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Die Mordtaten in der Rue Morgue
Im Jahr 18.. hielt ich mich in Paris auf und machte dort die Bekanntschaft eines Chevaliers Auguste Dupin. Der junge Mann stammte aus einer angesehenen Familie, war jedoch durch harte Schicksalsschläge in solche Bedrängnis geraten, daß die Energie seines Charakters unterlag und er es aufgab, etwas zur Verbesserung seiner Lage zu unternehmen. Seine Gläubiger waren so rücksichtsvoll gewesen, ihm einen kleinen Teil seines väterlichen Erbes zu belassen. Von der daraus herrührenden Rente gelang es ihm durch äußerste Sparsamkeit, den Unterhalt zu bestreiten. Bücher waren der einzige Luxus, den er sich erlaubte.
Unsere erste Begegnung fand in einer kleinen Buchhandlung der Rue Montmartre statt, wo uns das zufällige gemeinsame Suchen nach ein und demselben Folianten näher zusammenbrachte. Wir sahen uns dann noch öfter. Die kleine Familiengeschichte, die er mir mit der ganzen Offenherzigkeit mitteilte, der sich der Franzose hingibt, wenn sein eigenes Ich beteiligt ist, gefiel mir sehr. Seine ungeheure Belesenheit setzte mich ebenfalls in Erstaunen. Vor allem begeisterte mich die hinreißende Macht und lebendige Frische seiner Phantasie. Für die Zwecke, die mich damals in Paris festhielten, mußte mir die Gesellschaft diese Mannes höchst nützlich sein, und diese Empfindung äußerte ich offen gegen ihn. So kam es, daß wir uns schließlich entschieden, während meines Aufenthalts in der Stadt zusammenzuwohnen. Da meine Vermögensverhältnisse etwas günstiger waren als seine, war es mir möglich, ein dem Verfall nahes altes Haus, das, verwittert und von groteskem Aussehen, in einem abgelegenen stillen Teile des Faubourg St. Germain lag, zu mieten und so zu möblieren, wie es am besten für unseren düsteren und etwas phantastischen Sinn paßte.
Wenn die Welt unsere Lebensweise in dieser Wohnung gekannt hätte, würde sie uns für Tollhäusler gehalten haben, vielleicht für ungefährliche Irre. Wir lebten abgeschieden, ohne Besuche. Ich hatte mein verstecktes Asyl allen meinen früheren Gefährten sorgfältig verschwiegen, und Dupin hatte schon seit vielen Jahren keine Bekannten mehr in Paris.
Es gehörte zu den Sonderbarkeiten meines Freundes, in die Nacht, um ihrer selbst willen, verliebt zu sein, und diese Bizarrerie machte ich ebenso ruhig mit wie alle seine anderen: ich gab mich allen seinen Grillen völlig hin. Die dunkle Gottheit blieb uns zwar nicht immer treu; aber wir konnten ihre Gegenwart künstlich herstellen: Beim ersten Morgengrauen schlossen wir die massiven Fensterläden in unserem alten Gebäude und steckten ein paar Wachskerzen an, die stark parfümiert waren und nur einen schwachen flackernden Schimmer verbreiteten. Mit ihrer Hilfe versenkten wir unsere Seelen in Träume – wir lasen, schrieben oder unterhielten uns, bis uns die Uhr den Beginn der wirklichen Dunkelheit anzeigte. Dann gingen wir Arm in Arm auf die Straße und setzten die Gespräche fort, oder wir strichen lange ziellos umher und suchten unter den Gegensätzen von Licht und Schatten, wie die große, volkreiche Stadt sie bietet, die geistigen Anregungen, die ruhige Beobachtung gewähren kann.
Bei solchen Gelegenheiten bemerkte und bewunderte ich oft Dupins Fähigkeit zu kombinieren. Ich erinnere mich, daß er mir lachend sagte, für ihn schienen viele Menschen ein Fenster mitten auf der Brust zu tragen, und diese Behauptung bewies er alsbald dadurch, daß er mir überraschende Aufschlüsse über meine eigenen Gedanken gab. Ich kann mich nicht enthalten, hier ein Beispiel anzuführen.
Wir gingen in der Nacht eine lange schmutzige Straße entlang, in der Nähe des Palais Royal. Da wir beide tief in Gedanken waren, hatte keiner eine Viertelstunde lang ein Wort gesprochen. Auf einmal sagte Dupin:
»Es ist ein sehr kleiner Kerl, das ist gewiß, und paßte besser auf das Théâtre des Variétés.«
»Ja, das ist nicht zu bezweifeln«, erwiderte ich unbefangen, ohne im Augenblick zu bemerken – so sehr war ich in Gedanken vertieft gewesen –, daß Dupin wunderbarerweise in mein Sinnen eingefallen war. Doch fand ich mich sogleich zurecht, und meine Verwunderung war um so größer.
»Dupin«, sagte ich ernsthaft, »das geht über meinen Horizont. Ich will nicht leugnen, daß ich überrascht bin und meinen Ohren kaum traue. Wie ist es nur möglich, daß Sie wissen können, ich dachte eben an –?« Hier hielt ich inne, um ganz klar darüber zu werden, ob er wirklich wisse, woran ich gedacht hatte.
»– an Chantilly«, ergänzte er, »warum sprechen Sie nicht weiter? Sie fanden eben, daß ihn seine kleine Gestalt untauglich für die Tragödie macht.«
Gerade das hatte ich gedacht. Chantilly war ein Schuhflicker aus der Rue St. Denis, der theaterwütig geworden war und den Versuch gemacht hatte, in der Rolle des Xerxes in Crébillons gleichnamigem Trauerspiele aufzutreten, wofür er zur Genüge lächerlich gemacht worden war.
»Erklären Sie mir, um Himmels willen«, rief ich aus, »die Methode – wenn es darin eine Methode gibt –, durch die es Ihnen möglich gewesen ist, meine Gedanken zu ergründen.«
»Es war der Fruchthändler«, erwiderte mein Freund, »der Sie zu der Ansicht brachte, daß der Schuhflicker nicht die nötige Größe habe, den Xerxes darzustellen et id genus omne.«
»Der Fruchthändler – was soll das heißen – ich kenne keinen Fruchthändler.«
»Der Mann, der gegen Sie anrannte, als wir in diese Straße kamen – etwa fünfzehn Minuten mag's her sein.«
Jetzt fiel mir ein, daß mich ein Fruchthändler, der einen großen Korb mit Äpfeln auf dem Kopfe trug, zufällig beinahe umgerannt hätte, als wir in diese Straße einlenkten. Aber was dies mit Chantilly zu tun hatte, konnte ich nicht begreifen.
Dupin, dem auch nicht ein Körnchen Ruhmredigkeit anklebte, sagte: »Ich will alles erklären, und damit Sie alles begreifen, wollen wir auf die Reihenfolge Ihrer Gedanken zurückgehen, von dem Augenblick an, als ich sprach, bis zu dem, als Sie mit dem bewußten Fruchthändler zusammenstießen. Die größeren Glieder der Kette hängen dermaßen aneinander: Chantilly, Orion, Epikur, Stereotomie, das Straßenpflaster, der Fruchthändler.«
Es gibt wenige Personen, die sich nicht hin und wieder damit amüsiert hätten, die Spuren zu verfolgen, auf denen sie zu den Ergebnissen ihres Nachdenkens gelangt sind. Diese Beschäftigung ist aufschlußreich. Wer sich zum ersten Mal darin versucht, ist über die Verschiedenheit des Ausgangs- und des Endpunktes sehr erstaunt. Wie groß war daher meine Verwunderung, als der Franzose die Gedankenreihe, die ich tatsächlich durchlaufen hatte, wiedergab. Er fuhr fort:
»Wir hatten von Pferden gesprochen, wenn ich mich recht entsinne. Das war unser letzter Gesprächsgegenstand. Als wir in die Rue C... einlenkten, kam ein Fruchthändler, der einen großen Korb auf dem Kopfe trug, an uns vorbei und stieß Sie auf einen Haufen Pflastersteine, die zum Ausbessern des Fußsteigs zurechtgelegt waren. Sie traten auf einen dieser glatten Bockel, rutschten davon herab, vertraten sich leicht den Knöchel, schienen darüber verstimmt oder verdrießlich, brummten etwas vor sich hin, wandten sich dann um, sahen den Haufen an und gingen schweigend weiter. Ich gab gerade nicht besonders acht auf das, was Sie taten; aber es macht sich bei mir seit langem schon ganz wie von selbst, daß ich alles beobachte.
