
Gegen Abend schlüpfte Tschilin in das Loch, das er gegraben hatte, und machte es etwas weiter, damit auch Kostylin hindurch konnte. Dann warteten sie ruhig, bis im Tatarendorfe alles Geräusch verstummt war.
Als sich alles zur Ruhe begeben hatte, verließ Tschilin die Öffnung, wobei er Kostylin leise zurief: »Kommen Sie!«
Das tat der andere denn auch, stolperte aber über einen Stein und verursachte dadurch ein Geräusch.
Nun hatte aber Abdul einen bissigen Wachthund, den häßlichen, gefleckten Uljaschin. Sobald der den Lärm hörte, fing er laut an zu bellen, worauf noch andre Hunde herbeigelaufen kamen. Glücklicherweise hatte sich Tschilin den Hund durch häufiges Füttern schon zum Freunde gemacht; als er ihm jetzt einen Fladen hinwarf, hörte das Tier sofort auf zu bellen und wedelte mit dem Schwanze.
Da pfiff Abdul, der das Bellen auch gehört hatte, dem Hunde; dieser aber blieb ruhig zu Tschilins Füßen sitzen, weil der ihn streichelte und hinter den Ohren kraulte.
Wieder warteten die beiden, bis völlige Stille eingetreten war und man nichts mehr hörte als das Rauschen des Wassers tief unten im Tale und hin und wieder das Meckern einer Ziege.
Es war eine tiefschwarze Nacht; am Himmel funkelten die Sterne; wie ein schön gebogenes Silberhorn erschien hinter dem Berge der Mond. In den Schluchten aber lag Nebel, dessen gelbweiße Farbe gespenstisch heraufleuchtete.
Da erhob sich Tschilin und schlich, gefolgt von seinem Kameraden, vorsichtig vorwärts. Inzwischen war aber die Gebetsstunde herangekommen: der Mulla rief vom Minarett, und alles eilte zur Andacht. Wieder mußten sich die Flüchtlinge verstecken, bis alles in der Moschee versammelt war.
Sie machten das Zeichen des Kreuzes über sich und gingen. Bald lag der Abhang hinter ihnen, war der Fluß durchquert, und sie schritten im Tale weiter. Durch den Nebel hindurch blinkten die Sterne, die Tschilin die einzuschlagende Richtung angaben. Wären die zerrissenen, unbequemen Stiefel nicht, wie leicht und angenehm würde es sich da in der kühlen Nachtluft gehen! dachte Tschilin und warf nach kurzem Besinnen seine Fußbekleidung von sich.
Nun hinderte ihn nichts mehr am flotten Ausschreiten; frisch und fröhlich eilte er vorwärts, während Kostylin mühsam nachhinkte.
»Gehen Sie doch nicht so schnell!« rief er. »Mir sind die Füße ganz wund geworden in den elenden Stiefeln.«
»Ziehen Sie sie doch aus; es geht noch einmal so gut!«
Kostylin befolgte den Rat, kam aber vom Regen in die Traufe, denn die spitzen Steine schnitten in seine weichen Füße, so daß er immer mehr zurückblieb.
»Beeilen Sie sich doch!« rief ihm Tschilin zu. »Ihre Füße heilen schon wieder. Fangen sie uns aber ein, so werden wir getötet!«
Das half eine kurze Weile. Stöhnend humpelte Kostylin nebenher, während sie durch das Tal gingen. Plötzlich ertönte rechts von oben Hundegebell; kopfschüttelnd hielt Tschilin inne, lauschte und schlich dann vorsichtig die Anhöhe hinauf.
»Da oben liegt ein fremder Aul«, sprach er im Herunterkommen; »wir sind falsch gegangen, wir müssen zurück und dann links den Berg hinauf. Dort wird der Wald sein.«
»Ach, lassen Sie mich doch ein wenig ausruhen!« bat Kostylin. »Meine Füße bluten.«
Tschilin aber kehrte eilig um und meinte, zurückschauend: »Ach, Brüderchen, die heilen ja wieder!« Damit stieg er, von dem ächzenden Kostylin gefolgt, ein Stück zurück und dann links hinauf.
Endlich war der Wald erreicht. Zwar blieben ihre Kleider in Fetzen an den Dornen hängen; aber die beiden ließen sich nicht aufhalten, sondern liefen vorwärts, bis sie einen Pfad erreichten, den sie weiter verfolgten.
