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Paris, 19. Juli 1914. Sonntagnachmittag drei Uhr; ich sitze am Schreibtisch und lese das soeben erschienene Buch »Un voyage« der Frau Bulteau. Ein vernünftiges Buch, in dem ruhig und europäisch über alle Verhältnisse geurteilt wird und in dem ein Absatz mit den Worten beginnt: »J'aime l'Allemagne«. Über dieses Werk, das gerade jetzt im rechten Augenblicke herauszukommen scheint, könnte man in den nächsten Tagen ein Feuilleton für das »Berliner Tageblatt« schreiben.
Telefonklingel nebenan: Die Redaktion in Berlin: sie bittet mich, heute abend einen recht ausführlichen Bericht über die Unruhen in Paris bringen zu wollen. Warum ich denn nicht überhaupt schon längst über so etwas gemeldet hätte. »Welche Unruhen?« frage ich. Ungeduldige Antwort: »Nun, Aufzüge auf den Straßen, deutschfeindliche Manifestation, à Berlin und so weiter. Sie verstehen schon; schön. Aber recht ausführlich, wenn ich bitten darf. Schluß; adieu!«
Ich klappe das europäische Buch zu und gehe auf meinen großen Balkon heraus, von dem man die Hälfte der Stadt übersehen kann. Rechts unten die Madelaine; hohe grauschwarze Säulen mit weißen Taubenschwärmen davor. Viele schwarzgekleidete Damen gehen zu der Vesperandacht in die Kirche. Die Straße unter mir ist leer, sie wird seit drei Jahren umgebaut. Und links über dem Häusergewimmel, in der Ferne ragt der flache Montmartreberg empor, mit der Mühle, mit endlosen Fensterfronten und oben mit der bigotten Herzjesukirche, deren Kuppel weiß in der Nachmittagssonne leuchtet.
Von hier aus ist nicht viel Unruhe und Aufregung in der Stadt zu bemerken, und ich werde wohl auf die Boulevards heruntergehen müssen, um Weiteres festzustellen. Immerhin eilt es nicht so, daß ich nicht vorher Zeit hätte, die Kürbisse auf dem Balkon zu begießen und etwas Petersilie für das Abendbrot zu pflücken.
Auf den Boulevards ist das große Menschengetriebe, wie jeden Sonntagnachmittag. Kleine Bürger aus dem Osten der Stadt und den Vororten führen ihre Frauen spazieren und zeigen ihnen in den Fensterläden der geschlossenen Geschäfte die Jupons, die fünfhundert Francs kosten und die man kaufen kann, wenn man eine Kokotte geworden ist. Vor den Cafés, an den kleinen Marmortischen sitzen viele Pariser und noch sehr viel mehr Deutsche, ganz ruhig nebeneinander. Man erkennt die Deutschen daran, daß sie Absinth trinken, was um diese Tageszeit kein Franzose tun würde.
Von Aufläufen ist nicht viel zu sehen. Drüben allerdings, auf der anderen Seite der Straße, steht ein Menschenhaufen beisammen, und ich gehe hin, um Näheres zu erkunden; es sind Bürger und Soldaten, die auf die Eröffnung des Cinemas Omnia warten, wo der neue Film »Die Pfeife des Herrn Brunier« gegeben wird. Und an der Kreuzung der Rue Villon ein anderer Haufe um einen Athleten, der, mit Trikotunterhosen bekleidet, große Gewichte in die Höhe hebt. Aber offenbar sind das nicht die Tumulte, die man von mir in Berlin erwartet.
An der Großen Oper begegne ich dem Kollegen X. Sonderbar; auch er hat soeben denselben telefonischen Auftrag von seiner Zentrale in Berlin erhalten. Auch er sucht auf der Straße nach Aufruhr und kann ihn ebensowenig finden wie ich. Wir gehen zusammen zu Appenrodt und bestellen zwei Paar Frankfurter Würste und Pilsener Bier. Und kommen dabei überein, daß es mit dem Bericht für Berlin nichts werden wird.
