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Guy de Maupassant

Eine Mutter

Seit fünfzehn Jahren war ich nicht mehr in Virelogne gewesen. Ich suchte es wieder auf, um mit meinem Freunde Serval zu jagen, der endlich sein von den Preußen zerstörtes Schloß wieder hatte aufbauen lassen.

Ich liebte die Gegend; sie gehört zu jenen köstlichen Erdenwinkeln, die für das Auge einen außerordentlichen Reiz haben. Wir besitzen ja alle eine Vorliebe für bestimmte Quellen, bestimmte Wälder, Teiche und Hügel, die wir oft gesehen haben und die uns dennoch jedesmal von neuem wie ein freudiges Ereignis berühren.

Leicht wie ein Zicklein schritt ich dahin und sah meinen beiden Hunden zu, die spürend vor mir herliefen. Zu meiner Rechten, in einer Entfernung von hundert Metern, suchte Serval ein Kleefeld ab. Ich bog die Büsche auseinander, die die Grenze des Gehölzes bildeten, und meinen Blicken bot sich die Ruine eines Häuschens dar.

Da erinnerte ich mich auf einmal, wie ich im Jahre 1869 das Häuschen das letzte Mal gesehen hatte, sauber, mit Wein bekleidet, ein Hühnerhof vor der Tür. Kann es etwas Traurigeres geben als ein totes Haus mit seinem zerfallenen Gerippe, das düster zum Himmel aufragt?

Ich erinnerte mich auch, daß mir da drinnen an einem heißen Tage eine gutmütige Frau ein Glas Wein gereicht und Serval mir damals die Geschichte der Leute erzählt hatte. Der Mann, ein alter Wilddieb, war von den Gendarmen erschossen worden. Sein Sohn, ein langer, hagerer Bursch, galt gleichfalls für einen schlimmen Wilderer. Man nannte die Familie »Wilde«. Ob das ihr Name oder ein Spitzname war, weiß ich nicht.

Ich rief Serval an. Er kam in seinem langen Stelzschritt herüber.

»Was ist denn aus den Leuten da geworden?« fragte ich, und er erzählte mir die folgende Geschichte.

Als der Krieg erklärt worden war, trat der junge Wilde, damals dreiunddreißig Jahre alt, ins Heer ein und ließ die Mutter allein in dem Hause zurück. Die Alte wurde nicht sonderlich bedauert, weil sie, wie man wußte, Geld besaß.

Sie blieb also ganz allein in diesem Hause, fern vom Dorfe, an der Waldgrenze. Furcht kannte sie übrigens nicht; sie war vom gleichen Schlage wie die beiden Männer, groß und schlank, mit harten Zügen, die selten von einem Lächeln erhellt wurden. Bauernfrauen lachen überhaupt nicht; das überlassen sie den Männern. Ihre Seele ist traurig und eng, wie ihr Leben trüb und freudlos. Der Bauer lernt in der Schenke lärmende Heiterkeit kennen; seine Gefährtin aber bewahrt stets ihren Ernst.

Mutter Wilde führte in ihrem Häuschen, das bald von Schnee bedeckt war, ihr gewöhnliches Leben. Einmal wöchentlich ging sie ins Dorf, um Brot und etwas Fleisch zu kaufen. Da man von Wölfen sprach, ging sie nie ohne die Flinte auf dem Rücken aus – die Flinte ihres Sohnes, verrostet, der Kolben durch langen Gebrauch abgenutzt –, und sie bot einen seltsamen Anblick, wie sie, die schwarze Haube auf dem weißen Haar, das keiner je gesehen hatte, das Haupt vom Flintenlauf überragt, langsam, ein wenig gebückt, durch den Schnee schritt.

Eines Tages waren die Preußen da. Man verteilte sie unter die Bauern nach Maßgabe des Vermögens. Die Alte, die, wie gesagt, für reich galt, erhielt vier Mann.