Was war das? Stampften da nicht Hufe den Weg? Wie angewurzelt blieben sie stehen, ohne jedoch etwas zu vernehmen. Kaum bewegten sie sich wieder, so war auch das Stampfen von neuem zuhören; hielten sie inne, so war es auch still. Auf den Fußspitzen schlich Tschilin vorsichtig bis zu einer Stelle, wo schwacher Mondschein den Weg beleuchtete; vor ihm stand ein Tier – es ähnelte einem Pferd und war doch kein Pferd. Auf ihm saß etwas Seltsames – jedenfalls kein Mensch. Deutlich hörte er das Schnauben des Tieres.
Bei seinem leisen Pfeifen stutzte es und stürzte dann in den Wald hinein, so daß die Äste krachend hinter ihm brachen.
Während Kostylin vor Angst halbtot war, lachte Tschilin laut auf und sprach:
»Das war ja ein Hirsch! Hören Sie, wie sein Geweih die Äste bricht? Er hat sicher noch mehr Furcht vor uns als wir vor ihm!«
Dann gingen die beiden Flüchtlinge weiter, bis die Morgendämmerung zu nahen schien. Ob ihr Weg der rechte war, wußten sie nicht. Tschilin meinte zwar, es sei der Weg, den er damals als Gefangener zu Pferde gemacht habe; er hoffte auch, daß die Festung nicht mehr als zehn Werst entfernt sei; aber behaupten konnte er das alles nicht. Woran sollte er auch den Weg erkennen, besonders da es noch dunkle Nacht war?
Als sie den Wald verlassen hatten, ließ sich Kostylin am Rande nieder und sprach: »Tun Sie, was Sie wollen; mich aber bringen Sie keinen Schritt weiter! Ich kann nicht mehr auf meinen Füßen stehen!«
Tschilin redete ihm zu.
»Nein, ich tue es nicht! Ich komme nun einmal nicht hin! Ich tue es nicht!«
Tschilins Geduld war zu Ende. Er spie in seinem Ärger auf den Boden.
Da nahm Kostylin noch einmal alle seine Kräfte zusammen und schleppte sich weiter.
Nach weiteren vier Werst hatte sich ein so dichter Nebel eingestellt, daß sie kaum noch ein paar Schritte vor sich sehen konnten und die Sterne nicht mehr erblickten.
Da plötzlich ein Geräusch, wie wenn Pferdehufe auf Steine aufschlügen! Sie legten das Ohr an die Erde und horchten. Sobald ihnen aber klar wurde, daß wirklich ein Reiter herankam, versteckten sie sich schleunig im Dickicht, um ihn vorüber zu lassen. Vorsichtig durch eine Lücke lugend, sahen sie, daß es ein Tatar zu Pferde war, der eine Kuh vor sich hertrieb.
Als er vorüber war, sprach Tschilin:
»Nun, der Herr hat ihn gnädig vorübergeführt! Nun lassen! Sie uns weiterziehen!«
»Ich kann nicht! Ich kann nicht! Ich schwöre bei Gott, daß meine Füße mich nicht weiter tragen!«
So war dieser starke, kräftige Mann schwach geworden wie ein Kind, sobald ihn ein kalter Nebel umgab und Steine seine Füße wund machten. Tschilin versuchte ihn in die Höhe zu ziehen; aber laut schreiend sank der Gefährte zurück. Darüber durchzuckte ein heftiger Schreck Tschilin.
»Schreien Sie doch nicht so! Wie leicht kann uns der Tatar gehört haben, der noch so nahe ist!«
Bei sich aber dachte er: »Was soll ich nur mit ihm anfangen? Er ist ja wirklich ganz kraftlos! Ich kann doch meinen Bruder nicht verlassen!«
»Versuchen Sie nur aufzustehen!« redete er ihm zu. »Ich will Sie tragen, da Sie nicht mehr gehen können. Setzen Sie sich auf meinen Rücken!« In der Tat zog er Kostylin auf seinen Rücken, hielt ihn mit den Händen an den Beinen und brachte ihn so wieder auf den Weg.
