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Jakob Bosshart

Der Kuhhandel

Felix Knotschi im Reutehof, den man Schulmeisterhansen Feggel nennt, weil sein Vater Hans hieß und sein Urgroßvater Schulmeister gewesen war, saß bei Apfelwein, Brot und Speck an seinem Tisch und durchging die letzte Nummer der »Wochenzeitung«. Dabei fuhren seine klotzigen Finger langsam den Zeilen nach, wie um den mit den Augen festgestellten Sinn auch mit dem Tastsinn zu erfassen. Er war ein vorsichtiger Mann.

Der schwarze Schattenriß einer Kuh zog seine Aufmerksamkeit an. Er las die Anzeige ein-, zweimal mit aller Gründlichkeit durch, warf einen Blick auf die Wanduhr und rief dann seine Frau, die man in der Küche herumklappern hörte, mit dröhnender Stimme zu: »Mädi, leg mir das Sonntagabendgewand heraus!«

Die Frau streckte einen langen Hals mit kleinem, ins Spitze mißratenem Kopf zur Türe herein, neugierig wie ein Hühnchen, und fragte, was er zu boleten habe. Denn sie war etwas schwerhörig und begriff auch sonst nicht immer das erste Mal.

Er wiederholte seinen Befehl so kräftig, daß es dem Spiegel an der Wand einen Ruck gab, und fügte hinzu, er gehe auf den Kuhhandel.

»An einem so hellen Tag!« wagte sie einzuwenden und schnalzte mißbilligend zweimal mit der Zunge.

»Tag hin, Tag her!« schnauzte er, »ich kann das Loch im Stall nicht länger ansehen.«

»Wohin willst du denn? Es ist ja bald zehn Uhr!«

»Laß die Schuhe und die Straße sorgen«, gab er zurück, »und tu, was ich dir sage!«

Sie stieg, über den verlorenen Tag brummend, in die Kammer hinauf, während er den letzten Bissen Brot zerkaute und mit einem tüchtigen Schluck hinunterspülte.

Zehn Minuten später war er zur Reise gerüstet. Er trug ein abgeschabtes braunes Kleid, über das er nach Viehhändler-Gewohnheit eine blaue Bluse gezogen hatte. Nochmals griff er zur Zeitung und las sich die Anzeige halblaut vor: »Eine gute Zug- und Nutzkuh, zu erfragen in Gutzelfingen, Hintergasse Nr. 87.« Die Zahl prägte er sich genau ein und ging davon, indem er mit dem Weißdornstock kräftig das Marschtempo angab.

Er hatte einen Weg von drei Stunden zurückzulegen; aber er machte ihn noch viel länger. Wo er durch einen Weiler oder ein Dörfchen kam, schwenkte er bald links, bald rechts in ein Haus ab und erkundigte sich nach feiler Viehware; denn konnte er seine Kuh in der Nähe haben, wollte er sich die paar Stunden ersparen.

Auf dem ganzen Wege ließ ihn sein Geschäft nicht einen Augenblick los; wie eine Zange hielt es seine Gedanken umklammert. Vor einigen Wochen war ihm eine Kuh an der Völle umgestanden, und die Lücke in seinem Viehbestand, das Loch im Stall, ließ ihm seither Tag und Nacht keine Ruhe und trieb ihn jetzt über Land. Er überlegte, wie er alles zum Bessern wenden wolle. Die umgestandene Kuh hatte ihre Vorzüge, aber auch ihre Fehler gehabt, die neue sollte aus lauter Tugenden zusammengesetzt sein; ein Muster, einen Edelstein von Kuh wollte er erhandeln. »Du mußt vorsichtig sein, fein und gerieben wie Flachsgarn«, sagte er sich und verwarf die Hände.

Es war ein sonnenklarer Montag; die Birnbäume stießen ihr Blust ab, und beim leisesten Wind wirbelte es wie Schneeflocken durch die Luft. Die Apfelbäume waren in ihrer vollen Pracht und verbluteten sich fast in der Frühlingswonne. Die Wiesen glitzerten in Silber und Gold, und darüber schwebten und tändelten Schmetterlinge, weiße, gelbe und braune. Über den Saaten jubilierten die Lerchen, und Bienenschwärme summten in den Blütenbäumen.