Es waren lange, brave Kerle, mit blonden Haaren und blauen Augen, Männer, die trotz der bereits überstandenen Strapazen noch recht wohl aussahen. Allein bei der bejahrten Frau einquartiert, behandelten sie sie voller Zuvorkommenheit und ersparten ihr, so gut es ging, Mühe und Kosten. Des Morgens standen sie alle vier um den Brunnen herum und machten hemdsärmelig in der kalten Winterluft Toilette, indes Mutter Wilde, die Suppe kochend, hin und her lief. Dann scheuerten sie die Küche, putzten die Scheiben, spalteten Holz, schälten Kartoffeln und wuschen ab; kurz, sie verrichteten alle häuslichen Geschäfte wie vier wackere Söhne.

Aber die Alte dachte immerwährend an den Ihrigen, mit seiner Habichtsnase, den braunen Augen und dem dicken Schnurrbart. Jeden der bei ihr einquartierten Soldaten fragte sie täglich: »Wissen Sie nicht, wohin das dreiundzwanzigste französische Regiment marschiert ist? Mein Junge steht dabei.«

»Non, ich weiß pas«, antworteten sie, »wir wissen nicht tout.«

Und ihre Sorge und Unruhe begreifend – sie hatten ja auch daheim Mütter –, erwiesen sie ihr tausend kleine Aufmerksamkeiten. So hatte die Alte denn ihre vier Feinde sehr lieb. Die Bauern kennen patriotischen Haß überhaupt nicht; der gehört den bevorzugten Ständen an. Die einfachen Menschen, die das meiste zahlen, weil sie arm sind und jede Steuer sie niederdrückt, sie, die man massenweise tötet, die das wahre Kanonenfutter sind, weil sie die Menge bilden, sie, die das bittere Elend des Krieges am härtesten empfinden, weil sie die Schwächsten und am wenigsten Widerstandsfähigen sind – sie begreifen diese Kriegswut gar nicht, dieses empfindliche Ehrgefühl und diese sogenannten politischen Kombinationen, die in einem halben Jahre zwei Nationen, Sieger wie Besiegte, zu erschöpfen vermögen …

In der Gegend sagte man, wenn man von den Deutschen der Mutter Wilde sprach: »Die viere haben mal 'n warmes Nest gefunden!« –

Da bemerkt die alte Frau eines Morgens, als sie gerade allein zu Hause ist, in der fernen Ebene einen Mann, der auf ihre Wohnung zukommt. Sie erkennt in ihm bald den Landbriefträger, der ihr dann ein gefaltetes Stück Papier überreicht.

Sie holte die Brille, die sie beim Nähen, brauchte, aus der Tasche und las:

»Frau Wilde!

Mit Gegenwärtigem mache ich Ihnen die Trauerkunde, daß Ihr Sohn Viktor gestern durch eine Kanonenkugel getötet und, wie vorauszusehen, in Stücke gerissen worden ist. Ich stand dicht neben ihm, weil wir in der Kompanie Nebenmänner waren, und er sagte mir gerade, ich solle, falls ihm was passiert, es Ihnen mitteilen.

Ich habe ihm die Uhr aus der Tasche genommen und werde sie Ihnen, wenn der Krieg zu Ende ist, überbringen.

Mit hochachtungsvollem Gruß

Ihr Cäsar Rivot
Gefreiter im 23. Linienregiment.«

Der Brief war drei Wochen alt.

Sie weinte nicht, sondern blieb ruhig; so fassungslos und betäubt war sie, daß sie nicht einmal Schmerz empfand. Ihr einziger Gedanke war: »Also Viktor ist jetzt auch tot!« Nach und nach stiegen ihr die Tränen in die Augen, und der Schmerz überwältigte sie. Gedanken kamen ihr, einer schrecklicher und quälender als der andere. Sie sollte ihr Kind, ihren »Großen«, nie mehr küssen, nie mehr. Die Gendarmen hatten den Vater, die Preußen den Sohn getötet. Er war von der Kugel in Stücke gerissen worden! Und ihr ist's, als sah' sie ihn vor sich: den Kopf hintenüberhängend, mit offenen stieren Augen, und wie in Stunden des Zornes kaut er an den Enden des dicken Schnurrbarts.