»So drücken Sie mir doch nicht mit Ihren Händen den Hals zu! Fassen Sie lieber meine Schultern!«
Auch Tschilins Füße bluteten, auch er war todmüde, und doch schleppte er die schwere Last, die ihn fast zu Boden zu drücken drohte, weiter. Er mußte ganz gebückt gehen und von Zeit zu Zeit den herunterrutschenden Mann wieder mit den Schultern in die Höhe stoßen. Der vorüberreitende Tatar mußte aber jenen Jammerlaut Kostylins gehört haben, denn plötzlich kam ihnen jemand laut rufend nachgeeilt. Sofort bog Tschilin in den Wald ein, und sie entgingen dadurch der ihnen nachgesandten Kugel. Laut schimpfend eilte der Tatar weiter.
»Nun ist's aus mit uns, Bruder!« klagte Tschilin. »Bald wird ein ganzer Trupp Tataren kommen und uns mit ihren Hunden hetzen. Wenn wir nicht wenigstens drei Werst vorwärts kommen, so sind wir verloren.« Und in Gedanken setzte er hinzu: Welcher Teufel hat mich nur dazu verleitet, diesen Burschen mitzunehmen! Wie ein Hemmschuh hängt er an einem – ohne ihn wäre ich schon längst gerettet.
»Oh, gehen Sie allein«, flehte Kostylin, »warum sollten Sie um meinetwillen ins Verderben rennen?«
»Nein, das tue ich nicht«, erwiderte der andere und eilte, den Kameraden, wieder auf die Schulter nehmend, weiter.
Noch nahte kein Ende des Waldes; der Nebel hob und verdichtete sich abwechselnd; es war, als ob sie durch Wolken gingen, und kein Stern zeigte sich mehr.
Nach einer Werst war auch Tschilin am Ende seiner Kräfte. An einer steingefaßten Quelle hielt er inne und ließ Kostylin herabgleiten.
Kaum aber hatte er sich niedergekauert, um einen Trunk Wasser zu schöpfen, da war schon wieder Pferdegetrappel zu hören. Und abermals jagte er mit seiner Last in den dichten Wald, dem Abhange zu. Dort legten sie sich nieder.
Bald hörten sie Stimmen – es war Tatarisch. Die Männer hatten sich an derselben Quelle, wo die beiden vorhin gerastet, niedergelassen. Die Flüchtlinge hörten, wie die Hunde auf sie gehetzt wurden, und nun drang auch schon das Geräusch von knickenden Ästchen an ihr Ohr. Es näherte sich schnell; der Bluthund eilte gerade auf sie los und blieb bellend vor ihnen stehen. Jetzt waren auch die Tataren zur Stelle, ergriffen und banden die Flüchtlinge und ritten, nachdem sie sie auf die Pferde gesetzt hatten, mit ihnen davon.
Nach ungefähr drei Werst kam ihnen Abdul mit zwei Begleitern entgegen. Die Tataren tauschten nur wenige Worte miteinander aus, dann wurden die Gefangenen auf den Pferden von Abduls Begleitern befestigt; der Schwarze machte kehrt, und der kleine Zug bewegte sich in der Richtung nach dem Aul vorwärts.
Diesmal lachte Abdul nicht, wie er es sonst so gern tat, und würdigte die beiden Russen keines Wortes. Als es hell wurde, war der Aul erreicht. Man setzte sie auf die Straße und begann sie zu mißhandeln und zu verspotten. Die Jungen warfen sie mit Steinen, schlugen mit Peitschen nach ihnen und machten einen Heidenlärm.
Auch der Alte vom unteren Berge stand in der schreienden, gaffenden Menge.
Später berieten die Tataren, was mit den Gefangenen geschehen solle. Einige meinten, sie sollten tiefer in die Berge hineingeschafft werden; der Alte aber gebot mit befehlender Stimme, man solle ihnen das Leben nehmen.
Dem widersetzte sich Abdul, indem er sprach: »Ich habe sie gekauft und will ihr Lösegeld haben.«
Darauf der Alte: »Nichts wirst du bekommen! Sie machen nur Unfug. Überdies ist es eine Sünde, solche verdammten Russen zu füttern. Töten und ab damit!«
Nachdem sich die Männer zerstreut hatten, näherte sich Abdul Tschilin und sprach:
»Wenn nicht binnen zwei Wochen das Lösegeld für euch da ist, lasse ich euch auspeitschen; versuchst du aber, wieder zu entfliehen, so werde ich dich niederschießen wie ein Tier. Schreib einen Brief nach Hause, aber mach es dringend!«
Beide erhielten Papier und schrieben. Danach wurden sie wieder in den Fußblöcken befestigt, diesmal aber hinter die Moschee gebracht, wo sich ein fünf Arschin tiefer Graben befand, in den man die beiden Unglücklichen hinabließ.
