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Charles Dickens

Der schwarze Schleier

An einem Dezemberabend des Jahres 1800 saß ein junger Wundarzt an einem behaglichen Feuer in seinem kleinen Wohnzimmer und hörte dem Winde zu, der große Regentropfen gegen das Fenster warf und im Schornstein traurig heulte und pfiff. Es war naßkalt; er war den ganzen Tag durch Kot und Wasser gewatet und ruhte jetzt bequem im Schlafrock und Pantoffeln aus und dachte sinnend, fast im Halbschlafe, an hundert und wieder hundert Dinge mannigfacher Art. Zuerst dachte er, wie scharf der Wind doch blase und welches Ungemach er im Kampfe gegen Sturm und Regen ausstehen müsse, wenn er nicht behaglich daheim säße; dann wieder, wie vergnügt es alljährlich am Weihnachtsabend im Kreise der Seinigen und teurer Freunde zugehe, wie froh alle sein würden, ihn wiederzusehen, und wie glücklich Rose wäre, wenn er ihr sagen könnte, daß er endlich einen Patienten bekommen habe und mehrere zu bekommen hoffe, und er sie dann heimführen könnte, ihm die Einsamkeit zu versüßen und ihn zu neuen Anstrengungen anzuspornen. Möchte doch wissen, dachte er weiter, wann ich zu meinem ersten Patienten gerufen werde, oder ob mir das Schicksal bestimmt hat, überhaupt keine Praxis zu erlangen. Endlich dachte er abermals an Rose, schlief ein und träumte von ihr, bis es ihm war, als tönte wirklich ihre süße Stimme in seinen Ohren und als ruhte ihre kleine weiche Hand auf seiner Schulter.

Seine Schulter wurde wirklich von einer Hand berührt, die jedoch weder klein noch weich war, denn sie gehörte einem derben rundköpfigen Buben an, den das Kirchspiel für einen Schilling und Beköstigung wöchentlich für Botengänge vermietete.

»Eine Dame, Sir – ein Dame!« flüsterte er, den Schläfer schüttelnd.

»Was für eine Dame?« rief unser Freund, aus dem Schlafe auffahrend, nicht ganz gewiß, ob sein Traum eine bloße Täuschung war, und fast erwartend, Rose selbst an seiner Seite zu sehen. – »Was für eine Dame? Wo?«

»Da, Sir«, erwiderte der Knabe, auf die Glastür weisend, die in das Geschäftszimmer führte, und er sah aus, als wenn ihm die ungewöhnliche Erscheinung des Kunden den größten Schrecken eingejagt hätte.

Der Wundarzt wendete sich nach der Tür um und erschrak selbst im ersten Augenblick. Die Dame war ungewöhnlich groß, in tiefe Trauer gekleidet und stand so dicht hinter der Tür, daß ihr Gesicht fast das Glas berührte. Sie hatte sich sorgfältig in einen schwarzen Mantel gehüllt und ihr Antlitz durch einen dicken schwarzen Schal vermummt. Sie stand kerzengerade und regungslos da. Der Wundarzt fühlte, daß sie die Augen auf ihn gerichtet hielt; doch gab sie nicht durch die leiseste Bewegung zu erkennen, daß sie gesehen hatte, wie er sich nach ihr umdrehte.

»Wünschen Sie mich zu konsultieren?« fragte er ein wenig zögernd, indem er die Tür öffnete.

Die verschleierte Gestalt blieb regungslos stehen und neigte nur den Kopf ein wenig.

»Ich bitte, treten Sie herein«, sagte der Wundarzt höflich.

Sie begann vorwärts zu schreiten, blieb aber sogleich wieder stehen und drehte den Kopf nach dem Knaben, zu dessen grenzenlosem Schrecken.

»Geh hinaus, Tom«, sagte der junge Mann; »zieh den Vorhang vor und verschließe die Tür!«

Tom tat, wie ihm befohlen war, und suchte darauf sogleich mit seinen großen Augen das Schlüsselloch.

Der Wundarzt schob einen Stuhl an den Kamin und winkte der geheimnisvollen Dame, Platz zu nehmen. Sie ging langsam zum Stuhl, und er bemerkte, daß sie durch Schmutz und Wasser gegangen sein mußte.

»Sie sind sehr naß«, sagte er.

»Ja«, erwiderte die Unbekannte mit leiser, kaum hörbarer Stimme.