Sie ließen Ihre Augen am Boden haften und betrachteten mit trotzigem Ausdruck die Löcher und Ritzen im Pflaster (woraus ich schloß, daß Sie noch an die Steine dachten), bis wir die kleine Querstraße erreichten, die den Namen Lamartine trägt und versuchsweise mit gerippten Steinen gepflastert ist. Hier erhellte sich Ihr Gesicht, und da ich bemerkte, daß sich Ihre Lippen bewegten, war ich überzeugt, daß Sie das Wort »Stereotomie« vor sich hinmurmelten, einen etwas gesuchten Ausdruck, mit dem man diese Art von Pflaster bezeichnet. Ich wußte, daß Sie nicht das Wort ›Stereotomie‹ aussprechen würden, ohne an Atome und infolgedessen an die Lehre des Epikur zu denken. Da ich, als wir vor kurzem diesen Gegenstand besprachen, darauf hingewiesen hatte, wie wunderbarerweise, obwohl man dessen noch sehr wenig Erwähnung getan hat, die Vermutungen dieses edeln Griechen durch die letzten Entdeckungen in der Nebular-Kosmogonie bestätigt wurden, war ich überzeugt, Sie würden jedenfalls Ihre Augen aufwärts zu den großen Nebula im Orion wenden, und erwartete das ganz entschieden. Sie blickten hinauf, und ich war nun sicher, daß ich Ihrer Spur richtig gefolgt war. Aber in dem Spottartikel über Chantilly, der gestern im ›Musée‹ stand, führte der satirische Rezensent bei Gelegenheit einer spöttischen Bemerkung darüber, daß der Schuhflicker, sobald er sich den Kothurn anschnalle, auch zugleich für nötig fand, seinen Namen zu verändern, einen lateinischen Vers an, über den wir manchmal schon miteinander sprachen. Ich meine die Zeile: Perdidit antiquum litera prima sonum. Ich hatte Ihnen gesagt, daß sich das auf den Orion beziehe, der früher Urion geschrieben wurde, und da diese Erklärung noch mit anderen hervorstechenden Einzelheiten verflochten war, dachte ich mir wohl, Sie würden sie nicht vergessen haben, und es war sicher, daß Sie Orion und Chantilly in Verbindung bringen würden. Daß Sie es taten, sah ich an dem Lächeln, das nun um Ihre Mundwinkel zuckte. Sie dachten an die moralische Vernichtung des armen Schuhflickers. Bis dahin hatten Sie sich in Ihrer Haltung ein wenig gehenlassen; jetzt aber beobachtete ich, wie Sie sich aufreckten. Nun war ich überzeugt, daß Sie über Chantillys kleine Figur nachdachten. An dieser Stelle unterbrach ich Ihren Gedankengang, um zu bemerken, daß, da dieser Chantilly wirklich ein sehr kleiner Kerl sei, er besser auf das Théâtre des Variétés passe!«
Nicht lange nach dieser Unterhaltung lasen wir in der Abendausgabe der »Gazette des Tribunaux«:
»Zwei Morde. – An diesem Morgen gegen drei Uhr wurden die Bewohner des Quartiers St. Roche durch fortgesetzte Schreckensrufe aus dem Schlaf gerissen, die anscheinend aus dem vierten Stock eines Hauses in der Rue Morgue kamen, der von einer Madame l'Espanaye und deren Tochter, Mademoiselle Camille l'Espanaye, bewohnt war. Nachdem man vergeblich versucht hatte, in die Wohnung einzudringen, wurde die Haustür mit einer Brechstange aufgebrochen, und acht oder zehn Nachbarn traten ein, von zwei Gendarmen begleitet. Zu dieser Zeit hatte das Schreien aufgehört; aber als die Leute den ersten Treppenabsatz hinaufeilten, hörten sie zwei oder mehr rauhe Stimmen, als ob sich einige zankten; die Stimmen schienen aus dem oberen Teile des Hauses zu kommen.
Als der zweite Stock erreicht war, hörte man nichts mehr. Alles war ruhig. Im vierten Stock konnten die Eingedrungenen nur mit Gewalt in ein großes Hinterzimmer gelangen; die Tür war von innen abgeschlossen und mußte aufgebrochen werden.
Der Raum bot ein wüstes Durcheinander. Die Möbel waren beschädigt und lagen herum. Nur eine Bettstelle stand darin; die Betten waren mitten auf den Fußboden geworfen. Auf einem Stuhl sah man ein blutbeflecktes Rasiermesser. Auf dem Herd lagen zwei oder drei lange und dicke Flechten von grauem Menschenhaar, ebenfalls mit Blut befleckt und mit den Wurzeln ausgerissen. Auf dem Boden fand man vier Napoleons, einen Ohrring aus Topas, drei große silberne Löffel, drei kleinere und zwei Beutel mit nahezu viertausend Francs in Gold. Die Schubfächer eines Schranks, der in einer Ecke stand, war offen und schienen durchsucht worden zu sein, obwohl noch mehrere Gegenstände darin waren. Eine kleine eiserne Geldkiste fand sich unter den Betten (nicht unter der Bettstelle) vor. Sie war offen; der Schlüssel steckte noch im Schloß. Es war nichts darin außer ein paar alten Briefen und anderen Papieren ohne Bedeutung.
Von Madame l'Espanaye war hier keine Spur zu sehen; aber da man auf dem Herde eine Menge von Ruß bemerkte, suchte man im Kamin nach, und (entsetzlich zu erzählen) man zog den Körper der Tochter, den Kopf zuunterst, daraus hervor, der durch die enge Öffnung ziemlich hoch hinaufgezwängt war. Der Körper war noch warm. Als man ihn untersuchte, entdeckte man viele Schrammen, die ohne Zweifel von der gewaltsamen Art herrührten, wie er hinaufgestoßen und wieder herausgezogen worden war. Im Gesicht waren mehrere große Wunden, am Halse blutunterlaufene Stellen und die tiefen Eindrücke von Fingernägeln zu sehen.
Nach einer genauen Durchsuchung des Hauses, wobei weiter nichts aufgefunden wurde, begab sich der Trupp in einen schmalen gepflasterten Hof hinter dem Haus; dort lag der Körper der alten Dame, deren Hals durchschnitten war, so daß beim Versuch, sie aufzuheben, der Kopf abfiel. Der Körper sowohl wie der Kopf waren furchtbar entstellt – der Körper so sehr, daß er kaum noch menschlich zu nennen war.
Über den Hergang und die Ursachen der grauenvollen Tat fehlen bis jetzt alle Hinweise.«
Am folgenden Tage brachte die Zeitung folgende Erläuterungen:
»Das Trauerspiel in der Rue Morgue. Mehrere Personen sind verhört; dennoch hat sich noch nichts ergeben, was die grauenvolle Bluttat aufklären könnte. Die Zeugen haben folgendes bekundet:
Pauline Dubourg, eine Wäscherin, sagt aus, daß sie die beiden Frauen seit drei Jahren gekannt habe. Die alte Dame und ihre Tochter schienen sich sehr gut miteinander zu stehen: sie waren sehr liebevoll gegeneinander. Sie bezahlten alles sofort. Die Zeugin glaubt, Madame l'Espanaye habe sich ihren Lebensunterhalt durch Kartenlegen erworben. Man hielt dafür, daß sie Geld liegen habe. Die Zeugin hat niemals fremde Personen im Hause angetroffen und weiß, daß beide Damen keinen Dienstboten hielten. Es schien im ganzen Hause weiter nichts möbliert zu sein als der vierte Stock.
Pierre Moreau, Tabakhändler, sagt aus, er habe seit etwa vier Jahren häufig kleine Mengen Schnupftabak an Madame l'Espanaye verkauft. Er ist in der Nachbarschaft geboren und hat immer hier gewohnt. Madame l'Espanaye und ihre Tochter bewohnten seit sechs Jahren das Haus. Früher wohnte ein Juwelier darin, der die oberen Zimmer abvermietete. Das Haus war Madame l'Espanayes Eigentum. Die alte Dame war schon etwas kindisch. Der Zeuge hat die Tochter im Laufe der sechs Jahre etwa fünf- oder sechsmal gesehen. Die beiden lebten sehr zurückgezogen; sie galten als vermögend. Der Zeuge hat die Nachbarn davon reden hören, daß Madame l'Espanaye wahrsage, hat es jedoch nicht geglaubt.
Viele Nachbarn bezeugten dasselbe. Man wußte von niemandem, der ins Haus kam. Es war nicht bekannt, daß Madame l'Espanaye und ihre Tochter Umgang hatten. Die Läden der Vorderfenster wurden selten geöffnet. Die Hinterläden waren immer geschlossen, mit Ausnahme des großen Hinterzimmers im vierten Stock. Das Haus war nicht sehr alt.
Isidore Musét, Gendarm, sagt aus, daß man ihn gegen drei Uhr morgens ins Haus gerufen habe und daß er etwa 30 bis 40 Personen vor der Haustür fand, die versuchten, hineinzukommen. Er brach sie auf, mit dem Bajonett, nicht mit einer Brechstange. Die Tür war weder oben noch unten verriegelt. Das Geschrei war zu hören, bis die Tür aufgebrochen war; dann hörte es plötzlich auf. Es schienen Notschreie zu sein; sie waren laut und langgezogen, nicht kurz und rasch. Der Zeuge war der erste, der hinaufeilte. Als er den ersten Stock erreichte, hörte er zwei Stimmen in lautem und heftigem Streite – die eine war eine grobe Stimme; die andere war mehr schrill, eine sehr sonderbare Stimme. Der Zeuge konnte einige Worte der groben Stimme unterscheiden; es müsse ein Franzose gewesen sein. Der Zeuge ist ganz sicher, daß es keine Frauenstimme war. Er konnte die Worte ›sacre‹ und ›diable‹ unterscheiden. Die schrille Stimme war die eines Fremden. Der Zeuge kann nicht bestimmen, ob es eine Männer- oder eine Frauenstimme war, auch nicht ausfindig machen, was für Worte es waren, glaubt aber, es sei Spanisch gewesen.