20. Juli 1914. Heute im Prozeß Caillaux wieder starker Andrang. Dicht neben mir, in der Enge eingekeilt, steht Barthou, der Mann der geheimen und photographierten Schriftstücke. Sieht aus wie ein leberleidender Geldbriefträger. Schlechter Teint, struppiger Bart, kleine plierige Augen. Und merkwürdig ist seine Angewohnheit, sich immer plötzlich umzudrehen, als ob er einem hinter ihm stehenden Freunde nicht traute.
In den vorderen Reihen sitzt Caillaux selbst, umgeben von mehreren sehr vornehmen älteren Damen. Sie reichen ihm dienstbeflissen kleine Papierfächer hin, mit denen er seiner Glatze wollüstige Kühlung zufächelt. Denn dieser Radikale ist ein Mann von feinsten Umgangsformen und liebt es, sich in der besten Gesellschaft zu bewegen.
Bei diesem Prozeß handelt es sich schon lange nicht mehr darum, ob Frau Caillaux den Chefredakteur Calmette niedergeschossen hat. Das wissen wir ja alle, und sie selbst gibt es gern und freudig zu. Es handelt sich vielmehr um die Frage, ob Herr Caillaux in den Liebesbriefen an seine Frau geschrieben hat: »j'embrasse tout ton petit corps«, oder ob die Briefschlußwendung nur einen Teil ihres Körpers erwähnt. Calmette und seine klerikalen Freunde behaupten das letztere; die Wendung ist nicht sehr vornehm – man verzichte darauf, ihren Sinn zu erforschen –, und wenn Caillaux sie wirklich gebraucht hat, dürfte er ein ruinierter Mann sein. Und so sieht man ein, was in diesem Falle alles von den körperlichen Reizen der Frau Caillaux abhängt: der Ausgang des Prozesses, das Glück oder Mißgeschick des begabtesten Politikers Frankreichs und in fernerer Wirkung der Aufbau und das Gleichgewicht zwischen den politischen Parteien der Republik.
Das ist überhaupt ein Gerichtsfall, wie ihn die Franzosen lieben und wie sie ihn alle drei Jahre einmal brauchen. Liebe, Politik und Mord müssen ineinander gehen, auch darf es an gestohlenen und photographierten Briefen nicht fehlen; bestochene Richter und alle ersten Männer der Republik als Zeugen, mehr oder minder zweideutig mit hineingezogen und kompromittiert. Da schweigt alles andere Interesse, und jetzt in diesem Augenblick, in dieser abschließenden Juliwoche kann man sagen, daß in dem Lande Frankreich vom Minister bis zum Ladenmädchen niemand etwas anderes denkt und liest als die Spalten dieses Gerichtsprozesses.
In der Pause zeigt mir mein Freund S. einen Brief seines Vaters, in dem es heißt: »Packe Deine Koffer und mache Dich bereit, daß Du mit dem nächsten Zuge in die Heimat abreisen kannst.« Dieser Brief könnte merkwürdig erscheinen, aber wir alle sind der Meinung, daß das eine unbegründete Angstmeierei ist. Du lieber Gott, was sollte denn vorliegen; dieses sommerliche Europa ist ja ganz ruhig, bis auf das ewige Balkangeschwätz da unten, das allmählich langweilig wird. Wer fragt nach dem Balkan; die Welt hat andere Sorgen.
Abends bei Lapérouse; ganz außergewöhnliche Steinbutte in Muschelsauce. Hinterher mit den T.s in das Sanssouci der Rue Caumartin, wo der beste Tango zu haben ist. Zehn schwarzhaarige Pariserinnen tanzen ihn. Ich glaube, diese schwarzhaarigen Pariserinnen stammen aus der Lausitz oder so; aber sie tanzen gut.