»Und krank?« fragte der Wundarzt mitleidig, denn der Ton ihrer Stimme schien anzudeuten, daß sie heftige Schmerzen litt.

»Ja, ich bin krank«, war die Antwort, »sehr krank, doch nicht körperlich. Ich bin nicht meinetwegen zu Ihnen gekommen, Sir. Wenn ich leiblich krank wäre, würde ich nicht allein, bei solchem Unwetter und zu solcher Stunde, ausgegangen sein; und läg' ich auf dem Krankenlager, wie gern würde ich, Gott weiß es, in vierundzwanzig Stunden meinen Geist aufgeben. Es ist ein anderer, für den ich Hilfe suche, Sir. Vielleicht ist es unsinnig, Hilfe für ihn bei Ihnen zu suchen: allein der Gedanke hat mich keine Nacht in langen traurigen Stunden bei Wachen und Weinen verlassen, und obwohl ich einsehe, daß ihm kein menschlicher Beistand helfen kann, stockt mir doch das Blut in den Adern bei dem Gedanken, ihn hilflos zu lassen!«

Ihre ganze Gestalt erbebte bei diesen Worten, und zwar so, wie sie es nicht hätte erkünsteln können. Dem Wundarzt ging ihr offenbar tiefer Seelenschmerz zu Herzen. Er hatte noch nicht genug Elend gesehen, durch dessen Anblick so viele erfahrene Männer seines Berufs gegen menschliche Leiden mehr oder minder abgestumpft werden. Er stand rasch auf und sagte:

»Wenn sich der Patient, von dem Sie sprechen, in einem so hoffnungslosen Zustande befindet, wie Sie sagen, so ist kein Augenblick zu verlieren. Ich will sogleich mit Ihnen gehen. Warum suchten Sie nicht schon früher ärztlichen Beistand?«

»Weil es früher so nutzlos gewesen sein würde, wie es jetzt auch ist«, entgegnete die Unbekannte, schmerzlich die Hände zusammenschlagend.

Der Wundarzt warf einen forschenden Blick nach dem schwarzen Schleier. Er hätte gar zu gern den Ausdruck des darunter verborgenen Antlitzes beobachtet; doch der Schleier war zu dicht, als daß unser Freund auch nur einen Zug zu erkennen imstande gewesen wäre. »Sie sind wirklich krank«, sagte er mild, »obgleich Sie es nicht wissen, und leiden an einem heftigen Fieber, das Ihnen die Kraft verleiht, Anstrengungen zu ertragen, ohne sie zu fühlen.« Er reichte ihr ein Glas Wasser und setzte hinzu: »Trinken Sie, suchen Sie sich zu fassen, sagen Sie mir dann, wie lange der Patient schon leidet, und beschreiben Sie mir die Krankheit, so ruhig Sie können! Ich werde daraus entnehmen, womit ich mich für meinen Besuch versehen muß, und bin dann bereit, Sie zu begleiten.«

Die Unbekannte hob das Glas zum Mund, ohne den Schleier zu lüften, setzte es unberührt wieder nieder und brach in Tränen aus.

»Ich weiß«, sagte sie unter lautem Schluchzen, »daß das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, wie Fieberphantasie klingt. Es ist mir schon von anderen weniger freundlich als von Ihnen gesagt worden. Ich bin keine junge Frau, Sir, und man sagt, daß, wenn das Leben zu Ende geht, der letzte kurze Rest, so wertlos er allen anderen erscheinen mag, dem Alten teurer sei als alle früheren Jahre, obgleich sich die Erinnerung an gute, längst entschlafene Freunde daran knüpft und die letzten Lebensjahre vielleicht durch ungeratene und undankbare Kinder belastet sind. Ich muß mein Lebensziel in wenigen Jahren erreicht haben; ich gehe ihm gern entgegen und würde ohne Seufzen, ja mit Freuden sterben, wenn das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, unwahr oder eingebildet wäre. Morgen früh wird der, von dem ich rede – ich weiß es, so inbrünstig ich wünsche, daß es anders sein möchte –, außerhalb des Bereichs aller menschlichen Hilfe sein; und doch dürfen Sie ihn heute abend nicht sehen, obgleich er in Todesgefahr ist, und würden ihm auch nicht helfen können.«