Henri Duval, ein Nachbar, von Beruf Silberarbeiter, bestätigt im allgemeinen Muséts Aussage. Sobald sie sich Einlaß verschafft hatten, schlossen sie die Tür wieder, um den Menschenhaufen abzuhalten, der sich trotz der späten Stunde eingefunden hatte. Die schrille Stimme, so glaubt der Zeuge, war die eines Italieners. Er ist gewiß, daß es nicht Französisch war. Er weiß nicht, ob es eine Männerstimme war. Er versteht kein Italienisch. Er konnte die Worte nicht unterscheiden; aber die Betonung schien ihm die eines Italieners zu sein. Er kannte Madame l'Espanaye und ihre Tochter; er hat oft mit beiden gesprochen. Er ist überzeugt, daß die schrille Stimme nicht von einer der beiden Frauen herrührte.
Odenheimer, Restaurateur: Dieser Zeuge hat sich freiwillig gemeldet. Da er kein Französisch spricht, wurde ein Dolmetscher hinzugezogen. Der Zeuge ist aus Amsterdam gebürtig. Er kam am Hause vorüber und hörte das Geschrei. Es dauerte etwa zehn Minuten. Es war laut und langgezogen, sehr grauenvoll und schreckenerregend. Der Zeuge ist gewiß, daß die schrille Stimme eine Männerstimme war, die eines Franzosen. Die einzelnen Worte konnte er nicht unterscheiden. Sie wurden laut und rasch hervorgestoßen, ungleich, anscheinend in Ärger und in Furcht. Die Stimme war barsch. Er konnte sie nicht eine schrille Stimme nennen. Die rauhe Stimme sagte mehrmals ›sacre‹, ›diable‹ und einmal ›mon Dieu‹.
Jules Mignaud, Bankier, Inhaber der Firma Mignaud & Fils, Rue Deloraine: Madame l'Espanaye war nicht arm. Vor acht Jahren hat sie ihm ihre Geschäfte anvertraut. Sie überbrachte ihm oftmals kleine Sparbeträge. Drei Tage vor ihrem Tode ließ sie sich ein Kapital von 4000 Francs in Gold auszahlen, die ihr ein Angestellter ins Haus brachte.
Adolphe le Bon, Angestellter bei Mignaud & Fils, sagt aus, daß er an jenem Tage gegen Mittag Madame l'Espanaye mit den 4000 Francs, die in zwei Beuteln enthalten waren, nach Hause begleitet habe. Als die Tür geöffnet wurde, erschien Mademoiselle l'Espanaye und nahm ihm einen Beutel aus der Hand, während die alte Dame den anderen trug. Der Zeuge empfahl sich darauf. Er sah niemand in der Straße. Es ist eine sehr stille Nebenstraße.
William Bird, Schneider, sagt aus, er sei einer von denen, die ins Haus eingedrungen waren. Er ist Engländer, lebt seit zwei Jahren in Paris. Er hörte die streitenden Stimmen. Die grobe Stimme war die eines Franzosen. Der Zeuge hörte deutlich ›sacre‹ und ›mon Dieu‹. Zugleich machte sich ein Geräusch bemerkbar, als ob sich Personen balgten, ein scharrendes, kratzendes Geräusch. Die schrille Stimme war sehr laut, lauter als die grobe. Der Zeuge weiß genau, daß es nicht die Stimme eines Engländers war. Es schien die eines Deutschen zu sein. Es konnte auch eine Frauenstimme sein. Der Zeuge versteht kein Deutsch.
Vier der vorgenannten Zeugen wurden nochmals vorgerufen und bekundeten, daß die Tür des Zimmers, in dem der Körper der Mademoiselle l'Espanaye gefunden wurde, von innen zugeschlossen war, als der Trupp dorthin kam. Alles war still; weder Wimmern noch ein Geräusch irgendeiner Art war zu hören. Als man die Tür aufbrach, war niemand zu sehen. Die Fenster sowohl des Hinter- wie des Vorderzimmers waren geschlossen, aber nicht verriegelt. Die Tür, die vom Vorderzimmer auf den Gang führte, war zu; der Schlüssel steckte von innen im Schloß. Ein kleines Zimmer vorn im Haus, im vierten Stock, am Ende des Ganges, war offen, mit angelehnter Tür. In diesem Zimmer waren Betten, alte Kisten usw. angehäuft. Das alles wurde sorgfältig fortgeräumt und untersucht. Kein Zoll im ganzen Hause blieb undurchforscht. Aufwärts und abwärts in den Kaminen wurde mit langen Besen nachgesucht. Das Haus ist vierstöckig und hat Mansardenräume. Eine Falltür auf dem Dach war fest zugenagelt und schien seit Jahren nicht geöffnet worden zu sein. Die Zeit, die verging, seit man die zankenden Stimmen gehört hatte, bis zum Aufbrechen der Zimmertür wurde von den Zeugen verschieden angegeben. Einige behaupteten, es seien drei, andere, es seien wenigstens fünf Minuten gewesen. Die Tür wurde ohne Schwierigkeit geöffnet.
Alfonso Carcio, Totengräber, sagt aus, daß er in der Rue Morgue wohne. Er ist aus Spanien gebürtig und gehörte zu dem Trupp, der ins Haus eindrang. Er ging aber nicht mit die Treppe hinauf. Er ist kränklich und fürchtete die Folgen der Aufregung. Er hörte die zankenden Stimmen. Die grobe Stimme war die eines Franzosen. Der Zeuge konnte nicht unterscheiden, was gesagt wurde. Die schrille Stimme war die eines Engländers; das scheint ihm sicher zu sein. Er versteht zwar kein Englisch; aber er urteilt nach dem Tonfall.
Mehrere Zeugen, die nochmals aufgerufen wurden, bezeugten, daß sämtliche Schornsteine der Gemächer im vierten Stock so eng seien, daß kein Mensch hindurchkönne. Es ist kein hinterer Gang vorhanden, auf dem jemand heruntergekommen sein könnte, während die Nachbarn die Treppe hinaufeilten. Mademoiselle l'Espanayes Körper war so fest in den Rauchfang eingeklemmt, daß er erst durch die vereinten Kräfte von drei oder vier Personen herausgezogen werden konnte.
Paul Dumas, ein Arzt, sagt aus, daß er gerufen worden sei, um die Leichname zu besichtigen. Sie lagen damals beide auf der Matratze im Zimmer, wo man Mademoiselle l'Espanaye auffand. Der Körper des jungen Mädchens war sehr gequetscht und geschunden. Der Umstand, daß er in den Kamin gestopft worden war, genügt, die Verletzungen zu erklären. Die Gurgel war sehr zusammengepreßt. Gerade unter dem Kinn waren mehrere tiefe Schrammen und überdies blaue Flecken, die augenscheinlich vom Fingerdruck herrührten. Das Gesicht war bleich; die Augäpfel waren hervorgequollen. Die Zunge war halb durchbissen. Eine breite Quetschung fand sich auf der Magengegend vor, die allem Anschein nach durch den Druck eines Knies verursacht war. Nach Ansicht des Zeugen ist Mademoiselle l'Espanaye erwürgt worden. Der Körper der Mutter war entsetzlich verstümmelt. Sämtliche Knochen des rechten Schenkels und des rechten Arms waren zerschmettert. Der Kopf der Toten war, als der Zeuge sie beschaute, ganz vom Leibe abgetrennt und ebenfalls zerschmettert.
Alexandre Etienne, Chirurg, wurde von Herrn Dumas zugezogen, die Leichen zu besichtigen. Er bestätigt die Angaben des Herrn Dumas.
Weiter wurde nichts von Wichtigkeit vorgebracht. Noch niemals ist in Paris ein ähnlicher geheimnisvoller, in allen Nebenumständen so unerklärlicher Mord vorgekommen, wenn es wirklich ein Mord ist. Die Polizei weiß keinen Ausweg. Sie tappt völlig im dunkeln.«
Die Abendausgabe der Zeitung brachte die Nachricht, daß immer noch im ganzen Quartier St. Roche die größte Aufregung herrsche, daß das Haus aufs neue sorgfältig durchsucht worden sei, daß man die Zeugen nochmals vernommen habe, aber alles sei ohne Erfolg gewesen. Indes war hinzugefügt, daß Adolphe le Bon verhaftet und ins Gefängnis abgeführt worden sei.
Dupin schien an der Angelegenheit ein besonderes Interesse zu nehmen. Nachdem bekanntgeworden war, daß man le Bon festgesetzt hatte, fragte er mich um meine Meinung.
Ich konnte nur mit ganz Paris darin übereinstimmen, daß der Fall als ein unauflösbares Rätsel zu betrachten sei. Ich sah kein Mittel, des Mörders Spur zu entdecken.
»Wir müssen die Mittel nicht nach dieser oberflächlichen Zeugenvernehmung beurteilen«, sagte Dupin. »Die Pariser Polizei, deren Scharfsinn man so oft ausposaunt hat, ist listig, weiter nichts. Sie beobachtet bei ihrem Verfahren keine Methode außer der, die ihr der Augenblick eingibt. Sie trägt betriebsam Einzelheiten zusammen; aber diese entsprechen oft dem Zweck, den man erreichen will, sehr wenig. Die Resultate, zu denen diese Leute gelangen, sind nicht selten überraschend; aber sie werden meist nur durch Rührigkeit erreicht. Wo diese Eigenschaft nicht ausreicht, da bleiben sie stecken.