Von nun an führten sie ein elendes Leben. Sie wurden weder aus ihren Blöcken befreit noch manchmal hinauf ans Tageslicht gebracht. Als Nahrung erhielten sie ungebackenen Teig vorgeworfen, und von Zeit zu Zeit wurde ein Wasserkrug hinuntergelassen. Übler Geruch, schlechte Luft und Nässe in der Grube vermehrten ihre Qual.
Kostylin, als der Schwächere, erkrankte sehr bald; seine Glieder schwollen; er hatte überall Schmerzen und stöhnte sehr laut. Fast immer lag er im Halbschlaf.
Aber auch Tschilin war sehr niedergedrückt. Wie sollte er aus diesem Loche entkommen? Er versuchte wieder zu graben, wußte aber nicht, wohin mit der Erde. Auch beargwöhnte ihn Abdul und drohte fortwährend, ihn zu erschießen.
So saß er wieder einmal, bis ins tiefste betrübt, und dachte an die Freiheit draußen. Da fiel plötzlich ein Käsefladen neben ihm nieder, und noch einer, und ein Regen süßer Kirschen strömte herab.
Oben stand Dina und entlief lächelnd bei seinem Aufblick. Könnte dir nicht Dina helfen? schoß es ihm durch den Sinn. Er machte sich daran, aus dem Lehm, den seine Grube enthielt, allerhand Spielzeug zu formen; Menschen, Pferde, kleine Hündchen. Dabei dachte er: Sobald Dina wieder kommt, werde ich sie ihr schenken.
Sie kam jedoch nicht. Am anderen Tage vernahm Tschilin Pferdegetrappel und merkte, daß fremde Tataren da waren. Sie versammelten sich bei dem Minarett und hielten Rat über die Russen. Die Stimme des Alten war ganz deutlich zu hören. Zwar konnte Tschilin nicht alles verstehen, so viel entnahm er der Verhandlung aber, daß russische Soldaten ganz in der Nähe sein müßten. Die Tataren schienen zu befürchten, daß sie in den Aul kämen und dort die Gefangenen fänden. Das übrige war Tschilin unverständlich.
Nachdem sich die Menge oben zerstreut hatte, hörte der Gefangene ein Geräusch an der Grube. Oben kniete Dina und beugte das Haupt vor, so daß ihre Halskette in die Höhle hereinbaumelte. Sie zog zwei Käsefladen aus ihrem Ärmel und warf sie Tschilin blitzenden Auges zu. Tschilin fragte hinauf: »Warum bist du so lange nicht gekommen? Hier ist allerlei Spielzeug für dich!«
Sie aber schüttelte traurig das Köpfchen und flüsterte: »Ach, was hilft das? – Iwan, du sollst getötet werden!« Damit machte sie mit der Hand eine bezeichnende Bewegung um den Hals.
»Wer will mich töten?«
»Mein Vater. Die Alten haben es ihm geboten. Aber mir tust du leid!«
Tschilin erwiderte: »Wenn das wahr ist, Mädchen, so mußt du mir helfen und mir eine lange Stange bringen!«
Als sie darauf nur das Haupt schüttelte, faltete er bittend die Hände und rief:
»Dina, Dinuschka, ich flehe dich an, bring' mir doch eine Stange!«
»Ich kann nicht! Sie sind alle zu Hause und würden mich sehen.«
Damit entfernte sie sich. Der Abend brach herein. Tschilin saß niedergeschlagen in seiner Grube und malte sich aus, was nun wohl kommen würde. Von oben blickten die Sterne herein; aber der Mond schien noch nicht am Himmel zu stehen. Nachdem der Mulla von der Moschee gerufen hatte, wurde alles still.
Nach und nach bemächtigte sich Tschilins ein dumpfer Halbschlaf, in dem ihn immer der eine Gedanke quälte: Wenn nur das Mädchen nicht so furchtsam wäre!
Auf einmal fielen Lehmstückchen auf seinen Kopf, und aufblickend sah er, daß oben am Rande der Grube eine dicke Stange sichtbar wurde und langsam herabglitt. Einmal blieb sie stecken, wurde wieder befreit und kam tiefer, bis Tschilin sie erfassen und vollends herabziehen konnte. Diese Stange hatte er früher auf Abduls Hütte liegen sehen.