Für all das hatte Schulmeisterhansen Feggel keinen Sinn. Vor sich auf dem Wege, in der Luft, überall, wo er hinschaute, sah er Kühe, prächtige schwere Tiere mit glänzendem Fell, weiß und gelb gefleckt, mit starkem Nacken und Eutern, strotzend wie volle Maltersäcke. Er überlegte im Gehen alles, worauf man beim Kuhhandel achten muß; es war eine Art Examen, das er sich selber mit aller Peinlichkeit ablegte. Er redete halblaut vor sich hin, und immer länger wurden seine Schritte. Die Leute, die am Wege arbeiteten oder ihm begegneten, sah er nicht, und er ging grußlos an ihnen vorbei.

»Nicht zu hoch auf den Beinen und nicht zu niedrig, auf den Rippen weich, Gehörn leicht, Ohrlocken lang und gelb, Schwanz nicht hoch, auf die Milchzeichen und ins Maul sehen …« Das drehte er sich wie mit einer Kurbel im Kopf herum.

In Gutzelfingen angekommen, suchte er gleich die Hintergasse und das Haus Nr. 87 auf; er trat aber nicht in dieses, sondern in eine Nachbarscheune ein. Ein Bauer kam ihm mit fragenden Blicken entgegen: was er Gutes suche oder bringe.

»Es scheint da eine Kuh feil zu stehen«, entgegnete Feggel, »man hat es im Blatt lesen können.«

Der andere berichtete ihm trocken, er sei nicht am rechten Ort; aber drüben bei der Nachbarin Günther sei eine Kuh »vorig«, soviel er wisse.

»Aha, es ist eine Frau!« dachte Feggel, dem gleich der Gedanke durch den Kopf fuhr: »Von einem Weibsbild bekomm ich sie billiger. Es hat sich noch keine Frau auf eine Kuh verstanden. Ohrlocken gelb und lang, nach den Zähnen schauen, weich auf den Rippen …«

Er verweilte nicht lange bei diesen geheimen Gedankengängen und fuhr laut weiter: »Guter Freund, Ihr kennt wohl das Stück Vieh, als Nachbar müßt Ihr das ja! Darf man's mit gutem Gewissen an den Strick nehmen?«

»Die Nachbarin hat rechtes Vieh«, gab der andere kurz zurück.

»Und der Nutzen? Ich meine den Milchertrag?«

»Ich melke die Kuh nicht selber.«

»Aber das weiß doch ein Nachbar besser als … Ihr werdet in Gutzelfingen so gut Augen haben wie wir anderwärts!« lachte Feggel gezwungen.

»Wir haben freilich gute Augen, aber wir brauchen sie nicht für andere Leute, guter Freund!«

Feggel merkte, daß aus dem Schlauberger nichts herauszufischen war, und zog den Schluß, Gott müsse die Kuh der Frau Günther irgendwie geschlagen haben.

»Adje und nichts für ungut!« sagte er und ging langsam und sich dreifach mit Vorsicht wappnend zum Nachbarhaus hinunter: »Rücken gerade, Klauen leicht, Schwanz bis zum Knie, Ohrlocken lang und gelb …«

In der Tenne trat ihm ein Bursche von etwa zwanzig Jahren entgegen. Der nahm ihm kurz den Gruß ab und rief die Mutter herbei, die sich im Baumgarten befand und bald mit einer Sense auf der Achsel in die Tenne trat. Sie hängte ihr Gerät an einen Nagel und maß dabei den Fremden mit einem raschen Blick. Er kam ihr bekannt vor, und als er zu reden anfing und sein Anliegen vorbrachte, erkannte sie ihn bestimmt an der Stimme. Auch er wußte nun, mit wem er es zu tun hatte, und die Worte blieben ihm fast im Gaumen stecken; aber es war nur ein Augenblick. Beide zogen aus ihren Gesichtern den Ausdruck der Überraschung gleichzeitig zurück, schoben eine Maske darüber, die ein Bauer immer bereit haben soll, und begannen geschäftsmäßig von der Kuh und dem Handel zu reden.