Was diese Mordtaten anbetrifft, so wollen wir einmal ganz für uns einige Beobachtungen anstellen, ehe wir uns ein Urteil bilden. Ein näheres Eingehen wird uns Unterhaltung gewähren. Überdies hat mir Le Bon einst einen Dienst erwiesen, und ich bin nicht undankbar. Lassen Sie uns hingehen und das Haus mit eigenen Augen ansehen. Ich kenne den Polizeipräfekten G..., und es wird mir keine Schwierigkeiten machen, von ihm die Erlaubnis zu erhalten.«
Die Erlaubnis wurde uns erteilt, und wir gingen in die Rue Morgue, eine jener elenden Quergassen zwischen der Rue Richelieu und der Rue St. Roche.
Wir kamen spät am Nachmittag hin. Das Haus fanden wir bald, da es immer noch Neugierige umstanden, die sich aufmerksam seine geschlossenen Fensterläden betrachteten. Es war ein gewöhnliches Haus mit einem Torweg und der Pförtnerloge an der Seite. Ehe wir eintraten, gingen wir die Straße hinauf, lenkten in eine Nebengasse ein und befanden uns dann der Rückseite des Hauses gegenüber.
Dupin betrachtete das Gebäude und die anliegenden Grundstücke mit sorgsamer Aufmerksamkeit, deren Grund ich nicht einsah.
Wir kehrten wieder um, kamen an die Vorderseite des Hauses und wurden, nachdem wir unsere Vollmacht vorgezeigt hatten, von den beauftragten Beamten eingelassen. Wir gingen die Stiegen hinauf – in die Stube, wo die Leiche der Mademoiselle l'Espanaye aufgefunden worden war und die beiden Toten noch lagen. Dupin untersuchte alles genau, die Körper der armen Opfer nicht ausgenommen. Wir gingen dann in die anderen Zimmer und in den Hof. Diese Untersuchung beschäftigte uns bis zur Dunkelheit; dann zogen wir wieder ab. Beim Nachhausegehen trat mein Gefährte einen Augenblick in die Expedition einer Tageszeitung ein.
Ich habe schon gesagt, daß mein Freund Sonderbarkeiten an sich hatte. Diesmal bestand seine Grille darin, jedes Gespräch über die Mordtaten abzulehnen. Das dauerte bis zu den Mittagsstunden des folgenden Tages. Dann fragte er mich plötzlich, ob mir irgend etwas Besonderes auf dem Schauplatz dieser Greuel aufgefallen sei.
In der Art, wie er das Wort »Besonderes« aussprach, lag etwas, das mich, ohne daß ich wußte warum, schaudern machte.
»Nein, nichts Besonderes«, entgegnete ich, »wenigstens nichts weiter, als was wir beide in der Zeitung angeführt fanden.«
»Die Gazette«, erwiderte er, »hat, wie ich befürchte, das ungewöhnlich Grauenhafte der Sache nicht genug betont. Mir scheint, man hält dieses Rätsel gerade aus einem Grund für unlösbar, der am ehesten zur Enträtselung führen sollte – ich meine das, was uns beim Betrachten des ganzen Vorfalls als ›outré‹ auffällt. Die Polizei kann sich nicht in die vollständige Abwesenheit des Motivs finden. Außerdem ist sie durch die anscheinende Unmöglichkeit irre gemacht, die zankenden Stimmen, die man gehört hat, mit dem Umstande in Einklang zu bringen, daß man nachher oben niemanden weiter fand als die ermordete Mademoiselle l'Espanaye und es auch kein Mittel gab zu entkommen, ohne von den Menschen, die die Treppe hinaufeilten, gesehen zu werden. Die greuliche Unordnung im Zimmer, der in den Schornstein gestopfte Körper, die scheußliche Verstümmelung des Leichnams der alten Dame, diese Tatsachen genügten, die Kräfte der Polizeibeamten zu lähmen. Sie haben den großen, aber häufigen Irrtum begangen, das Außergewöhnliche mit dem Abstrusen zu verwechseln. In dergleichen Fällen sollte man nicht fragen: › Was ist geschehen?‹ als vielmehr: ›Ist etwas Außergewöhnliches geschehen?‹ Auf diese Weise bin ich leicht dazu gelangt, dieses Rätsel zu lösen, das in den Augen der Pariser Polizei so unlösbar erschien.«
Ich starrte Dupin in schweigender Verwunderung an.
»Ich erwarte jetzt«, fuhr er gegen die Zimmertür gewendet fort, »eine Person, die, wenngleich unschuldig an diesen Metzeleien, doch gewissermaßen bei ihrer Verübung beteiligt sein muß; dann ist die letzte Spur von Ungewißheit beseitigt. Ich lauere auf diesen Mann hier in dieser Stube. Jeden Augenblick kann er kommen. Es ist wohl möglich, daß er nicht kommt; aber es ist wahrscheinlich, daß er sich einstellt. Sollte er kommen, so wird es nötig sein, ihn festzuhalten. Hier sind Pistolen, und wir wissen ja beide, wie wir damit umzugehen haben, wenn wir sie gebrauchen müßten.«
Ich nahm die Pistolen, obwohl ich kaum wußte, was ich tat oder hörte, während Dupin wie im Selbstgespräch fortfuhr. Ich habe schon davon gesprochen, wie wunderbar und selbstvergessen er sich in solchen Augenblicken benahm. Seine Rede galt mir; aber seine Stimme hatte, obwohl sie durchaus nicht laut war, die Betonung, wie man sie anwendet, wenn man mit jemandem spricht, der etwas weiter weg ist. Seine Augen starrten ohne besonderen Ausdruck auf die Wand.
»Daß die zankenden Stimmen«, führte er aus, »die der Trupp auf der Stiege vernahm, nicht die Stimmen der Frauen selbst waren, wurde durch die Zeugen eindeutig bewiesen. Dies befreit uns von jedem Zweifel, ob etwa die alte Dame erst ihre Tochter und dann sich selbst gemordet hat. Dieses Punktes erwähne ich nur des methodischen Verfahrens halber, denn die Kraft der Madame l'Espanaye würde sicherlich nicht hingereicht haben, den Körper ihrer Tochter so in den Kamin hineinzuzwängen, wie man ihn auffand, und die Beschaffenheit der Wunden an ihrer eigenen Person schließt Selbstmord aus. Der Mord ist also von einer dritten Person verübt, und die Stimme dieser dritten Person hat man in heftigem Streite begriffen vernommen. Jetzt will ich hervorheben, was diesen Aussagen eigentümlich war. Bemerkten Sie irgend etwas Besonderes darin?«
»Ich bemerkte, daß, während alle Zeugen darin übereinkamen, die grobe Stimme sei die eines Franzosen gewesen, sie doch sämtlich hinsichtlich der ›schrillen‹ Stimme uneinig waren.«
»Das war die Zeugenaussage selbst«, sagte Dupin, »aber es war nicht das Eigentümliche dabei. Sie haben nichts Auffallendes bemerkt, nicht wahr? Dennoch war etwas dabei zu bemerken. Wegen der schrillen Stimme ist das Eigentümliche nicht, daß die Zeugen voneinander abweichen, sondern daß alle, die sie für die Stimme eines Italieners, eines Engländers, eines Spaniers, eines Deutschen oder eines Franzosen darzustellen suchten, darin einig waren, daß sie die Stimme eines Fremden gewesen sei. Jeder behauptet entschieden, sie sei nicht die Stimme eines seiner Landsleute gewesen. Jeder vergleicht sie nicht mit der Stimme eines Landsmanns, sondern der Franzose hält sie für die Stimme eines Spaniers und ›hätte wohl einige Worte unterscheiden können, wenn er Spanisch verstände‹. Der Holländer bleibt dabei, es sei die eines Franzosen gewesen; aber wir finden angegeben, daß dieser Zeuge, da er kein Französisch verstand, mit einem Dolmetscher vernommen wurde. Der Engländer hält sie für die Stimme eines Deutschen und ›versteht kein Deutsch‹. Der Spanier ›ist gewiß‹, daß es die eines Engländers war, urteilt jedoch nur nach der Betonung, ›da er nicht Englisch spricht‹.
Wir haben gesehen«, spann Dupin seine Gedanken weiter aus, »wie verschieden die Zeugen über die ›schrille‹ Stimme geurteilt haben. Wie sonderbar fremdartig muß diese Stimme in Wirklichkeit gewesen sein, in deren Lauten Mitglieder der fünf Hauptnationen Europas nichts Bekanntes wiedererkennen konnten! Sie werden entgegnen, es könne die Stimme eines Asiaten, eines Afrikaners gewesen sein. Es gibt hier in Paris weder viele Asiaten noch viele Afrikaner. Ohne diesen Einwurf abzuleugnen, will ich Ihre Aufmerksamkeit auf drei Punkte hinlenken. Ein Zeuge bezeichnet die Stimme als mehr ›barsch‹ denn ›schrill‹. Zwei andere bezeichnen sie als ›schnell und ungleich‹. Keine Worte, keine wortähnlichen Töne konnten die Zeugen ihrer Aussage nach unterscheiden.