Was war hernach mit seinem Leichnam geschehen? Wenn man ihr doch wenigstens ihr Kind ausgeliefert hätte, wie man ihr einst ihren Mann heimbrachte, die Kugel mitten in der Stirn.

Da hörte sie Stimmen. Die Preußen kamen aus dem Dorf zurück. Hastig barg sie den Brief in der Tasche, trocknete sorgfältig die Augen und empfing sie mit der gewöhnlichen Miene.

Sie lachten alle vier ausgelassen; denn sie hatten einen fetten Hasen erwischt und gaben der Alten durch Gebärden zu verstehen, daß sie etwas Gutes zum Mittag heimgebracht hatten.

Sie ging sogleich daran, das Essen zu bereiten. Aber sie vermochte es nicht übers Herz zu bringen, den Hasen zu töten. Und doch war's nicht der erste! Einer der Soldaten machte dem Tier mit einem Schlag hinter die Löffel den Garaus. Als der Hase getötet war, zog sie ihm das Fell ab. Doch der Anblick des Blutes, das ihr bei der Arbeit über die Hand rieselte, des warmen Blutes, das sie kalt werden und gerinnen fühlte, ließ sie von Kopf bis zu Füßen erschauern. Sie hatte ständig ihren in Stücke gerissenen Sohn vor Augen.

Sie setzte sich mit den Preußen zu Tisch; doch sie konnte keinen Bissen hinunterwürgen. Die biedern Pommern ließen sich den Hasen wohlschmecken und kümmerten sich gar nicht um die Alte, die sie, ohne zu sprechen, von der Seite ansah, indes ihr ein entsetzlicher Gedanke aufstieg. Doch in ihrem regungslosen Gesicht war keine Spur davon zu lesen.

Auf einmal sagte sie: »Wir sind nun schon einen ganzen Monat beisammen, und ich weiß noch nicht mal, wie ihr eigentlich heißt.«

Nach einigen Schwierigkeiten verstanden sie ihre Worte und nannten ihre Namen. Aber damit war die Alte nicht zufrieden, sie mußten sie ihr mit der Adresse ihrer Familien auf einen Zettel schreiben. Die Hornbrille auf der Nase, betrachtete sie einen Augenblick die unbekannten Schriftzüge; dann faltete sie das Blatt und schob es in die Tasche, in der der Brief lag, der ihr den Tod des Sohnes gemeldet hatte.

Nach der Mahlzeit sprach sie zu den Leuten: »Ich werde alles zurechtmachen.«

Und sie begann Heu in den Boden hinaufzuschaffen, wo jene schliefen. Es würde dann nicht so kalt sein, erklärte sie den Erstaunten. Und sie halfen ihr. Der ganze Raum wurde bis zum Dache mit Bündeln angefüllt und so ein Zimmer mit vier Heumauern hergestellt, in dem sich's prächtig schlafen mußte.

Als Mutter Wilde beim Abendbrot wieder nichts aß, äußerte einer von ihnen seine Besorgnis. Sie schützte Magenschmerzen vor. Dann zündete sie ein helles Feuer an, so daß es schön warm wurde, und die vier Deutschen kletterten, wie jeden Abend, die Leiter zu ihrem Nachtquartier hinauf.

Kaum war die Falltür geschlossen, so nahm die Alte die Leiter weg, öffnete geräuschlos die Haustür und holte neue Bündel Heu herbei, mit denen sie die Küche anfüllte. Barfuß schritt sie durch den Schnee, so leise, daß nichts zu hören war. Von Zeit zu Zeit vernahm sie das laute unregelmäßige Schnarchen der eingeschlafenen Soldaten.

Als sie ihre Vorbereitungen für hinreichend erachtete, warf sie eins der Bündel auf den Herd, und nachdem es entflammt war, zerrte sie es über die anderen hin, ging dann hinaus und wartete.

In wenigen Augenblicken war das ganze Innere des Häuschens eine Lichtmasse, dann eine furchtbare Glut, ein riesiger Feuerherd, dessen flammendes Leuchten durch das schmale Fenster hervorsprudelte und auf das Schneefeld einen blendenden Strahl warf.