»Ich gedenke Ihren Schmerz durch keine Bemerkung über das, was Sie gesagt haben, zu vergrößern noch zudringlich einem Gegenstande genauer nachzuforschen, worüber Sie mich offenbar im dunkeln lassen wollen«, erwiderte unser Freund nach kurzem Schweigen, »doch sind Ihre Angaben so widersprechend, daß ich sie nicht zu vereinigen weiß und sie ein wenig unwahrscheinlich finden muß. Der Patient stirbt in dieser Nacht, und ich darf ihn nicht zu einer Zeit sehen, wo mein Beistand von Nutzen sein könnte. Sie glauben, daß mein Besuch morgen nutzlos sein wird, und begehren doch, daß ich den Patienten erst morgen sehen soll. Wenn er Ihnen wirklich so teuer ist, wie es nach Ihren Worten und Tränen zu sein scheint, warum wollen Sie nicht, daß ein Versuch gemacht werden soll, ihn am Leben zu erhalten, bevor es zu spät ist?«

»Gott stehe mir bei!« rief die Unbekannte, bitterlich weinend. »Wie kann ich hoffen, daß Fremde glauben werden, was mir selbst unglaublich erscheint! Sie wollen ihn also nicht sehen, Sir?« fügte sie, rasch aufstehend, hinzu.

»Ich sagte nicht, daß ich mich dessen weigerte«, versetzte der Wundarzt; »doch lassen Sie sich sagen, welch eine schreckliche Verantwortung auf Ihnen liegt, wenn Sie auf Ihrer unerklärlichen Verzögerung bestehen und der Patient stirbt.«

»Die Verantwortung wird allerdings auf irgend jemand schwer lasten«, sagte die Unbekannte mit Bitterkeit. »Ich bin bereit, die auf mir lastende auf mich zu nehmen.«

»Da ich mir keine auflade«, fuhr der Wundarzt fort, »indem ich mich Ihrem Begehren füge, so werde ich morgen früh den Patienten besuchen, wenn Sie die Adresse zurücklassen wollen. Zu welcher Stunde kann ich ihn sehen?«

»Um neun Uhr«, erwiderte die Frau.

»Sie müssen meine Frage entschuldigen«, sagte der Wundarzt; »aber befindet er sich unter Ihrer Obhut?«

»Nein!«

»Dann würden Sie ihm also auch nicht beistehen können, wenn ich Ihnen Verordnungen für seine Behandlung über Nacht mitgäbe?«

Die Unbekannte erwiderte unter Tränen: »Nein!«

Da wenig Aussicht war, weitere Auskunft zu erhalten, und da unser Freund die Gefühle der Unglücklichen zu schonen wünschte, die anfangs gewaltsam an sich gehalten hatte, jetzt aber von ihrem Weh ganz überwältigt schien, so wiederholte er sein Versprechen, den Patienten am anderen Morgen zur bestimmten Stunde zu besuchen, und entließ die rätselhafte Frau, die sich, nachdem sie ihm ein Haus in einem entlegenen Teile von Walworth bezeichnet hatte, nicht minder geheimnisvoll entfernte, als sie gekommen war.

Man wird leicht glauben, daß ein so außerordentlicher Besuch einen beträchtlichen Eindruck auf das Gemüt des jungen Wundarztes machte und daß er viel und lange und ebenso vergeblich nachsann, wie das Rätsel zu lösen sein möchte. Gleich anderen hatte er oft von merkwürdigen Fällen gehört und gelesen, in denen Ahnungen oder Vorhersagungen des Todes gewisser Personen auf den Tag, ja auf die Minute eingetroffen waren. Einen Augenblick war er zu glauben geneigt, daß der vorliegende Fall ähnlich aufgefaßt werden müsse, wogegen er wieder bedachte, daß bei den Vorfällen, die ihm bekannt waren, nur von Gefühlen erzählt wurde, die Personen von ihrem eigenen Tode gehabt hatten. Die Besucherin hatte jedoch von einer dritten Person, einem Manne, gesprochen, und unmöglich war anzunehmen, daß ein bloßer Traum oder Einbildung sie veranlaßt haben sollte, mit so schrecklicher Bestimmtheit von dessen Tode zu reden. Sollte der Mann vielleicht am anderen Morgen ermordet werden und war es die Absicht der Frau – die etwa anfänglich eingewilligt, an der Tat teilzunehmen, sich durch einen Eid zum Schweigen verpflichtet und später bereut hatte –, womöglich wenigstens seinen Tod, wenn einmal einer Mißhandlung nicht zu begegnen war, durch Sorge für zeitigen und ärztlichen Beistand zu verhindern? Doch war es denkbar, daß so etwas kaum zwei Meilen von der Hauptstadt geschehen konnte? Unser Freund kam daher wieder auf seinen ersten Gedanken zurück, daß der Verstand der Frau zerrüttet sein müsse, und da er sich das Rätsel auf keine andere befriedigende Weise zu lösen wußte, so blieb er bei der Annahme stehen, daß sie verrückt sei; sooft und soviel er auch noch während seiner schlaflosen Nacht darüber hin und her sann: der schwarze Schleier stand ihm beständig vor der Seele.