Ich weiß nicht«, sprach Dupin weiter, »welchen Eindruck ich bisher auf Ihren Geist gemacht habe; aber ich wage zu behaupten, daß wohlberechtigte Folgerungen, die selbst aus diesem Teil der Zeugenaussagen zu ziehen sind – dem Teil, der die grobe und die schrille Stimme betrifft –, an und für sich hinreichen, einen Verdacht zu erwecken, der allen weiteren Schritten beim Erforschen des Rätsels die Richtung weisen könnte. Ich wenigstens habe auf diesem Grunde weiter gebaut; doch will ich jetzt noch nicht sagen, welcher Art dieser Verdacht ist. Ich wünsche nur, Sie möchten im Sinne behalten, daß er für mich so zwingend war, daß ich bei meinen Nachforschungen im Zimmer systematisch auf ein bestimmtes Ziel losging. Wir wollen uns jetzt in Gedanken in dieses Zimmer versetzen. Was wollen wir da zuerst suchen? Die Mittel, mit denen etwa der Mörder herausgekommen sein könnte. Wir brauchen wohl nicht erst anzuführen, daß wir beide an übernatürliche Dinge nicht glauben. Madame und Mademoiselle l'Espanaye sind nicht durch Geisterhand umgebracht worden. Die Täter waren sehr körperlicher Natur und entwischten körperlich. Wie aber? Wir wollen alle Möglichkeiten des Entkommens prüfen. Es ist klar, daß sich die Mörder, als jener Trupp die Treppe hinaufeilte, in dem Zimmer aufhielten, in dem man die Leiche der Tochter fand, oder doch wenigstens im Nebenzimmer. In diesen beiden Zimmern können wir also nach Ausgängen suchen. Die Polizei hat den Fußboden, die Decke, das Mauerwerk der Wände bloßgelegt. Kein geheimer Ausgang hätte ihrem Scharfblick entgehen können. Da ich ihren Augen nicht traute, prüfte ich mit meinen eigenen. Freilich, geheime Ausgänge waren nicht vorhanden. Beide Türen, die aus den Zimmern auf den Gang führten, waren zugeschlossen. Sehen wir uns die Kamine an! Diese haben zwar dicht über dem Herde die gewöhnliche Weite von acht oder zehn Fuß; aber sie verengen sich bald so, daß nicht einmal eine große Katze durchkönnte. Da man also durch die Ausgänge unmöglich entkommen konnte, wollen wir dazu übergehen, die Fenster zu prüfen. Durch die des Vorderzimmers hätte niemand hinausgekonnt, ohne von dem Volkshaufen in der Straße bemerkt zu werden. Daher müssen die Mörder durch die des Hinterzimmers, entflohen sein.
Da wir nun auf so überzeugende Weise zu dieser Einsicht gelangt sind, steht es uns, als denkenden Wesen, nicht an, ihn wegen anscheinender Unmöglichkeit zu verwerfen. Es bleibt uns nur noch übrig zu beweisen, daß eben diese scheinbaren ›Unmöglichkeiten‹ in Wirklichkeit keine sind.
Es sind zwei Fenster im Zimmer. Eins ist nicht durch Möbel verstellt und vollständig sichtbar. Der untere Teil des anderen wird dem Blick durch das Kopfende der großen Bettstelle, die dicht daran stößt, entzogen. Das erste Fenster fand man von innen fest verschlossen. Es widerstand dem äußersten Kraftaufwand derer, die es in die Höhe zu bringen versuchten. Zur Linken war ein großes Bohrloch in dem Rahmen angebracht worden, und man fand einen sehr dicken Nagel bis zum Kopf hineingeschlagen. Beim Untersuchen des anderen Fensters fand man einen ähnlichen Nagel auf gleiche Weise darin befestigt, und ein kräftiger Versuch, dieses Schiebefenster hochzuziehen, gelang ebensowenig. Nun war die Polizei vollständig darüber beruhigt, daß die Mörder in dieser Richtung nicht hinausgekommen sein könnten. Und daher würde man es für eine Übertreibung des Pflichteifers gehalten haben, hätte man die Nägel herausziehen und die Fenster öffnen wollen.
Meine eigene Untersuchung ging ein wenig mehr ins einzelne, und zwar aus dem eben angegebenen Grunde – weil hier der Punkt war, an dem sich alle scheinbaren Unmöglichkeiten in Wirklichkeit gar nicht als so unmöglich erweisen mußten.
Ich schloß: Die Mörder entsprangen jedenfalls aus einem dieser Fenster. Dieses angenommen, konnten sie die Schieber nicht so von innen wieder festgemacht haben, wie man sie befestigt fand. Dennoch waren die Schieber befestigt. Sie mußten also imstande sein, sich von selbst wieder zu schließen; daran war nicht zu zweifeln. Ich trat ans nicht verstellte Fenster, zog den Nagel heraus, was einige Schwierigkeit verursachte, und versuchte das Schiebefenster aufzuziehen. Es widerstand, wie ich vorausgesehen hatte, allen meinen Anstrengungen. Es mußte daher, wie ich einsah, eine verborgene Feder vorhanden sein, wenngleich das das Unerklärliche hinsichtlich der Nägel noch nicht aufhob. Bei einem sorgfältigen Untersuchen entdeckte ich die verborgene Feder alsbald. Ich drückte sie, und da mich diese Entdeckung zufriedenstellte, versuchte ich weiter nicht, das Fenster heraufzuschieben.
Jetzt schlug ich den Nagel wieder ein und betrachtete ihn aufmerksam. Wenn eine Person aus diesem Fenster heraussprang und es wieder zuschlug, konnte die Feder wieder einschnappen; aber der Nagel konnte nicht wieder festgemacht werden. Nun lag also der Schluß nahe, daß die Mörder durch das andere Fenster entsprungen sein mußten. Nahm man also an, daß nun wahrscheinlich die Federn an jedem Schieber die gleichen waren, so mußte ein Unterschied zwischen den Nägeln oder der Art ihrer Befestigung bestehen. Ich stieg auf die Matratze der Bettstelle und besah mir über das Kopfende genau das zweite Fenster. Ich reichte mit der Hand über das Bord hinunter und fand gar bald die Feder und drückte darauf; sie war, wie ich vorausgesehen hatte, die gleiche wie die am anderen Fenster. Jetzt sah ich nach dem Nagel. Er war ebenso dick wie der andere und anscheinend ebenso befestigt – fast bis zum Kopfe hineingetrieben.
Sie glauben vielleicht, nun wäre ich geschlagen gewesen; aber keineswegs; bis jetzt hatten sich alle meine Voraussetzungen bestätigt. Ich hatte das Geheimnis bis zu seinem letzten Ergebnis ergründet, und dieses Ergebnis war der Nagel. Obgleich er genau wie der andere aussah, sagte ich mir doch: ›Es muß etwas mit dem Nagel nicht richtig sein.‹ Ich faßte ihn an, und der Kopf mit etwa einem Viertelzoll vom Stiel blieb mir in den Fingern sitzen. Das übrige vom Stiel steckte im Bohrloche, in dem er zerbrochen war. Der Bruch war schon alt (denn die Ränder waren verrostet) und war offenbar dadurch entstanden, daß man mit einem Hammer auf den Nagel geschlagen hatte, wodurch auch dessen Kopf teilweise tief in den oberen Rahmen des Fensters eingetrieben worden war. Ich legte nun sorgfältig dieses Kopfstück des Nagels wieder in die Stelle, von wo ich ihn genommen hatte, und siehe da, der Eindruck eines vollständigen, unzerbrochenen Nagels, dessen Sprung man ja nicht sah, war wieder hergestellt. Nun drückte ich die Feder und hob den Schieber einige Zoll in die Höhe; der Kopf des Nagels blieb ruhig an Ort und Stelle sitzen. Ich schloß das Fenster, und er sah wieder aus wie ein ganzer Nagel.
So weit war das Rätsel gelöst. Der Mörder war durch das Fenster an der Bettstelle entsprungen. Nachdem er heraus war, fiel das Fenster entweder von selbst zu oder wurde vielleicht auch zugeworfen und durch die Feder, die einschnappte, befestigt; und dieses Festhalten der Feder wurde von der Polizei irrtümlicherweise für das des Nagels gehalten – und so stand man von weiteren Nachforschungen ab.
Nun fragt man sich zunächst nach der Art und Weise des Herabkommens. Über diesen Punkt hatte mich unser gemeinsamer Gang rund ums Gebäude aufgeklärt. Etwa 5½ Fuß von dem bewußten Fenster läuft ein Gasrohr. Von diesem Rohr aus würde es für jedermann unmöglich gewesen sein, das Fenster selbst zu erreichen, geschweige hineinzusteigen. Ich bemerkte indes, daß die Läden des vierten Stocks von jener besonderen Art waren, welche die Pariser Tischler ›ferrades‹ nennen. In unserem Falle sind diese Fensterläden volle 3½ Fuß breit. Als wir sie von der Rückseite des Hauses aus betrachteten, waren sie beide halb offen, das heißt, sie standen im rechten Winkel von der Mauer ab. Es ist wahrscheinlich, daß die Polizeibeamten, so gut wie ich, die Rückseite des Gebäudes prüften; aber da sie diese Ferrades (wie es nicht anders sein konnte) im spitzen Winkel vor sich sahen, bemerkten sie deren große Breite nicht. Sie waren nun einmal ganz gewiß darüber, daß hier keiner entsprungen sein könne, und daher untersuchten sie nur sehr oberflächlich. Mir war es klar, daß der zum Fenster am Kopfende des Bettes gehörige Laden, wenn man ihn vollständig gegen die Mauer zurückwirft, bis gegen zwei Fuß dem Gasrohr nahekommen muß. Es war ebenso klar, daß man sich mit außergewöhnlichem Mut und Behendigkeit von dem Rohr aus Einlaß ins Fenster verschaffen konnte. Wenn auf diese Weise die Entfernung nur 2½ Fuß betrug, konnte jemand das Gitterwerk fest ergreifen. Ließ er dann das Rohr los, stemmte seine Füße fest gegen die Mauer und sprang kühn darauf zu, dann konnte er den Laden so bewegen, daß er sich schloß, und sich selbst, war das Fenster offen, ins Zimmer hineinschwingen.