Einst, vor zwanzig und einigen Jahren, hatten sie sich wohl gekannt. Balbina hatte bei Feggels Vater als Magd gedient, von dem Tag an, da sie aus dem Waisen- und Armenhaus entlassen worden war. Mit achtzehn Jahren hatte sie ihre große, verheißungsvolle Zeit, da ihr kein Apfel auf dem Hof zu hoch hing und sie sich in ihren Träumen schon als Bäuerin schalten und walten sah. Feggel nämlich, der wenig älter war als sie, entdeckte eines Tages, daß sie eine ganz merkwürdige Stimme hatte, eine Stimme, die immer ein Lachen zu unterdrücken schien, dazu appetitliche, erdbeerrote Lippen und zwei lustige Augen, Schelme von Augen, die seltsam zu zittern begannen, wenn sie den seinigen begegneten. Und da ihm das Zittern so wohl gefiel, brachte er es zustande, sooft sie ihm entgegenkam oder gegenüberstand. Sobald die Folgen sichtbar wurden, war das Ende auch schon da. Felix mußte zum ersten Militärdienst einrücken und nahm zärtlich von ihr Abschied. Der Vater sah ihm nach, bis er an dem Hag, der den Hof begrenzte, verschwunden war, dann trat er, ohne vorher seine Wahrnehmungen oder Absichten durch eine Miene, einen Blick oder ein Wort verraten zu haben, vor die ahnungslose Magd hin, ließ ein Donnerwetter über sie los und hieß sie sofort ihr Bündel schnüren. Denn er war ebenso rücksichtslos wie hinterhältig. Als der Sohn ein paar Wochen später heimkehrte, stand statt der Balbina eine Pauline in der Küche. Feggel wütete ein paar Stunden lang und drohte, davonzulaufen oder das Haus umzuwerfen. Doch der Vater hatte eine beruhigende Art; er bewies dem Jungen haarscharf, daß das Davonlaufen und Häuserumwerfen etwas Unvernünftiges sei, etwas viel Ungereimteres aber, eine Magd aus dem Armenhaus neben sich an den Tisch zu setzen, wenn man eine »habliche« Bauerntochter mit einem Brautfuder so hoch wie Garbenwagen haben könne. So brachte er den Polternden nach kurzer Zeit zur Einsicht und Vernunft. Von Balbina kamen Briefe, die aber meistens vom Vater oder der Mutter abgefangen wurden; und als sich das Mädchen in seiner Not einmal selber auf den Hof wagte, wurde es von Felix so grimmig angeknurrt, daß es wußte, woran es war. Die Vernunft war in ihm schon ganz Herr geworden. Es wurde ein Prozeß angestrengt. Feggel kam mit einer leichten Abfindungssumme weg, denn er hatte dem Richter glaubhaft machen können, die Magd habe ihm nachgestellt und sich ihm angeboten, wofür ja alles sprach. Vielleicht habe sie es auch, zugänglich wie sie nun einmal sei, noch mit anderen gehalten; doch wolle und könne er da weiter nichts beweisen. Wenn es bei Bauern vom Schlage Schulmeisterhansen Feggels an den Geldsack geht, halten sie sich aller Rücksicht enthoben. Balbina war dann trotz ihres Unglücks nach schweren Jahren geheiratet worden, hatte ihren Mann vor einiger Zeit durch den Tod verloren und bewirtschaftete nun ihr Gütchen mit ihren Kindern als eine Frau, die durch ein hartes Leben wehrhaft geworden war.

Nun standen die beiden nach zwanzig Jahren einander wieder gegenüber, kalt rechnend, jedes auf seinen Vorteil bedacht. Ja, sie waren in dieser langen Zeit bedächtig geworden.

Feggel warf einen Blick auf die Kuh und stellte sich enttäuscht: »Sie ist braun«, sagte er, »mir wäre ein Fleck lieber gewesen.«

»Die braunen geben auch weiße Milch«, gab sie zurück, ohne eine Miene zu verziehen.

»Grobes Haar hat sie auch.«

»Ich hab mein Lebtag noch keine seidene Kuh gesehen.«

»Der Kopf ist zu schwer.«

»Sie hat ihn immer noch selber getragen und noch nie gemurrt.«

Feggel betastete das Tier auf allen Seiten, sah ihm ins Maul, prüfte die Hörner, schätzte das Alter, alles, wie er es sich auf dem Wege vorgenommen hatte. Endlich sagte er: »Was soll das Kühlein wert sein, Frau?«

»Es ist eine Kuh und kein Kühlein! Ihr habt sie geschätzt, tut ein Gebot!«

»Nein, Frau, den ersten Preis macht der Verkäufer.«

»Nun, so sei's um dreißig Napoleons.«

Feggel gebärdete sich, als ob ihn der Schlag getroffen hätte.