25. Juli. Esse mit Professor Marmorek im Wiener Restaurant der Rue d'Hauteville. Gänseleber mit Zwiebel. Wo sind die großen, stattlichen Oberkellner hin, die in diesem Lokale zu bedienen pflegten? Sie waren Österreicher und sind jetzt wohl irgendwo in die Heimat abberufen worden, wo sie demnächst anderes tun werden, als den Herren Parisern Pilsener Bier zu servieren. Kein Zweifel, daß Paris sich zu leeren beginnt; die Deutschen und Österreicher reisen ab, es wird unbehaglich; könnte ich, wie ich wollte, ich nähme mein Lieb unter den Arm und zöge aus dieser schwülen, schwärenden Stadt fort, wo es grün und friedlich ist, in den Böhmerwald oder sonstwohin. Aber man hat seinen Dienst und wird aushalten bis zum Schlüsse.
Hinterher sitzen wir noch im Café Madrid mit dem Schriftsteller Aulard vom »Journal« und anderen Kollegen. Krieg, Krieg und wieder Krieg. Ich frage Aulard: »Was geschieht, wenn es dazu kommen sollte, mit den vielen Deutschen hier in Paris?« Er antwortet lächelnd: »Wir werden euch zu Wurst verarbeiten; aber vorher lassen wir euch rasieren.«
Witziges Volk, diese Franzosen.
26. Juli. Der »Temps« bringt die Nachricht, daß der deutsche Botschafter heute am Quai d'Orsay gewesen ist, um eine Art von Drohung oder Warnung zu überreichen. Nehme daraufhin ein Taxi und fahre zur Botschaft, um der Diplomatie auf den Zahn zu fühlen.
Die Fahrt geht die Seinekais entlang, wo die Kästen der Bücherverkäufer in langen Reihen stehen. Hier habe ich den besten Teil meiner Pariser Zeit versonnen und verträumt, und manche Stunde, die ich in der Kammer einer Rede des Herrn Augagneur widmen sollte, hier mit alten Pariser Karikaturen geschwänzt. Grauhaarige Herren stehen vor den Kästen und suchen nach einer Ausgabe des Philosophen Montesquieu, und ein junger Priester hält eine Lupe, mit der er eine antike Münze betrachtet. Drüben auf der Cité-Insel springen kleine weißgekleidete Mädchen durch Reifen, das Licht flimmert in der drückenden Schwüle des Julinachmittags, und fern über dem Montmartre steigen weiße Wolkenhäupter aus dem Dunst: die Spitzen des Gewitters, das sich über den Gefilden der Ile de France zusammenzieht.
Exzellenz v. Schoen ist freundlich und heiter wie immer. Leise, weiche Art, leicht durchwachsen mit den festeren Streifen einer gewissen studentischen Burschikosität. »Bitte, stellen Sie möglichst präzise Fragen, und ich werde mich bemühen, Ihnen möglichst unpräzise Antworten zu geben.« So sagt er witzig und bietet mir eine Zigarette an. Auf meine besorgten Fragen hat er ganz beruhigende Auskunft. Aber keine Spur; all das sind diplomatische Schritte ohne tiefere Wirkung, und auf die Nervosität der französischen Presse, die alles falsch darstellt, ist nichts zu geben. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten sind so normal, wie es die Umstände erlauben.
27. Juli. Jetzt haben sie auf den Boulevards die Terrassen der Caféhäuser eingezogen. Und mit einem Schlage ist die abendlich vertraute Straße wüst und unbehaglich geworden. Wie Aufbruch und Aufräumung sieht es aus, als verstecke sich alle Gemächlichkeit vor der herandonnernden Weltgeschichte. Aber, wie die Pariser sind, hat gerade diese Nachricht von den abgeschafften Terrassen eine große Menschenmenge hinausgelockt, die das fremde Straßenbild erstaunt und belustigt betrachtet. Nirgendwo ist auch bis jetzt noch etwas von tieferer Unruhe oder von lärmender Kriegslust zu bemerken. Ruhig, sogar heiter, allenfalls mit einem Erstaunen darüber, daß so etwas möglich ist, treibt das französische Volk den sich im Dunkeln bildenden Begebenheiten entgegen.