Ich möchte nun, Sie erinnerten sich, was ich von einem sehr ungewöhnlichen Grad von Behendigkeit gesagt habe, als unumgänglich notwendig für die erfolgreiche Ausführung eines so gewagten und schwierigen Unternehmens. Ich will Ihnen zuerst zeigen, daß die Sache möglicherweise geschehen sein kann; doch zweitens möchte ich darauf hinweisen, wie außerordentlich, wie beinahe übernatürlich die Behendigkeit gewesen sein mußte, die so etwas ausführen konnte. Legen Sie sich folgende beiden Punkte nebeneinander zurecht: die außergewöhnliche Behendigkeit, die ich erwähnte, und die eigentümlich schrille oder barsche und ungleiche Stimme, über deren Nationalität nicht zwei Personen einig werden konnten und in deren Lauten man keine einzelnen Silben unterscheiden konnte.«
Bei diesen Worten fuhr mir eine unbestimmte, erst halbfertige Idee durch den Sinn, was Dupin wohl meinen könnte. Ich war, so schien es, nahe daran, ihn zu verstehen, konnte jedoch nicht zur Klarheit gelangen, so wie manchmal ein Mensch nahe daran ist, sich zu entsinnen, und zuletzt doch nicht imstande ist, seine Erinnerung festzuhalten. Mein Freund fuhr fort:
»Lassen Sie uns jetzt zum Innern der Zimmer übergehen. Man sagt, aus dem Schrank sei etwas gestohlen worden, obwohl noch viele Gegenstände von Wert darin blieben. Das ist ein falscher Schluß.
Madame l'Espanaye«, erklärte Dupin weiter, »und ihre Tochter lebten sehr zurückgezogen, sahen nie Gesellschaft bei sich, gingen selten aus, hatten daher wenig Gelegenheit, sich vieler Kleidungsstücke zu bedienen. Die vorgefundenen waren wenigstens ganz so, daß man voraussetzen durfte, die Damen hätten sie sich angeschafft. Wenn ein Dieb einzelne gestohlen hätte, warum nahm er nicht die besten, warum nahm er nicht alle? Mit einem Worte, warum ließ er 4000 Francs in Gold zurück, um sich mit einem Bündel Wäsche zu beladen? Das Gold blieb aber liegen. Fast die ganze vom Bankier Mignaud angegebene Summe wurde in den Beuteln auf dem Fußboden vorgefunden. Denken Sie deshalb gar nicht weiter an die irrtümliche Idee vom Motiv, auf die sich die Polizei nun einmal versteift, infolge jenes Zeugenbeweises, der von dem Gelde redet, das vor der Haustür abgeliefert wurde. Solche Zufälle wie dieser (daß Geld abgeliefert wird und drei Tage darauf die Empfänger ermordet werden) kommen alle Tage und zehnfach merkwürdiger vor, ohne uns auch nur einen Augenblick in Erstaunen zu setzen. Im vorliegenden Fall würde, wenn das Gold verschwunden gewesen wäre, die Tatsache, daß es drei Tage zuvor abgeliefert wurde, etwas mehr als ein Zufall gewesen sein. Es wäre eine Bestätigung dieser Idee vom Motiv gewesen. Aber gegenüber den wirklichen Umständen in der Sache müssen wir, wenn wir das Gold für das Motiv der gräßlichen Tat halten, auch zugleich annehmen, daß der Mörder ein solcher Einfaltspinsel war, daß es ihm möglich war, sein Gold und sein Motiv zu gleicher Zeit aufzugeben.
Nun lassen Sie uns die Punkte, auf die ich Sie aufmerksam gemacht habe, fest im Sinne behalten – diese eigentümliche Stimme, diese ungewöhnliche Geschicklichkeit und diese seltsame Abwesenheit jedes Motivs in einem so sonderbar gräßlichen Mord wie dem vorliegenden – und lassen Sie uns die Metzelei an und für sich betrachten! Hier sehen wir eine Frau, die mit bloßen Händen zu Tode gewürgt ist und dann in einen Rauchfang gestopft wird, den Kopf zuunterst. Gewöhnliche Mörder morden nicht in dieser Weise. Am wenigsten verfahren sie derart mit den Leichen. Sie müssen eingestehen, daß in der Art, wie der Körper in den Kamin gezwängt worden ist, etwas liegt, das wir Franzosen mit excessivement outré bezeichnen, etwas, das, ich möchte sagen, unvereinbar mit unseren gewöhnlichen Ideen von menschlicher Handlungsweise ist, selbst wenn der Täter einer der entartetsten Menschen war. Bedenken Sie außerdem, wie groß die Kraft gewesen sein muß, die imstande war, die Leiche in einer solchen Öffnung so gewaltsam hinaufzustoßen, daß die vereinten Kräfte mehrerer Personen kaum ausreichten, sie herabzuziehen!
Wenden Sie sich jetzt zu anderen Anzeichen einer gar wunderbaren Kraft! Auf dem Herde lagen dicke Flechten – sehr dicke Flechten – von grauem Menschenhaar. Diese waren mit den Wurzeln ausgerissen. Sie werden wissen, welche Gewalt dazu gehört, selbst zwanzig oder dreißig Haare auf einmal auszureißen. Sie sahen ja so gut wie ich diese Zöpfe. Ihre Wurzeln (ein scheußlicher Anblick!) waren durch Stücke der Kopfhaut noch zusammengeklebt – das ist ein sicheres Zeichen der erstaunlichen Gewalt, durch die viele hundert Haare auf einmal mit der Wurzel herausgezogen wurden. Die Gurgel der alten Dame war nicht bloß durchschnitten, sondern der Kopf fast ganz vom Körper abgetrennt; das Instrument war nur ein Rasiermesser. Betrachten Sie einmal, möchte ich Sie bitten, die brutale Wildheit dieses Verfahrens! Von den Verletzungen am Körper der Madame l'Espanaye will ich gar nicht sprechen. Monsieur Dumas und sein würdiger Gehilfe Monsieur Etienne haben sich dahin ausgesprochen, daß sie von irgendeinem stumpfen Instrument herrühren; und darin haben diese Herren recht. Das stumpfe Instrument war jedenfalls das Steinpflaster im Hofe, auf das das Opfer aus dem Fenster am Bette hinabgefallen ist. Dieser Gedanke, so einfach er jetzt auch erscheint, kam der Polizei nicht, aus demselben Grund, weshalb ihr die Breite der Fensterladen entging – weil nämlich durch das Vorhandensein der Nägel ihre Vorstellung von der Möglichkeit, daß die Fenster überhaupt jemals geöffnet wurden, abgewendet war.
Wenn Sie nun im Verein mit allen diesen Dingen über die seltsame Unordnung in der Stube gehörig nachdenken wollen, sind wir so weit gekommen, folgende Begriffe zu verbinden: eine erstaunliche Behendigkeit und Geschicklichkeit, eine übermenschliche Stärke, eine brutale Wildheit, eine Metzelei ohne Motiv, eine Groteskerie der Greuel, die der menschlichen Anschauung ganz fremd ist, und eine Stimme, die den Ohren von Leuten mehrerer Nationen fremd klingt und jedes deutlichen und verständlichen Silbenfalls entbehrt. Welches Ergebnis folgt daraus? Welchen Eindruck habe ich auf Ihre Phantasie hervorgerufen?« Mich schauerte, als mich Dupin fragte. »Ein Wahnsinniger«, antwortete ich, »ist der Täter, ein Rasender, ein Toller, der aus einer benachbarten Maison de Santé entsprungen ist.
»In mancher Beziehung«, meinte Dupin, »ist Ihre Idee nicht übel. Aber die Stimmen der Wahnsinnigen gleichen auch in ihren wildesten Abarten nicht der Stimme, die man auf der Treppe gehört hat. Wahnsinnige gehören doch immer einer Nation an, und wenn bei ihrem Sprechen auch die Worte nicht zusammenhängen, so unterscheidet man doch immer zusammenhängende Silben. Überdies haben Wahnsinnige nicht solche Haare, wie ich hier in der Hand halte. Ich löste diesen kleinen Busch aus den ganz fest zusammengekrampften Fingern der Madame l'Espanaye. Nun sagen Sie mir, was Sie daraus machen können?«
»Dupin!« sagte ich in größter Aufregung, »das Haar ist sehr sonderbar – das ist kein Menschenhaar.«
»Das habe ich auch nicht behauptet«, erwiderte er; »aber ehe wir diesen Punkt entscheiden, möchte ich, Sie besehen sich einmal meine kleine Skizze hier auf dem Papier. Es ist eine genau gezeichnete Wiedergabe der ›dunklen Stellen und tiefen Eindrücke von Fingernägeln‹ am Halse der Mademoiselle l'Espanaye.