»Was? Dreißig! So viel zahlt man nicht für das erste Prämienrind! Ihr scheint nicht zu wissen, daß die Kühe abgeschlagen haben.«

»Bei dem schönen Frühlingswetter, da man das Gras wachsen sieht! Abgeschlagen, ja, wie die Eier um Allerseelen! So meint Ihr es wohl!«

Wieder machte sich Feggel an die Kuh heran und begann sein Examen aufs neue.

»Sie trägt?«

»In der fünfzehnten Woche.«

»Gebt Ihr das schriftlich?«

»Ich geb es schriftlich, wenn Ihr es wollt, sonst aber wird mündlich gehandelt.«

»Sie hat einen großen Vorteil«, fuhr er fort, »man braucht keinen großen Kessel, wenn man sie milkt.«

»Oho!« rief sie, »frisch gekalbt liefert sie ihre dreizehn Liter, das, was das Kalb braucht, nicht gerechnet.«

Sie sagte die Wahrheit; nur verschwieg sie, daß das Kalb nicht in Betracht kam, da die Kuh noch keines lebend geworfen hatte. Das eben war der Grund, warum die treffliche Zug- und Nutzkuh verkauft werden sollte. Sie hatte einen Fehler, den der Käufer nicht erfahren durfte.

»Führt sie einmal vor!« stieß Feggel zwischen den. Zähnen hervor, in einem näselnden Ton, der zeigte, daß er ans Befehlen gewöhnt war.

Der Sohn der Witwe warf ihm einen unfreundlichen Blick zu, gehorchte aber nach einigem Zögern, damit sich der Handel nicht zerschlage, und führte die Kuh aus dem Stall und auf der Hofreite auf und ab.

Während sich Feggel vergewisserte, daß ihr am Gangwerk nichts fehle, sagte er wie beiläufig und mit einem überlegenen Lachen in der Stimme:

»So, so, so, gute Frau, Ihr meint, sie sei dreißig Räpi wert! So, so, so!«

»Ich meine es nicht nur, ich weiß es«, entgegnete sie, und ihr Sohn, der sich nun auch in den Handel mischte, fügte hinzu, sie komme um keinen Batzen billiger aus dem Stall, wenn es auf ihn ankomme.

Nach diesem Bescheid hielt es Feggel für geboten, wieder mit der Kritik einzusetzen. »Sie ist sechs Jahre alt.«

»Fünf!« riefen Mutter und Sohn zugleich.

»Sechs«, wiederholte er bestimmt, »in vier Jahren hätte ich ein altes Gestell im Stall! Zur Nachzucht möchte ich sie nicht, ich bin für Fleckvieh. Auch ist sie zu niedrig auf den Beinen!«

»Sagt doch gleich, sie krieche auf dem Bauch!«

»Etwas hochschwänzig ist sie auch.«

»In Gutzelfingen sind allen Kühen die Schwänze am Rücken angewachsen.«

»Eine Kuh soll die Hoffart nicht am Schwanz, sondern am Euter zeigen.«

So nahm der Handel seinen Fortgang; das Feilschen dauerte mehr als eine Stunde. Zwei-, dreimal hatte Felix sich angeschickt, fortzugehen, um die Frau mürbe zu machen; immer war er zurückgekehrt; denn die Kuh gefiel ihm, ja, damit ließ sich das Loch in seinem Stall wieder ausfüllen. Mit sechshundert Franken war sie nicht zu teuer bezahlt; alles, was er abmarkten konnte, war Gewinn. Schließlich einigte man sich auf achtundzwanzig Napoleons und begab sich in die Stube, um bei einem Glas Tresterwein den Kauf in herkömmlicher Form gültig zu machen.

Die jüngeren Kinder der Frau waren eben aus der Schule, die sie noch besuchten, heimgekehrt. Sie stellten sich unten am Tisch auf und beguckten den fremden Mann in der blauen Bluse, der aus einer Schweinsblase Gold- und Silberstücke langsam herausklaubte und zu Säulen aufschichtete.