Die ökonomischen Beschwerden der Krisis erwecken – bis jetzt noch wenigstens – mehr Neugierde als Verwirrung. Seit zwei Tagen ist das Gold aus dem Verkehr geschwunden, und auch der, der von Volkswirtschaft nichts verstand, sieht jetzt die Bedeutung dieses von den Philosophen verachteten Metalls ein. Denn der Goldschwund hat sofort einen Mangel nach sich gezogen, der viel schlimmer ist, die Banknotenkalamität. Natürlich bewahrt vor dem Staate die Banknote ihren alten Wert; aber in Wirklichkeit will keiner sie nehmen. In keinem Restaurant wird auf Papiergeld herausgegeben; ja in einigen besonders vorsichtigen Häusern muß der Gast, bevor er seine Suppe bestellt, erst vorzeigen, ob er Silber im Portemonnaie hat. Und geht das so weiter, werden in einigen Tagen unglückliche Menschen zwar das Portefeuille voll Hundert-Franc-Scheinen haben, aber nichts zu essen finden.
Der Handel des täglichen Lebens beruht auf den silbernen Fünf-Franc-Stücken. Und weil auch dieses Metall rar wird, kommen die ältesten Exemplare dieser Münzen zum Vorschein. Stücke mit den komplizierten Gesichtszügen des Bürgerkönigs Louis Philipp, mit der Stirnlocke Karls X. und mit den großartigen Profilen des Imperators. Gestern hatte ich im Portemonnaie ein Silberstück aus der Konsulatszeit, randlos geprägt wie eine römische Medaille.
29. Juli. Poincaré kehrt von seiner skandinavischen Reise zurück. Ich erlebe das hinter der Oper an dem Gebäude der Société générale. Kavalleriepiquets, Schutzmannsketten, man steigt auf die Stühle, winkt und schreit patriotisch. Komödie und Nachäfferei: sie haben von den historischen Tagen der Väter gehört und wollen nun auch ihre große Zeit erleben.
Nie im Leben habe ich ein so heimtückisches Gesicht gesehen, wie es dieser Poincaré hat, und so falsche Augen. Er sitzt steif aufrecht im Wagen, die Augen starr geradeaus gerichtet, und grüßt wie eine aufgezogene Puppe. Oder ist das nur Angst und schlechtes Gewissen? Die sonderbarsten Geschichten sind über diesen Mann im Gange, von denen das deutsche Publikum nie etwas erfahren hat und die doch in diesen Jahren den Verlauf der inneren Politik Frankreichs bestimmt haben. Seine Ehe macht ihm keine Ehre, man sagt, daß er in Bigamie lebe, und seine Gegner haben die Dokumente in der Hand, mit denen sie ihm täglich drohen. Vielleicht ist es das, daß er jetzt so mit verzerrtem Gesicht dasitzt.
Immerhin ist der Vorgang dieses triumphalen Einzugs bedenklich; die ersten, noch unübersichtlichen Szenen eines großen Dramas entfalten sich langsam.
Und abends, am Ostbahnhof, wohin ich meine Frau begleite, sehe ich sie anmarschieren zu Tausenden. Kleine kurzbeinige Soldaten, unbeholfen unter dem schweren Tornister, aus allen dunklen Straßen kommen sie herbei, formieren sich, lärmen in den Cafes. Dazu die Blinklichter der Reklame, das Rasen der Straße, Benzingeruch in Schwaden, und in niedrigen Wolken zucken die Widerscheine der furchtbaren Stadt.
Als Strohwitwer dann noch einmal durch die Tangonacht. Bei Tabarin Engländer, Deutsche durcheinander mit falschen Pariser Kokotten, auf den Terrassen der Cafés kein Platz, und hinter den Fenstern der oberen Etagen hüpfen die Schatten all dieser neuen Tänze, Rag-Time, Très Moutarde; die Fratzen eines degenerierten Geschlechts, das reif für den Schnitter ist.