Jetzt drang unter dem Giebel des Hauses ein gewaltiger Schrei heraus, der sich alsbald in ein entsetzliches Geheul menschlicher Stimmen, in ein herzzerreißendes Angstgeheul verwandelte. Und als nun die Falltür aufging, da schoß eine Feuersäule zum Boden auf, erfaßte das Strohdach und stieg zum Himmel empor wie das Lohen einer Riesenfackel, und das ganze Häuschen stand in Flammen. Man hörte von innen her nicht mehr das Prasseln des Feuers, das Krachen der einstürzenden Mauern und Balken. Plötzlich brach das Dach zusammen, und das brennende Gerippe des Hauses sprühte inmitten dichter Rauchwolken ein mächtiges Funkenmeer in die Luft. Das Schneefeld leuchtete davon wie ein silbernes, rot abgetöntes Tuch.

In der Ferne hub eine Glocke zu läuten an. Unbewegt stand die Alte vor ihrem zerstörten Hause, die Flinte des Sohnes in der Hand, aus Furcht, es könnte einer der Männer entkommen.

Als sie sah, daß es zu Ende war, warf sie ihr Gewehr in die Glut. Ein lauter Knall.

Leute kamen jetzt herzu, Bauern und Preußen.

Ruhig und zufrieden saß die Alte auf einem Baumstamm. Ein deutscher Offizier, der französisch wie ein Sohn Frankreichs sprach, fragte sie: »Wo sind Ihre Soldaten?« Mit dem mageren Arm deutete sie auf den feuergerösteten Trümmerhaufen und antwortete laut: »Da drin!«

Man umringte sie. Der Offizier fragte weiter: »Wie ist das Feuer entstanden?«

»Ich hab's angelegt!« gab sie zur Antwort.

Man wollte ihr's nicht glauben; das Unglück, dachte man, habe sie wahnsinnig gemacht. Da erzählte sie, während alles um sie herumstand und zuhörte, die Sache von Anfang bis zu Ende, von der Ankunft des Briefs bis zum letzten Schrei der in ihrem Hause verbrannten Menschen. Sie vergaß auch nicht das Geringste von dem, was sie empfunden und was sie getan hatte.

Als sie damit fertig war, holte sie aus ihrer Tasche zwei Stücke Papier, putzte ihre Brille, um die Schreiben beim letzten Aufflackern des Feuers unterscheiden zu können, und sagte dann, auf das eine zeigend: »Das hier ist der Tod Viktors«, und auf das andere weisend, fügte sie, mit dem Kopf auf die Trümmer deutend, hinzu: »Und hier drauf stehen ihre Namen, daß man nach Hause schreiben kann.« Ruhig reichte sie dem Offizier den Zettel und sagte: »Sie können auch schreiben, wie's gekommen ist, und den Eltern mitteilen, daß ich's gewesen bin, Victoire Simon, die ›Wilde‹! Vergessen Sie's nicht!«

Der Offizier gab auf deutsch einen Befehl. Man ergriff sie und stellte sie gegen die noch warme Mauer ihres Hauses. Dann marschierten ihr gegenüber auf zwanzig Meter Entfernung zwölf Soldaten auf.

Sie begriff und wartete.

Ein neues Kommando, dem alsbald ein heftiger Knall nachfolgte. Ein Schuß kam verspätet, allein, nach den anderen.

Die Alte brach nicht zusammen. Sie fiel vornüber, als hätte man ihr die Beine weggemäht. Der Offizier näherte sich ihr. Sie war von den Kugeln fast in Stücke gerissen worden, und in der geballten Hand hielt sie den blutgebadeten Brief.

 

Da mußte ich an die Mütter der vier braven Burschen denken, die hier in den Flammen ihren Tod gefunden hatten, und an den herben Opfermut der anderen Mutter, die sie füsiliert hatten.

Und ich bückte mich und steckte einen kleinen feuergeschwärzten Stein zu mir.


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