Dankbar blickte er nach oben. Wie die Augen einer Katze, so funkelten die Augen Dinas hernieder, als sie leise flüsterte:
»Iwan – Iwan –, sie sind alle fort; es sind nur zwei zu Hause geblieben!«
Da packte Tschilin seinen schlafenden Gefährten am Arm und rief: »Auf! Es ist noch einmal –zum letzten Mal!– Gelegenheit zur Flucht! Ich will Sie tragen!«
Der Kranke aber schüttelte abwehrend den Kopf.
»Wie kann ich an Flucht denken! Ich bin ja so schwach, daß ich mich nicht einmal allein umdrehen kann!«
»Dann leben Sie wohl! Gott schütze Sie! Behalten Sie mich nicht in böser Erinnerung!«
Nachdem er sich noch niedergebeugt und den Kameraden zum Abschied geküßt hatte, faßte Tschilin die Stange, die Dina oben hielt, und kletterte hinauf. Der schwere Block hinderte ihn ungemein; zweimal rutschte er wieder herunter. Mit größter Anstrengung hielt Kostylin unten die Stange fest, und mit ebenso großer Anstrengung langte Tschilin endlich oben an. Mit ihren schwachen Händen zog ihn Dina vollends aus der Grube heraus und lachte dabei, daß ihre Zähne nur so blitzten.
Glücklich angelangt, hob Tschilin auch die Stange wieder heraus und sprach zu Dina:
»Bringe sie wieder an ihren Platz; wenn man sie vermißt, bekommst du Schläge!«
Während das Mädchen diesen Rat befolgte schwankte der Flüchtling den Berg hinab. Unten setzte er sich und bemühte sich, mit einem scharfen Stein das Schloß des Blockes zu zerschlagen; aber das feste Schloß spottete seiner Bemühungen. Da kam Dina – leicht wie eine Gazelle – den Berg herabgeeilt, nahm ihm den Stein aus der Hand und sprach zuversichtlich: »Komm, ich mach' es!«
Lange mühte sie sich vergeblich. Sie schlug, hämmerte, drückte – aber umsonst; denn ihre schwachen Ärmchen hatten keine Kraft. Zornig weinend, schleuderte sie den Stein weg. Nun versuchte es Tschilin wieder, während ihn das Mädchen fest an der Schulter hielt.
Als sein Blick einmal über den Rücken des Berges schweifte, sah er einen schwachen Schimmer – den ersten Schein des aufgehenden Mondes. Ehe das Gestirn die Gegend beleuchtete, mußte er durch die Schlucht sein und den schützenden Wald erreicht haben. Deshalb gab er sofort seine Bemühungen auf, warf den Stein fort, erhob sich und sprach:
»Ich muß im Block weiter!«
Gerührt nahm er Abschied von Dina.
»Leb wohl, mein Kind! Nie in meinem Leben werde ich vergessen, was du an mir getan hast!«
Dinas Finger berührten seinen Rock, und heimlich steckte sie ihm Fladen in die Tasche.
»Dank, Dinuschka, Dank! Wer wird dir nun Spielzeug machen, wenn ich nicht mehr bei euch bin?«
Liebkosend strich er über ihren dunklen Kopf. Sie aber schlug die Hände vors Gesicht und eilte schluchzend hinauf, zum Dorfe zurück. Noch hörte Tschilin das Aneinanderschlagen der Münzen an ihrer Halskette.
Da machte er das Zeichen des Kreuzes über sich, hielt das Schloß des Blockes mit der Hand fest, damit es nicht klapperte, und schleppte sich weiter. Er hielt die Augen auf den immer heller werdenden Schein über dem Walde geheftet.
Der Weg war ihm nun bekannt; er mußte ungefähr acht Werst immer geradeaus gehen. Hätte er nur den Wald erreicht, ehe der Mond heraus war! Freilich waren die Bergspitzen bereits beleuchtet. In der Schlucht unten konnte er ihn noch nicht sehen; aber der eine Abhang wurde schon heller, und schon zog sich der Schatten immer tiefer herab und kam auf ihn zu. Tschilin eilte, so schnell er nur konnte; aber der Mond eilte noch mehr. Es wurde heller und heller und im selben Augenblick, da der Wald vor ihm auftauchte, trat auch der Mond über den Berg herüber. Nun war alles taghell beleuchtet; jedes Blättchen war zu erkennen; die Berge lagen da wie vom Sonnenschein überflutet. Glücklicherweise aber war oben kein Mensch zu sehen und nichts zu hören als das Rauschen des Flüßchens.