Der älteste Sohn stellte den Wein auf den Tisch und sagte etwas verlegen: »Es ist bei einem Viehhandel Brauch, dem, der das Stück besorgt hat, ein Trinkgeld zu geben. Das wollte ich nur gesagt haben. Die Mutter hätte es ausbedingen sollen.«

Bei dem Wort wurde die Witwe rot im Gesicht, und es flackerte in ihren sonst so kühlen Augen von Unmut, als sie erwiderte: »Du bekommst dein Trinkgeld von mir, Hans! Geh und bürste die Braune, sie soll sauber aus unserem Stall gehen.«

»Ich verstehe den Vorteil nicht so«, brummte Hans und ging, die Brauen finster zusammenziehend, langsam hinaus. Die Mutter schenkte ein und stieß mit Felix, wie es der Brauch verlangt, an, trank aber nicht, sondern fing gleich an, das Geld zu überzählen, wobei sie jedes Stück vorsichtig umwendete.

Feggel hatte bei dem kleinen Auftritt mit Hans unruhig auf seinem Stuhl gesessen und nicht recht gewußt, wohin er schauen sollte. Jetzt sagte er mit unterdrückter Stimme, wie ein Dieb zum anderen: »Ist's der?«

Sie erwiderte kurz: »'s ist der.«

Er nickte dreimal mit abgemessenen Pausen, was etwa sagen sollte: »Er scheint nicht übel ausgefallen zu sein, er weiß, was er will, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

Sie wandte sich von ihm weg und gab sich mit ihren Kindern ab. Sie schnitt ihnen Brot vom Laib, wies einem jeden eine Arbeit zu, tadelte das Jüngste, weil es im Haar unordentlich war.

Feggel sah ihr schweigend zu, musterte die Stube und was drin war und überlegte, ob die Frau in Wolle oder in Nesseltuch sitze. Dann beschäftigte er sich mit ihrer Person. Sie war immer noch hübsch, trug sich sauber, und ihre Stimme klang noch fast wie damals, da ihr immer ein heimliches Lachen in der Kehle saß, auch wenn sie es ernst meinte. Daß ihr diese Stimme geblieben war, das schien ihm unbegreiflich, war denn alles wie Öl an ihr heruntergelaufen? Ja, ein währschaftiges Stück Mensch war sie. Er dachte an seine übelhörige Bäuerin zu Haus und an ihre Gackerstimme und kratzte sich unwillkürlich hinter dem Ohr.

Hans meldete, die Braune sei gebürstet, und ging gleich wieder in den Stall hinaus. Die anderen folgten ihm wortlos. An einem hölzernen Nagel hingen Stricke. Feggel suchte den neuesten heraus und meinte: »Der Strick wird doch in den Kauf gehen?«

Natürlich ging der Strick in den Kauf. Feggel legte ihn der Kuh um die Hörner und führte sie daran hinaus. »So, adje denn!«

Die Witwe antwortete kurz: »Adje« und gab der Kuh einen freundlichen Klaps, wie wenn der Gruß ihr gegolten hätte. Sie empfand etwas wie Rührung, denn die Braune war ihr immer ein frommes Tier gewesen.

Feggel schritt, ohne zurückzuschauen, mit der Kuh breit die Gasse hinab, prüfte sie im Gehen nochmals, griff ihr in die Haut auf den Rippen und schätzte seinen Taglohn. Als er um die Ecke bog, meinte Balbina zu sehen, daß er befriedigt mit den Fingern schnippte. »Ich habe sie ihm zu billig gegeben«, dachte sie.

»Der gefällt mir nur halb«, sagte Hans zu der Mutter, »er schaut immer links um die rechte Ecke herum! Hat er dich ein einziges Mal grad angesehen?«

Sie fühlte sich verlegen werden, und statt zu antworten, trat sie ins Haus zurück, um das Geld in der Kammer zu verschließen. Auf einmal lag sie schluchzend auf ihrem Bett. Jetzt, nachdem das Geschäft abgetan war, fiel sie die Erinnerung an, und die Bitterkeit stieg ihr bis in die Kehle hinauf. Die Worte des Sohnes hatten sie wie eine Ohrfeige getroffen. Erst nach und nach lösten sich aus dem Schmerz und dem Erinnerungsschwall die Gedanken los. Der also war's, der sie verlassen und entehrt, der sie vor dem Richter zum Dank für all die Liebe, Hingebung und Vertrauensseligkeit beschimpft hatte! Warum hatte sie ihm die Ehre angetan, ihn wie einen Fremden zu behandeln? Wie konnte sie ihre Kuh in seine schmutzigen Hände geben? Warum hatte sie sich die Gelegenheit entgehen lassen, sich zu rächen, ihn wie einen räudigen Hund mit der Peitsche aus der Scheune zu jagen? Warum hatte sie Hans nicht auf ihn gehetzt und ihm zugeschrien: »Dieser Schuft ist dein Vater, du magst ihm danken! Er hat deine Mutter vor Gericht ein ›Leder‹ genannt!«