Sie sehen«, fuhr mein Freund fort, indem er das Papier auf dem Tische vor uns ausbreitete, »daß diese Zeichnung den Gedanken an einen festen und sicheren Griff hervorruft. Da ist kein Abgleiten zu sehen. Jeder Finger hat, wahrscheinlich bis zum Tode des Schlachtopfers, den entsetzlichen Griff festgehalten, mit dem er sich gleich anfangs eingrub. Nun versuchen Sie einmal, zu gleicher Zeit alle Ihre Finger auf die Eindrücke, wie sie hier vorgezeichnet sind, zu setzen.«
Ich versuchte es vergeblich.
»Vielleicht ist unser Versuch nicht ganz genau«, sagte er. »Das Papier liegt auf einer ebenen Fläche; aber der menschliche Hals hat die Form eines Zylinders. Hier ist eine Holzrolle, die etwa den Durchmesser einer Gurgel hat. Winden Sie das Papier darum und versuchen Sie es nochmals damit!«
Ich tat es; aber es ging jetzt noch weniger als vorhin. »Das ist nicht die Spur von einer Menschenhand«, sagte ich.
»Jetzt lesen Sie einmal diesen Abschnitt aus Cuvier«, forderte mich Dupin auf.
Es war ein genauer Bericht über den großen, braunroten Orang-Utan der ostindischen Inseln. Die große Gewalt, die erstaunliche Stärke und Behendigkeit, die Grimmigkeit und die Fähigkeiten sowie der Nachahmungstrieb dieser Tiere, von denen die Eingeborenen behaupten, daß sie nur deshalb nicht sprächen, um nicht zur Arbeit und zu Sklavendiensten gezwungen zu werden, sind hinreichend bekannt. Jetzt war mir mit einem Mal der volle Greuel des Mordes gegenwärtig.
»Die Beschreibung der fingerähnlichen Klauen«, sagte ich, als ich mit Lesen fertig war, »stimmt genau mit dieser Zeichnung überein; ich sehe, daß kein anderes Tier als ein Orang-Utan von der hier angeführten Sorte die von Ihnen aufgezeichneten Nägelspuren hinterlassen haben kann. Dieser Busch rotbraunen Haares entspricht ebenfalls genau der Angabe Cuviers über das Haar der Bestie. Aber ich kann darum noch nicht recht die Einzelheiten dieses furchtbaren Ereignisses begreifen. Überdies hörte man zwei zankende Stimmen, deren eine unzweifelhaft als die eines Franzosen erkannt wurde.«
»Allerdings, und Sie werden sich eines Ausdrucks erinnern, der von den Zeugen fast einstimmig dieser Stimme zugeschrieben wurde – des Ausdrucks ›mon Dieu!‹ Dieser Ausruf ist, unter diesen Umständen, ganz richtig von einem der Zeugen, dem Konditor Montani, als ein Ausdruck der Warnung und der Klage bezeichnet worden. Ich habe daher hauptsächlich auf diese beiden Worte meine Hoffnungen gegründet, das Rätsel gänzlich zu lösen. Ein Franzose war Mitwisser des Mords. Es ist möglich, es ist sogar mehr als wahrscheinlich, daß er von jeder Beteiligung an diesen Greueln frei ist. Vielleicht ist ihm der Orang-Utan entwischt. Er hat ihn vielleicht bis zu jenem Zimmer wieder aufgespürt; aber unter den aufregenden Umständen, die nun folgten, kann er ihn nicht wieder eingefangen haben. Das Tier befindet sich also noch in Freiheit. Alle diese Vermutungen, denn für solche kann ich meine Eindrücke ja nur ausgeben, will ich nun nicht weiter verfolgen; es ist eben ein reines Hin- und Herraten. Ist indes der Franzose wirklich, wie ich vermute, unschuldig, so wird ihn die Anzeige, die ich gestern abend bei unserer Rückkehr in der Expedition der Zeitung ›Le Monde‹ (ein Journal, das die Interessen der Marine vertritt und von den Matrosen viel gelesen wird) abgab, ihn hier in unsere Wohnung bringen.«
Dupin händigte mir die Zeitung ein.
Ich las:
»Eingefangen – im Bois de Boulogne am frühen Morgen des .. (am Morgen nach dem Morde) ein sehr großer rotbrauner Orang-Utan von der Art, die man häufig auf der Insel Borneo antrifft. Der Besitzer, der ein Matrose von einem maltesischen Schiff sein soll, kann das Tier, wenn er sich genügend ausweist, nach Bezahlung der Kosten fürs Einfangen, Unterhalten und Inserieren in Empfang nehmen. Auskunft Rue … Nr. … Faubourg St. Germain – au troisième.«
»Aber wie ist es möglich«, fragte ich, »daß Sie wissen können, dieser Mann sei ein Matrose und gehöre zu einem maltesischen Schiff?«
»Ich weiß es auch nicht«, antwortete Dupin. »Hier ist indes ein kleines Stück Band, aus dessen Form und fettiger Beschaffenheit ich deutlich ersehe, daß es dazu gedient hat, das Haar zu einem jener langen Zöpfe aufzubinden, wie die Matrosen sie so sehr lieben. Überdies ist ein Knoten daran, wie ihn nicht leicht ein anderer als ein Matrose binden kann und wie er den Matrosen eigen ist. Ich fand das Band unten an der Gasröhre. Es kann keiner der beiden Ermordeten gehört haben. Wenn ich mich auch irre in dem, was ich von dem Bande ableite, nämlich, daß der Franzose ein Matrose auf einem Schiff aus Malta ist, so schadet das doch weiter nichts. Ist es ein Irrtum, so wird der Matrose einfach annehmen, es habe mich ein nebensächlicher Umstand irregeführt, dem er weiter nicht nachforschen wird. Habe ich aber recht, so ist viel gewonnen. Da der Franzose von dem Mord weiß, wenn er auch keine Schuld daran trägt, so wird er sich natürlich erst besinnen, ob er auf Grund der Zeitungsanzeige den Orang-Utan zurückfordern soll. Er wird sich dann aber sagen: Ich bin unschuldig; ich bin arm; mein Orang-Utan ist von großem Wert – weshalb soll ich ihn leerer Befürchtungen halber verlieren? Ich kann ihn wiederbekommen. Er ward im Bois de Boulogne aufgefunden – sehr weit vom Schauplatz der Metzelei. Wer wird jemals argwöhnen, daß ein unvernünftiges Tier dergleichen getan haben kann? Die Polizei steht wie vor einem Berg. Und käme sie auch dem Tier auf die Spur, so wäre es doch unmöglich, mir eine Mitwisserschaft an dem Mord nachzuweisen oder mir aus dieser Mitwisserschaft ein Verbrechen vorzuwerfen. Überdies kennt man mich. Die Anzeige bezeichnet mich als den Besitzer des Tiers. Vielleicht weiß man noch mehr vor mir. Wenn ich es versäume, ein so wertvolles Besitztum zurückzufordern, mache ich mich erst recht verdächtig. Ich will daher der Anzeige Folge leisten, den Orang-Utan holen und fest einschließen, bis die ganze Sache vergessen ist.«
In diesem Augenblick hörten wir Tritte auf der Treppe.
»Halten Sie Ihre Pistolen bereit«, sagte Dupin, »aber gebrauchen Sie sie erst, wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe.«
Die Vordertür des Hauses war offen, und der Besucher war, ohne zu schellen, eingetreten und mehrere Treppenstufen heraufgekommen. Plötzlich schien er zu zögern. Jetzt hörten wir ihn wieder hinuntergehen. Dupin eilte rasch auf die Tür zu; da hörten wir ihn wieder heraufkommen. Zum zweiten Mal kehrte er nicht wieder um, sondern er trat entschieden auf und klopfte fest an unsere Zimmertür.
»Herein!« rief Dupin mit heiterem, kräftigem Ton. Ein Mann trat herein. Er war offenbar ein Matrose – ein großer, starker, muskulöser Mensch, dessen Gesicht einen gewissen verwegenen und unerschrockenen Ausdruck trug, der indes nicht unangenehm auffiel. Sein sonnengebräuntes Gesicht war zur Hälfte im Backen- und Schnurrbart verborgen. Er hatte einen dicken Eichenknüppel in der Hand, schien aber sonst ohne Waffen zu sein. Er verbeugte sich linkisch und wünschte uns »Guten Abend« in einem Französisch, das dem eingeborenen Pariser eigentümlich ist.
»Setzen Sie sich, guter Freund«, sagte Dupin. »Vermutlich kommen Sie wegen des Orang-Utans. Auf mein Wort, ich beneide Sie fast um seinen Besitz; es ist ein ausgezeichnet schönes und ohne Zweifel sehr wertvolles Tier. Für wie alt halten Sie ihn?«
Der Matrose atmete tief auf, wie ein Mann, dem eine unerträgliche Last vom Herzen fällt, und erwiderte dann:
»Das wüßte ich nicht zu sagen; aber er kann kaum mehr als vier bis fünf Jahre alt sein. Haben Sie ihn hier?«
»O nein; hier konnten wir ihn nicht aufbewahren. Er befindet sich in einem Mietstall in der Rue Dubourg, hier in der Nähe. Dort können Sie ihn morgen bekommen. Sie können ihn doch genau beschreiben!«
»Ja, das kann ich, Monsieur.«
»Ich werde mich schwer von ihm trennen«, seufzte Dupin.