Walworth ist ein elender Ort ohne regelmäßige Straßen und war vor fünfunddreißig Jahren zum größten Teil kaum besser als eine traurige Einöde, in der nur wenige Bewohner von sehr zweideutigem Charakter hausten: Leute, die ihrer Armut halber in anderen Gegenden keine Wohnung mieten konnten oder denen die Abgeschiedenheit von Walworth wegen ihrer Lebensweise besonders wünschenswert war. Viele Häuser, die man jetzt dort erblickt, waren damals noch nicht gebaut und die vorhandenen so erbärmlich wie möglich.

Als der junge Wundarzt durch die Ortschaft ging, bot sich ihm daher kein erfreulicher Anblick dar, und die ganze Umgebung war wenig geeignet, die Beklemmung zu verscheuchen. Sein Weg führte ihn seitwärts von der Heerstraße über einen sumpfigen Anger, durch unregelmäßige Gassen und an halb zerfallenen Hütten vorüber. Bald hielt ihn ein Baumstamm, bald eine Pfütze oder ein kleiner Bach auf, der durch den in der Nacht gefallenen starken Regen entstanden war; und hier und da bezeugte ein elender Garten und der Zustand der Einzäunung sowohl die Armut der Eigentümer wie ihre geringe Achtung fremden Eigentums. Nur dann und wann ließen sich einzelne Bewohner vor den Haustüren sehen – etwa ein schmutziges Weib, das ein Gefäß mit Wasser ausgoß, oder ein Kind, das ein anderes aus dem tiefen Schmutze hereinholte. Und obendrein war alles in einen dichten, dumpfigen Nebel gehüllt.

Nachdem unser Freund lange und mühselig durch Schmutz und Wasser gewatet war und oft gefragt und ebensooft widersprechende Antworten erhalten hatte, fand er endlich das ihm bezeichnete Haus. Es war ein kleines, niedriges Gebäude und gehörte zu den schlechtesten, die er auf seinem Wege gesehen hatte. Im Erdgeschoß waren die Fensterläden geschlossen, ohne befestigt zu sein, und vor das Fenster im oberen Stock war ein alter gelblicher Vorhang gezogen. Das Haus stand ganz allein am Ausgange einer engen Gasse.

Auch der mutigste Leser wird nicht lächeln, wenn er liest, daß unser Freund ein wenig zauderte und es nicht sogleich vermochte, zu klopfen. Die Londoner Polizei jener Zeit war mit der jetzigen nicht zu vergleichen. Zur damaligen Zeit waren sogar die Hauptstraßen Londons nur schlecht beleuchtet, und die Vorstädte erhielten ihr Licht lediglich von Mond und Sternen. Diebsgelichter in seinen Zufluchtsorten zu entdecken, war stets sehr schwierig. Hinzu kam, daß unser Freund eine Zeitlang in den Hospitälern der Hauptstadt beschäftigt gewesen war, und leicht genug konnte er auf den Gedanken kommen, daß hier Abscheulichkeiten unentdeckt verübt werden könnten, wie sie später von Burke und Bishop schauderhaften Angedenkens wirklich verübt wurden. Sei dem, wie ihm wolle: er zögerte, trat an die Haustür heran und wieder zurück und ging einige Schritte auf und ab, um sich zu orientieren. Sein Entschluß war jedoch in wenigen Augenblicken gefaßt, da er großen Mut besaß – er klopfte. Gleich darauf hörte er ein leises Geflüster, als wenn jemand am Ende des Hausflurs heimlich mit einer auf dem Treppenabsatze stehenden Person spräche; schwere Tritte näherten sich, und die Tür wurde vorsichtig von einem großen, widerlich aussehenden Manne mit schwarzem Haar und einem Gesicht geöffnet, das leichenhaft bleich war.

»Treten Sie 'rein, Sir«, sagte er leise.

Der Wundarzt trat ein; der Mann verschloß die Tür sorgfältig und ging nach einem kleinen Hinterzimmer am Ende des Hausflurs voran.