31. Juli. Heißer, überlasteter Tag der Entscheidung. Gegen zehn Uhr fahre ich zum Nordbahnhof, um einen Artikel, der Eile hat, an den Zug zu bringen. Das Automobil geht durch die krummen und überfüllten Straßen des Stadtinnern, in denen vormittägliches Marktwesen freundlich wimmelt. Die Geschäfte mit Lebensmitteln haben ihre Waren auf den Bürgersteigen ausgestellt, Hausfrauen mit unordentlichen Haaren, einen liederlichen Mantel über die unfertige Morgentoilette geworfen, wählen Salatköpfe aus und streiten, kleine Händler schieben ihre Karren mit langgedehnten Ausrufen vorwärts; es riecht anheimelnd nach Zwiebel und gebratenem Fisch. In der Rue Lafayette, vor dem bekannten Caféhaus, ist die Perlenbörse im Gange wie alle Tage; schäbige oder elegante Herren stehen an den Tischen und prüfen die kostbaren Geschmeide, die sie in kleinen Papiertüten mitgebracht haben. So mögen sie auf dem Markt von Sidon gehandelt haben, als der Kaufmann die Perle fand, die dem Himmelreich gleich war. (Matth. 13, 45.)
Das alles ist traulich und harmlos wie stets. Aber wie ich von dem Nordbahnhof her meinen Sekretär, Herrn Lery, anklingele, meldet er mir, daß aller telegrafischer und telefonischer Verkehr mit Deutschland abgebrochen sei. Und das sieht allerdings nach Krieg aus; über der Traulichkeit des Alltags scheint sich ein Wetterballen zusammengezogen zu haben.
Abends bringt der verdammte »Temps« die Meldung, daß der Kaiser von Deutschland den Kriegsgefahrzustand erklärt habe. Ich fahre wieder zur Botschaft, über die Place de la Concorde und über die Brücke. Dort ist Militär aufmarschiert, auch der Quai d'Orsay ist besetzt, und in der Rue de Lille, wo das Gebäude der Botschaft liegt, manövriert berittene Garde, die in dem Zwielicht dieser kritischen Stunde sich dramatisch genug ausnimmt.
Prinz Hatzfeld, der Attaché, empfängt mich in seinem Büro. Er rät mir, heute abend oder morgen früh abzufahren; hier sei ja doch nichts mehr zu holen, seitdem der Telegraf nicht mehr arbeite.
Nachher gehen wir beide über den Hof und begegnen dort dem Botschafter selber, im grauen Anzug, kleinem Hut, der verdächtig reisefertig aussieht.
»Sind Ihre Koffer gepackt?« fragt er – und dann besprechen wir gemeinsam, welche Reiseroute aus Frankreich heraus für mich die beste sein würde. Über Belgien nicht, so meint Herr von Schoen, dort komme man nicht mehr durch; die Ostbahn sei auch abgeschnitten. Mit dem Rate, tunlichst über die Schweiz oder über Italien zu reisen, werde ich verabschiedet und meinem Schicksal überlassen.
Abends im Telefonbüro der Börse; alles geht durcheinander, und die fremden Journalisten sind äußerst aufgeregt. Man schreit und reißt sich um die Telefonzellen. Nur wir Deutschen, die das alles auch angehen sollte, feiern, denn die Drähte zur Heimat sind abgeschnitten.
Einer kommt eilig herein und flüstert mir ins Ohr: »Attentat auf Jaurès im Café Croissant.« Das ist dicht nebenan, und in zwei Minuten stehe ich vor dem kleinen Restaurant, wo sich schon ein Menschenhaufe angesammelt hat. Hinter dem Fenster, einen Meter von mir entfernt, liegt er, über drei Marmortische gestreckt, die man zusammengestellt hat, den Kopf herunterhängend. Freunde öffnen ihm die Kleider; zu seinen Häupten stehen zwei junge Mädchen in weißen Blusen und fächeln ihm mit Servietten Luft zu, wie man in den Pausen des Ringkampfes dem erschöpften Kämpfer Kühlung zufächelt.
Sein Mund spricht noch, ich sehe es deutlich, und die Hände haben ein kindliches, furchtbar rührendes Zucken. Dieser Mund, der von den Freundschaften der Völker gesprochen hat, die Hände, die er so oft in wundervoller rhetorischer Gebärde hochgehoben hatte, als trüge er die volle Fruchtschale des zukünftigen Reiches herbei. Und mußte nun sterben, gerade jetzt, weil von Freundschaft nicht mehr geredet werden darf und weil das Reich ferner ist als je.