So gelangte Tschilin ungesehen in den Wald und ließ sich an einer dunklen Stelle nieder, um etwas zu verschnaufen. Nachdem er sich mit einem Käsefladen erquickt hatte, faßte er wieder nach einem Stein, um das Schloß am Fußblock zu zerschlagen; aber obgleich seine Hände bluteten, hatte er doch keinen Erfolg. Darum stellte er die nutzlose Arbeit ein und verfolgte den Pfad weiter.
Kaum aber hatte er eine Werst zurückgelegt, so fühlte er, daß seine Kraft zu Ende ging. Seine Füße schmerzten furchtbar. Doch wagte er nicht zu ruhen; denn er dachte: Lege ich mich hin, so kann ich mich nicht wieder erheben; gehe ich aber weiter, so werde ich mich schon noch ein Weilchen schleppen können. Die Festung kann ich natürlich nicht erreichen; ich werde den Tag über im Walde bleiben und erst in der Nacht meine Flucht fortsetzen.
So humpelte er die ganze Nacht hindurch mühsam vorwärts. Es begegneten ihm zwar zwei Tataren; Tschilin hatte sie aber von weitem bemerkt und sich versteckt, bis sie vorüber waren.
Als es zu dämmern begann und der Tau alles umher befeuchtete, hatte Tschilin den jenseitigen Waldrand noch nicht erreicht. »Nur noch dreißig Schritte«, sprach er zu sich, »dann will ich mir ein Ruheplätzchen im Walde suchen.«
Nach diesen dreißig Schritten aber schien sich der Wald zu lichten; er schleppte sich deshalb noch weiter und gelangte wirklich an den Rand. Inzwischen war es heller Tag geworden. Kaum traute er seinen Augen, als er vor sich – zum Greifen nahe – die Festung sah. Dicht zu seiner Linken aber blinkten verglimmende Wachtfeuer, denen Rauch entstieg und die von Männern umringt waren. Glänzende Flintenläufe blitzten herüber, und Tschilins scharf ausspähende Augen erblickten – Kosaken.
Mit letzter versagender Kraft wankte der Offizier den Berg hinab.
»Wenn mich nur hier auf dem offenen Felde kein Tatar entdeckt; ich wäre des Todes, so nahe ich auch schon der Rettung bin!« sagte er zu sich.
Ängstlich schweifte sein Blick über die Hügelkette hin, und siehe da – das Furchtbare wurde zur Wahrheit. Kaum zwei Deßjatinen entfernt erblickte er drei Tataren zu Pferde.
Sie wurden des Flüchtlings gewahr und eilten in gestrecktem Galopp herüber. Tsohilins Herz drohte zu versagen. Er schlug die Hände über dem Haupte zusammen und schrie mit letzter Kraftanstrengung:
»Brüder! Brüder! Rettet mich!«
Und dieser Hilferuf ward im Lager vernommen. Man sah Kosaken ihre Pferde besteigen und heranreiten. Atemlos eilte ihnen der Bedrängte entgegen. Die Tataren waren ihm dicht auf den Fersen, die Retter aber noch ferne. »Brüder! Brüder! Brüder!« schrie er, seiner selbst kaum mehr bewußt.
Als die Tataren den Trupp von ungefähr fünfzehn Kosaken entdeckten, erschraken sie und hielten ihre Pferde an.
Die Kameraden erreichten Tschilin. Mitleidig umringten sie ihn und fragten nach seinem Namen und woher er komme. Der Gerettete vermochte indes nichts zu sagen als:
»Brüder, Brüder!«
Inzwischen fanden sich immer mehr Soldaten ein. Der eine brachte Brot, der andere Branntwein, noch ein anderer Grütze. Dieser hing Tschilin seinen Mantel um, jener befreite ihn vom Fußblock.
Als die Offiziere den Kameraden erkannten, brachen sie in großen Jubel aus. Sie führten ihn in die Festung, wo sich bald seine Soldaten um ihn scharten.
Tschilin mußte berichten und schloß seine Erzählung mit den Worten:
»Das war meine Reise nach Hause und meine Hochzeit! Nun, es sollte eben nicht sein.«
So trat er denn seinen Dienst im Kaukasus wieder an und blieb dabei.
Wenige Wochen später kamen fünftausend Rubel Lösegeld für Kostylin an. Mehr tot als lebend wurde er zu seinen Kameraden zurückgebracht.