»Komme ich noch früh genug?« fragte unser Freund besorgt.

»Zu früh«, war die Antwort.

Der Wundarzt drehte sich mit einer verwunderten und unruhigen Miene hastig um.

»Treten Sie nur 'rein, Sir«, sagte sein Führer, dem die Unruhe des Besuchers offenbar nicht entgangen war; »treten Sie nur 'rein: Sie sollen auf mein Wort keine fünf Minuten aufgehalten werden.«

Unser Freund ging in das Zimmer und blieb allein.

Es war ein kleines, kaltes Gemach mit zwei schlechten Stühlen und einem ebenso schlechten Tisch. Im Kamin brannte ein winziges Feuer, das die Luft nur dunstiger machte, denn die Feuchtigkeit floß im wahrsten Sinne des Wortes von den Wänden herunter. Durch das Fenster, dessen Scheiben größtenteils zerbrochen und verstopft waren, sah man in einen kleinen, unter Wasser stehenden Garten. Nichts regte sich, weder im Hause noch außerhalb, und unser Freund setzte sich erschauernd an den Kamin, den Verlauf seines ersten ärztlichen Besuchs abzuwarten.

Nach einigen Minuten hörte er ein Fuhrwerk dem Hause nahen. Es hielt; die Haustür wurde geöffnet; sodann folgte ein langes Hin- und Herreden, ein Geräusch von Fußtritten und ein Gedränge auf Hausflur und Treppe, als wenn zwei oder drei Männer etwas Schweres hinauftrügen. Bald darauf kamen sie wieder herunter und entfernten sich. Die Tür wurde hinter ihnen verschlossen, und alles war wieder still wie zuvor.

Es verflossen abermals fünf Minuten, und der Wundarzt hatte sich eben entschlossen, jemand im Hause aufzusuchen, als die Tür geöffnet wurde und ihm seine Besucherin vom vergangenen Abend, ebenso gekleidet und durch denselben schwarzen Schleier verhüllt, winkte. Ihre ungewöhnliche Größe und der Umstand, daß sie nicht sprach, ließen einen Augenblick den Gedanken in ihm aufkommen, daß er es mit einem verkleideten Manne zu tun habe; doch ihre gramvolle Haltung, ihr krampfhaftes Schluchzen überzeugte ihn sogleich wieder, daß sein Argwohn töricht sei, und er folgte ihr mit raschen Schritten. Sie führte ihn die Treppe hinauf und stand an der Tür des vorderen Zimmers still, um ihn hineinzulassen. Das Zimmer war sehr dürftig, nur mit einem alten Schranke, einigen Stühlen, einem Bett ohne Vorhänge und einer gewürfelten Decke ausgestattet. Das verdunkelte Fenster ließ so wenig Licht herein, daß man alle Gegenstände nur sehr unbestimmt sah, und der Wundarzt hatte daher auch die menschliche Gestalt nicht sogleich bemerkt, auf der seine Blicke hafteten, sobald die Frau an ihm vorüberstürzte und sich vor dem Bette auf die Knie warf.

Ausgestreckt auf dem Bett, dicht eingehüllt in ein leinenes Tuch und mit Decken bedeckt, lag die Gestalt steif und regungslos da. Ihr Kopf und Gesicht waren die eines Mannes und unverhüllt, nur daß um den Kopf eine Binde geschlungen und unter dem Kinn zugebunden war. Die Augen waren geschlossen. Der linke Arm ruhte schwer auf dem Bett; die Frau hatte die ihren Druck nicht erwidernde Hand gefaßt. Der Wundarzt schob sie sanft zur Seite und erfaßte die Hand selbst.

»Mein Gott!« rief er aus, sie unwillkürlich wieder fallen lassend – »der Mann ist tot!«

Die Frau fuhr empor und schlug die Hände zusammen.

»Oh, sagen Sie das nicht, Sir«, schrie sie so leidenschaftlich, daß unserem Freunde der Gedanke zurückkehrte, sie müsse wahnsinnig sein; »sagen Sie das nicht; ich kann – kann es nicht – kann es unmöglich ertragen! Es sind schon viele Menschen wieder ins Leben gebracht, die von ungeschickten Ärzten aufgegeben waren, und viele andere gestorben, die hätten wiederhergestellt werden können, wenn die rechten Mittel angewendet worden wären. Gehen Sie nicht wieder fort, Sir, ohne etwas zu seiner Rettung getan zu haben. Vielleicht verläßt ihn in diesem Augenblick das Leben. Um Gottes willen, Sir, tun Sie, was in Ihrer Macht ist!«

Während sie so sprach, rieb sie dem leblos Daliegenden wie außer sich Stirn, Brust und die kalten Hände, die, wenn sie sie losließ, regungslos und schwer auf die Bettdecke zurückfielen.