Und nun geht der Aufruhr durch die in der Nacht gräßlich erwachende Stadt; Kavallerie fegt die Straßen entlang, und über den Boulevard zieht ein Trupp junger Leute mit der Trikolore und ruft »à Berlin« im Takt des Lampionliedes, mit dem Tone auf der ersten Silbe.
Die Fenster der ersten Etagen, wo die Ballokale sind, stehen weit offen, und feine Herren mit weißen Hemdbrüsten beugen sich vor; die Pariserinnen aber, die aus der Lausitz stammen oder aus Quedlinburg, winken mit ihren Taschentüchern und rufen: »Vive l'Armée!«
1. August: Dijon. Morgens um elf Uhr sind Lery und ich von Paris an der Gare de Lyon abgefahren, wo unbeschreiblicher Aufruhr herrscht; Hunderte von Militärwagen lagern auf den Strecken, so daß unser Zug nur im Schrittempo vorwärtskommt. Die Brücken sind bewacht, stundenlang müssen wir auf den Feldern stehen. Von Fontainebleau ab sehen wir an den Bahnhofsgebäuden die großen Plakate der allgemeinen Mobilmachung angeschlagen. Und als der Zug mit großer Verspätung abends in Dijon ankommt, müssen wir heraus; die Züge sind für das Militär reserviert, und aller Eisenbahnverkehr hört auf. Und so sitzen wir fest, in einer fremden Stadt, mitten in diesem aufgeregten und immer feindlicher gesinnten Lande.
Es gibt kein anderes Mittel, als im Automobil bis an die Grenze zu fahren, und so habe ich soeben in der Stadt einen Wagen gemietet, der uns nachts nach Vallorbes bringen soll, der nächsten Station an der Schweizer Grenze. Bis dahin ist immerhin noch Zeit zu dinieren, denn so unvernünftig die Welt auch geworden sein mag, bleibe ich doch besonnen genug, um mich zu erinnern, daß man in Dijon gut ißt. Und so sitzen wir denn vorläufig jetzt um sieben Uhr in dem Hotel zur Cloche und nehmen ein Diner ein, das wohl das letzte auf französischem Boden sein dürfte. Dieses Hotel ist wohlberühmt und eines der trefflichsten Gasthäuser des alten Landes Frankreich. Welch eine Aalpastete haben wir da eben gegessen und was für einen Rehrücken. Dazu habe ich, weil wir in Burgund sind, zwei Flaschen moussierenden Burgunderweines auf den Tisch stellen lassen, und wir stoßen auf das gute Gelingen unseres Unternehmens an. In einer Stunde wird uns das Automobil abholen, und vor Mitternacht noch werden wir in der Schweiz sein und in den Bezirken des Friedens.
3. August: Besançon. Zellengefängnis. Dieses schreibe ich – und zwar auf Klosettpapier – in der Zelle 11 des Zellengefängnisses von Besançon, welches eine äußerst komfortable und moderne Anstalt ist. Ich habe einen Schemel, um darauf zu sitzen, einen handbreiten Tisch, Wasserleitung und ein eisernes Bett, das ich jeden Morgen gegen die Wand aufklappen muß. Alles ist bequem eingerichtet, und eine besondere Sorgfalt ist darauf gelegt, daß man nirgendwie Selbstmord begehen kann. Kein Nagel, an den man sich aufhängen könnte, keine scharfe Kante zum Durchritzen der Pulsadern. Eben habe ich versucht, ob man sich köpfen kann, wenn man den Kopf unter das Bett auf die Erde legt und dann die Bettstelle herunterfallen läßt. Es geht keineswegs; das Eisen bleibt einen Fuß über dem Hals stehen. Und so ist es besser, sich in Frieden zu finden und abzuwarten, was dem Himmel zu entscheiden beliebt.