So tobte es in ihr. Sie fühlte die alte Schwären wieder aufbrechen und sie mit Ekel durchtränken.

Endlich, nachdem die Tränen lange über ihren alten Schmerz und die alten Wunden geflossen waren, wurde sie ruhiger.

»Ich habe recht daran getan, Hans nichts zu verraten, wie stände ich jetzt vor ihm? Weiß ich, wie er das Wort ›Leder‹ aufgenommen hätte? Soll ich ihm meine Schmach zu kauen geben, damit er sie einmal gegen mich ausspuckt?«

Ihre Gedanken strichen über ihr Leben zurück; sie wollte für ihren Zorn und Haß Zunder suchen, fand aber das Gegenteil.

War nicht alles besser geworden, als sie einst hatte erwarten dürfen? War ihr Unglück denn so schwer gewesen? Sie hatte es getragen und war darunter nicht krumm, sondern stark geworden. Möchte sie jetzt die Frau dieses Menschen heißen? Um keinen Preis! Und das Kind, der Hans, war der ein so großes Leidwesen für sie? Wie würde sie jetzt dastehen, wenn sie ihn nicht hätte? Wie wollte sie das Gut bearbeiten und die jüngeren Kinder in Ehren großziehen? Ohne ihn hätte sie nach dem Tod ihres Mannes das Gütchen verkaufen müssen. Wieviel wäre ihr zum Leben geblieben? Sie hätte wieder als Magd dienen müssen, und die Kinder wären, wie sie einst, ins Armenhaus gewandert, hätten die ganze Schmach und Erniedrigung der von der Gemeinde Erhaltenen auf sich nehmen, alles, was sie selber einst durchgemacht, neu durchkosten müssen: harte Meister, Demütigung, Verführung, Entehrung.

Wie war sie selber einst über all das hinweggekommen? Der Haß und der Trotz hatten sie aufrecht erhalten.

Sie dachte an ihren Mann, und Dankbarkeit durchströmte sie wie ein warmer Trunk. Sie hatte nach allem, was geschehen war, nicht mehr viel Liebe zu verschenken gehabt; er hatte sie doch an der Hand genommen und aus dem Schmutz gezogen. An seiner Seite, unter seinem Schutz war das Elend, das sie einst stündlich verfolgt hatte, allmählich verblaßt, wie ein Schuldschein im Lauf der Jahre im Kasten vergilbt. In den letzten Jahren war ihr das alte Gespenst nur noch dann und wann durch den Sinn gefahren, wie etwa ein Raubvogel von Zeit zu Zeit über den Hühnerhof fliegt und wieder verschwindet, nachdem er einen Augenblick geängstigt hat.

Der Kuhhandel kam ihr in den Sinn, die ernsten Gesichter, die sie machten, das stundenlange Feilschen, jedes darauf bedacht, das andere zu beluchsen, um ein paar lumpiger Franken willen. Mit einem Fuß immer noch in ihrem Jugendtraum stehend, mußte sie fast lachen, und wurde dann gleich wieder traurig. Sie hatte nicht den Gedanken, aber das Gefühl, es schalte manchmal eine große Unvernunft in unserem Leben, die jeden anderen Weg, nur nicht den rechten führe.