»Ich verlange ja nicht, Monsieur, daß Sie alle diese Mühe umsonst gehabt haben sollen«, sagte der Mann. »Das konnte ich nicht erwarten. Ich will gern eine Belohnung für das Auffinden des Tieres bezahlen – das heißt, alles was recht ist.«
»Gut«, erwiderte mein Freund, »mit der Belohnung eilt es nicht. Zunächst müssen Sie mir alle Ihnen möglichen Aufklärungen über die Mordtaten in der Rue Morgue geben.«
Die letzten Worte sagte Dupin in sehr leisem Ton und sehr ruhig. Ebenso ruhig schritt er zur Tür, schloß sie zu und steckte den Schlüssel in seine Tasche. Darauf zog er eine Pistole und legte sie auf den Tisch.
Das Gesicht des Matrosen wurde dunkelrot, als wollte er ersticken. Er sprang auf und umklammerte seinen Knotenstock; im nächsten Augenblick sank er auf seinen Stuhl zurück, am ganzen Leibe bebend und totenblaß. Er sprach kein Wort. Er tat mir von Herzen leid.
»Guter Freund«, sagte Dupin in freundlichem Ton, »Sie machen sich unnötige Sorgen – ja gewiß. Wir meinen es gut mit Ihnen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, wir wollen Ihnen nichts Übles zufügen. Ich weiß, daß Sie an den Greueltaten in der Rue Morgue unschuldig sind. Indes möchte ich Ihnen nicht raten zu leugnen, daß Sie darin verwickelt sind. Aus dem, was ich bereits gesagt habe, können Sie ersehen, daß ich Mittel besitze, mich über diese Angelegenheit zu unterrichten, Mittel, von denen Sie sich nichts träumen lassen. Jetzt stehen nun die Dinge so: Sie haben nichts getan, was Sie belasten kann.
Sie haben sich«, beruhigte Dupin weiter, »nicht einmal des Raubes schuldig gemacht, wo Sie ungestraft hätten rauben können. Sie brauchen nichts zu verheimlichen. Sie haben keinen Grund zur Verheimlichung. Andererseits sind Sie ehrenhalber verpflichtet, alles einzugestehen, was Sie wissen. Ein unschuldiger Mann ist augenblicklich gefangengesetzt, des Verbrechens angeschuldigt, dessen Täter Sie nachweisen können.«
Der Matrose hatte seine Geistesgegenwart wiedererlangt, während Dupin sprach; aber seine frühere Sicherheit war dahin.
»So wahr mir Gott helfe«, rief er nach kurzer Pause, »ich will Ihnen alles erzählen, was ich von der Sache weiß; ich kann nicht erwarten, daß Sie auch nur die Hälfte davon glauben – es wäre töricht von mir, das zu denken. Aber unschuldig bin ich, und es muß mir vom Herzen und sollte ich daran sterben.«
Er hatte vor kurzem die Fahrt nach dem indischen Archipel mitgemacht. Ein Trupp, zu dem er gehörte, landete in Borneo und drang bei einer Vergnügungstour bis ins Innere der Insel vor. Bei dieser Gelegenheit hatte er mit einem Freund den Orang-Utan gefangen. Nachdem der Freund gestorben war, ging das Tier in seinen alleinigen Besitz über. Es machte ihm durch seine unbezähmbare Wildheit auf der Heimreise viel zu schaffen; doch gelang es ihm endlich, das Tier in seiner eigenen Wohnung in Paris glücklich unterzubringen. Um nicht die lästige Neugier seiner Nachbarn auf sich zu ziehen, hielt er den Affen sorgfältig versteckt. Sein Plan war, ihn zu verkaufen.
An dem Morgen, an dem der Mord begangen wurde, kam der Matrose nach einem Fest in einer Taverne nach Hause und fand den Affen in seiner eigenen Schlafstube, in die er aus der danebenliegenden Kammer ausgebrochen war. Der Affe saß mit einem Rasiermesser in der Hand und eingeseift vor einem Spiegel. Entsetzt wußte der Matrose einige Augenblicke nicht, was er tun sollte. Es war ihm jedoch bisher immer gelungen, das Tier mit der Peitsche zur Ruhe zu bringen, und zur Peitsche griff er auch jetzt. Bei ihrem Anblick sprang der Orang-Utan plötzlich zur Zimmertür hinaus, die Treppen hinunter und durch ein unglücklicherweise offenstehendes Fenster auf die Straße.
Der Franzose folgte verzweifelt. Der Affe, immer mit dem Rasiermesser in der Hand, stand dann und wann still und schien seinen Verfolger erwarten zu wollen. Dann floh er wieder. Die Straßen lagen in tiefer Ruhe, da es gegen drei Uhr morgens war. In einem Nebengäßchen an der Rückseite der Rue Morgue wurde des Flüchtlings Aufmerksamkeit durch ein Licht gefesselt, das aus dem offenen Fenster des Zimmers der Madame l'Espanaye im vierten Stockwerk des Hauses herausschimmerte. Als er auf das Gebäude zustürzte, gewahrte er das Gasrohr, kletterte daran hinauf, klammerte sich an dem Fensterladen fest, der ganz an die Mauer zurückgeschlagen war, und schwang sich auf das Kopfende der Bettstelle. Das alles geschah in knapp einer Minute. Der Laden wurde durch den Orang-Utan, als er ins Zimmer sprang, wieder aufgestoßen.
Der Matrose war teils erfreut, teils bestürzt. Jetzt durfte er hoffen, das Tier wieder einzufangen, da es aus der Falle, in die es sich hineinbegeben hatte, kaum einen anderen Ausweg finden konnte als die Röhre, an deren Ende es in Empfang genommen werden konnte. Andererseits mußte befürchtet werden, daß der Affe im Hause Unheil anrichten werde. Diese Befürchtung bewog den Mann, dem Flüchtling zu folgen. Ein Gasrohr zu erklettern kann einem Matrosen nicht schwerfallen; aber als er bis zur Höhe des Fensters gelangt war, das von ihm zu weit links lag, konnte er nicht weiter. Alles, was er tun konnte, war, sich hinüberzubiegen, um ins Innere der Stube blicken zu können. Was er sah, war so entsetzlich, daß er vor Schreck beinahe von seinem Stützpunkt herabgefallen wäre, gerade als das grauenhafte Geschrei mitten in der Nacht losging, das die Bewohner der Rue Morgue aus dem Schlaf aufgeschreckt hatte. Madame l'Espanaye und ihre Tochter, mit ihren Nachtkleidern angetan, waren anscheinend damit beschäftigt gewesen, einige Papiere in der eisernen Geldkiste zu ordnen. Sie war offen, und ihr Inhalt lag auf dem Fußboden. Als der Matrose hineinsah, hatte das große Tier Madame l'Espanaye bei den Haaren ergriffen und fuhr mit dem Rasiermesser vor ihrem Gesicht hin und her, einen Barbier nachahmend. Die Tochter lag der Länge nach bewegungslos am Boden; sie war ohnmächtig geworden. Das Geschrei und die Anstrengungen der alten Dame (währenddessen wurde ihr das Haar vom Kopfe gerissen) verursachten, daß sich die anfangs friedlichen Absichten des Orang-Utans in Wut und Zorn verwandelten. Einmal nur holte er mit seinem muskulösen Arm kräftig aus und schnitt der Frau fast vollständig den Kopf vom Rumpfe ab. Der Anblick des Blutes entflammte seine Wut noch mehr. Die Zähne fletschend und mit sprühenden Augen flog der Affe auf den Körper des Mädchens zu und grub seine schrecklichen Klauen ihr tief in den Hals, bis sie verschieden war. Jetzt fielen seine wild umherschweifenden Blicke auf das Kopfende des Bettes, über dem das Gesicht seines Herrn, starr vor Entsetzen, eben zu unterscheiden war. Die Wut des Tieres, das sich ohne Zweifel noch vor der Peitsche fürchtete, verwandelte sich augenblicklich in Angst. Im Bewußtsein, Strafe verdient zu haben, schien das Tier den Wunsch zu hegen, seine blutigen Taten zu verbergen; es fuhr, von Aufregung hin- und hergehetzt, in der Stube herum. Dabei warf es die Möbel um, zerbrach sie teilweise und riß die Betten aus der Bettstelle. Schließlich erfaßte der Affe zuerst den Körper der Tochter und zwängte ihn so, wie man ihn später fand, in den Rauchfang, dann den der alten Dame, den er zum Fenster hinausstürzte.
Als sich der Affe mit seiner verstümmelten Last dem Fenster näherte, fuhr der Matrose entsetzt nach dem Gasrohr zurück, und nachdem er hinabgeglitten war, eilte er, so rasch er konnte, nach Hause – voller Furcht vor den Folgen dieser Metzelei. In seinem Schrecken gab er jede weitere Sorge um das Schicksal des Orang-Utans auf. Was die Leute, die die Treppe heraufkamen, hörten, waren des Franzosen Schreckensrufe und Scheltworte, vermischt mit dem grauenhaften Kreischen des Affen.
Es bleibt wenig hinzuzufügen. Der Orang-Utan muß an dem Gasrohr kurz vor Anbruch des Tages aus dem Zimmer entwichen sein und, nachdem er draußen war, das Fenster hinter sich zugeschlagen haben. Er wurde später von seinem Besitzer selbst wieder eingefangen, der im Jardin des Plantes eine bedeutende Summe dafür erhielt. Nachdem der Matrose seine Aussage auf dem Polizeibüro vor den Ohren des nicht wenig überraschten Präfekten wiederholt und Dupin seine Erklärungen dazu gegeben hatte, wurde Le Bon natürlich in Freiheit gesetzt.