»Es kann nichts helfen, meine gute Frau«, sagte der Wundarzt beruhigend. »Doch halt – nehmen Sie den Fenstervorhang herunter.«

»Warum?« fragte die Frau, hastig aufstehend.

»Nehmen Sie den Vorhang herunter«, wiederholte der Wundarzt ein wenig aufgeregt.

»Ich habe das Zimmer absichtlich verdunkelt«, erwiderte die Frau und vertrat ihm den Weg, als er aufstand. »Oh, Sir, haben Sie Mitleid mit mir! Wenn es ohne Nutzen und wenn er wirklich tot ist, so lassen – lassen Sie die Leiche nicht von anderen Augen als den meinigen sehen.«

»Der Mann da starb keinen leichten Tod«, sagte der Wundarzt. »Ich muß die Leiche sehen.«

Er riß den Vorhang auf, so daß das volle Tageslicht hereinströmte, und ging zum Bett zurück. »Da ist Gewalt verübt worden«, fuhr er, nach der Leiche zeigend, fort und schaute der Frau forschend in das Gesicht, das er jetzt zum ersten Male sah. Sie hatte in ihrem Ungestüm Hut und Schleier zur Seite geworfen und stand aufgeregt vor ihm. Sie mußte etwa fünfzig Jahre alt sein und war einst sicher schön gewesen. Kummer und Tränen hatten aber ihr Antlitz verwüstet. Sie war blaß wie der Tod; ihre Lippen bebten krampfhaft, und in ihren Augen glühte ein unnatürliches Feuer, aus dem nur zu deutlich hervorging, daß ihre leibliche wie geistige Kraft unter gehäuftem Weh dem Erliegen nahe war.

»Da ist Gewalt verübt worden«, sagte der Wundarzt, sie fortwährend fest in das Auge fassend.

»Ja, ja, so ist es«, erwiderte die Frau.

»Der Mann ist gemordet.«

»Ich rufe Gott zum Zeugen an, daß er es ist – mitleidslos, unmenschlich gemordet.«

»Von wem?« fragte der Wundarzt, die Frau am Arme fassend.

»Schauen Sie selbst und dann fragen Sie mich«, erwiderte sie.

Der Wundarzt beugte sich über die Leiche, auf die nun das volle Tageslicht fiel. Der Hals war geschwollen; rund herum lief ein blau-rötlicher Streifen. Dem Wundarzt wurde der Zusammenhang plötzlich klar.

»Dies ist einer von den Leuten, die heute morgen gehängt wurden!« rief er, sich schaudernd abwendend.

»Ja, so ist es«, erwiderte die Frau mit einem leeren Blick.

»Wer ist er?« fragte der Wundarzt.

»Mein Sohn!« antwortete die Frau und sank bewußtlos zu Boden.

Es war so. Ein Kumpan von ihm war aus Mangel an Beweisen freigesprochen, er zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Die Mutter war eine Witwe, ohne Freunde und ohne Vermögen; sie hatte sich das Notwendigste versagt, um es an ihren verwaisten Knaben zu wenden, der ihre flehentlichen Bitten, die Opfer, die sie für ihn gebracht, vergessen und sich einem zügellosen und verbrecherischen Lebenswandel hingegeben hatte. Die Folgen waren sein Tod durch Henkers Hand, seiner Mutter Schande und unheilbarer Wahnsinn.

Noch viele Jahre besuchte unser Freund bei einer guten Praxis und glänzenden Stellung, in der viele andere ein so elendes Wesen vergessen hätten, Tag für Tag die harmlose Wahnsinnige und flößte ihr nicht nur durch seine Gegenwart und gütige Behandlung Ruhe ein, sondern erleichterte ihre betrübte Lage auch mit freigebiger Hand. Als ihrem Tode ein flüchtiger Strahl der Verstandeshelle vorherging, entstieg ihren Lippen ein inbrünstiges Gebet für sein Wohlergehen. Es drang zum Himmel und ward erhört. Die Segnungen, die er ihr zuführte, sind ihm tausendfältig vergolten. Und keine Erinnerungen berühren ihn tiefer als die an den schwarzen Schleier.


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