Was hatte sie heute gehindert, Felix wie einem Bekannten entgegenzutreten? Hatte sie denn wirklich den alten Haß noch nicht überwunden, wenn die alte Liebe noch so seltsam wetterleuchtete? Wäre der Haß noch lebendig in ihr, würde er sie wochen- und monatelang in Ruhe lassen? Warum hatte sie Felix nicht ehrlich angeredet: »Seht, ich habe freilich eine Kuh zu verkaufen, eine gute; aber sie hat einen Fehler, ich weiß nicht, ob sie Euch recht wäre.« Dann hätte er sie nach Gutdünken kaufen oder lassen können, und sie hätte auf alle Fälle ihr Gewissen gerettet. »Aber jetzt?« fragte sie sich. »Merkt er, warum ich die Kuh verkauft habe, so wird er einen neuen Haß und neue Verachtung auf mich werfen: sie ist eben eine schlechte Person, gottlob, daß ich damals nicht an ihr hängen blieb! So wird er den Spieß gegen mich wenden!«

Dieser Gedanke bohrte sich in sie hinein. Bis jetzt hatte sie sich Feggel gegenüber nichts vorzuwerfen gehabt; mit gutem Gewissen hatte sie ihn als den Schuldigen betrachten können. Ihr ganzes Vergehen war Vertrauen und Torheit gewesen, dieses Bewußtsein war ihr stets eine gute Stütze gewesen. Jetzt hatte sie sich ins Unrecht gesetzt, ihm eine Gelegenheit verschafft, sein Gewissen zu entlasten, während sie sich etwas aufgeladen hatte. Oh, er wird sich seinen Spruch schon machen. »Wir sind jetzt quitt, Balbina«, wird er lachen, »eins von eins geht auf!« Daß auf der einen Seite eine große Eins steht und auf der anderen eine kleine, wird ihm die Stirne nicht um ein Haar tiefer hinunterdrücken. Er wird der Braunen, wenn er auf den Sprung kommt, einen Fußtritt geben und zwischen den Zähnen hervorstoßen, wie nur er es kann: »Kein Wunder! Ich hab dich ja von dem ›Leder‹ in Gutzelfingen erhandelt!«

Die Angst kam über die Frau, den mühsam erworbenen Ruf wieder zu verlieren, nicht sowohl vor anderen, als vor sich. Sie mußte Feggel die Waffe, die sie ihm gegeben hatte, wieder aus der Hand winden. Machte sie ihr Unrecht nicht gut, so würde es ihr beständig in den Ohren liegen und ihr zurufen: »Nun hast du dem doch noch recht gegeben, der dich einst in den Schmutz getreten hat!« Diesen Vorwurf würde sie so lang hören, wie noch ein Rest der alten Schmach in ihr wühlte, immer, bis zum letzten Atemzug. Wie zur Bestätigung stieg ihr die alte Bitterkeit wieder in die Kehle hinauf.

Den ganzen Abend wälzte sie diese Gedanken in sich herum. Nachts, als die Kinder schlafen gegangen waren, setzte sie sich an den Tisch und schrieb diesen Brief:

An Herrn Felix Knotschi im Reutehof!

Ihr habt heute von mir eine Kuh gekauft, Braune genannt. Was ich Euch von ihr sagte, ist die Wahrheit. Es ist eine gute Kuh, Milch, Alter, Trächtigkeit, alles wie gesagt. Nur hat sie einen Fehler, es ist aber kein Währschaftsmangel, nämlich, sie hat noch nie ein saugbares Kalb geworfen, ob allein dran schuld oder wir auch, weiß ich nicht. Ich sage Euch das ohne Not, Ihr wißt es so gut wie ich, im Viehhandel hat jeder für sich zu schauen, und es braucht keiner seine Kuh selber schlecht zu machen. Weil ich Euch aber kenn und nicht will, daß Ihr mir etwas anderes als Gutes vorhalten könnt, und wäre es noch so wenig, so schreibe ich Euch das und erkläre mich bereit, die Kuh zurückzunehmen. Dies bis heute in acht Tagen, das ist am 25. Maien.

Witwe Balbina Günther

Zwei Tage später stand die Braune wieder an ihrer alten Heuraufe im Stall der Witwe Günther in Gutzelfingen. Statt des neuen Stricks, auf den Feggels Hand gefallen war, hatte sie einen alten, morschen zurückgebracht.

Balbina sah diesen Strick lange an, und es kam dabei allmählich ein Wohlsein, eine große Erleichterung über sie, wie schon lange nicht mehr. Sie wußte selber nicht genau, warum. Sie fühlte nur, daß sie mit Schulmeisterhansen Feggel endgültig abgerechnet hatte und daß der Abschluß für sie gut war. Daß sie dabei ihren neuen Strick gegen einen alten hingegeben hatte, schien ihr durchaus nicht unwichtig.


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