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Madrid, im April 1924
In dem großen Tiziansaale des Pradomuseums, einem der besten Säle dieser Welt, steht ein Japaner und kopiert das Bildnis der Lavinia, der Tochter Tizians.
Dieses Bildnis ähnelt fast genau dem, das in Berlin hängt; es ist dieselbe Haltung und dieselbe Größe. Beide Bilder sind offenbar rein und schier von des Meisters eigener Hand, und der Wert ist gleich unermeßlich. Nur daß hier Lavinia in der Schüssel nicht Früchte trägt, sondern das blutende Haupt des Johannes, und daß ihre Arme nackt sind. (Wegen dieser nackten Arme, deren goldiges Inkarnat jeden Menschen von Geschmack verrückt machen muß, wegen dieser Arme würde ich, wenn man mir die Wahl ließe, dem Madrider Exemplar den Vorzug geben.)
Einige Kunsthistoriker haben tadelnd bemerkt, daß der freundlich stille Ausdruck des Mädchens besser zu den Früchten und nur schlecht zu dem abgeschnittenen Kopfe paßt. Aber diese Kritik ist theoretisch. Wir haben nur selten die Gelegenheit, eine junge Dame zu sehen, die einen abgeschnittenen Kopf in der Schüssel trägt, und wissen deshalb nicht, welches Gesicht sie dabei macht. Vielleicht ist sie dann besonders freundlich, denn die Grausamkeit lächelt.
Der Japaner kopiert dieses Bild, indem er es durch seine Hornbrille betrachtet, und da ich fast jeden Tag durch das Museum gehe, kann ich das Fortschreiten seiner Arbeit wahrnehmen. Und je mehr ich das Fortschreiten seiner Arbeit wahrnehme, um so mehr faßt mich Entsetzen und Grauen: der Japaner malt die Lavinia viel besser, als Tizian sie gemalt hat, und er malt sie vor allem viel echter.
Sicher gibt es in der Nähe von Tokio eine chemische Aktiengesellschaft, in der tizianisches Inkarnat hergestellt wird.
Wenn man die Dinge nach den Prinzipien der modernen Museumstechnik betrachtet – was man aber gar nicht zu tun braucht; s.u. –, so muß der Prado als die am schlechtesten eingerichtete Galerie der Welt bezeichnet werden. Noch schlechter als der Louvre in Paris.
Das Gebäude ist ungefähr hundert Jahre alt und sollte ursprünglich eine naturwissenschaftliche Sammlung aufnehmen. Selbst für diesen pädagogischen Zweck wäre es zu finster gewesen, zu schwer und zu unhandlich. Fenster sind in Menge da, die Ostfront, die, während ich dieses schreibe, vor mir jenseits der Bäume aufragt, ist fast nichts als Glas... Aber diese Fenster gehen auf schmale Gänge, in die man nichts Farbiges hängen dürfte, auch kein Marmorwerk stellen könnte.
Von den großen Künstlern sind nur Velázquez und Greco wohl zu ihrem Recht gekommen; von denen sieht man alles, und alles im offiziellen Oberlicht. Murillo schon nicht. Das herrliche Bild »Die heilige Anna unterrichtet die kleine Maria«, dieses ernsteste und tiefste Bild des Sevillaners, hängt neben einem Fenster, so daß man den Hut seitwärts vorhalten muß, um es zu sehen. Goya ist in zwei Teile zerrissen; ein großer Oberlichtsaal mit den Clous und fünf Säle unten mit dem Rest; aber Goya hat immer nur Clous gemalt und gar keinen Rest.
Du gehst eine düstere Wand entlang und siehst nicht hin. Siehst du aber einmal hin, so bemerkst du, daß da ein echter Tizian neben dem andern hängt.
Nämlich: das Museum, das am korrektesten nach den modernen Prinzipien eingerichtet wurde, ist das Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin. Es ist auch das langweiligste Museum der Welt. Ein Museum, von dem man keine Erinnerung behält, und wenn man auch noch so oft hindurchgelaufen ist. Jetzt hier an meinem Tisch denke ich darüber nach, wo und wie im Kaiser-Friedrich-Museum jene Lavinia aufgehängt ist, und finde es nicht. Aber ganz genau erinnere ich mich noch, wo und wie dieses Bild in der unmodernen Gemäldegalerie des Alten Museums gehangen hat.
Wie, wenn es mit den modernen Prinzipien nun nicht stimmt? Ich habe ein Mißtrauen gegen das Oberlicht und gegen die Kunstgeschichte. Murillo hat nicht gewußt, was Kunstgeschichte ist. Er hat nie geahnt, daß so etwas einmal aufkommen könnte. Die Bildnisse Tizians sind nicht für Oberlicht gemalt; sie sind gemalt für die prinzlichen Säle Venedigs mit großen samtnen Vorhängen. Vielleicht kommt einmal eine neue museale Schule, die lehrt, daß die alten Werke von dem Schummer und der Winkligkeit der alten Tage umgeben sein sollten.
Im Prado gibt es Sackgänge, in die niemals ein Mensch geht. Als ich zum erstenmal in einen solchen Sackgang eintrat, rief mir der Wärter nach: »Da nicht lang, mein Herr, da ist nichts. Der Eingang zum Goya-Saal ist hier links.« Ich ging aber doch hinein und blieb lange bei den Werken, die nicht mehr gelten und die hier verträumen. Auf Stilleben Weißweingläser und durchgeschnittene Zitronen. Nachgedunkeltes Schäferspiel. Große Kriegsbilder mit winterlichen Belagerungen. Verlaufen kann man sich zwischen solchen Heimlichkeiten stundenlang hier in diesem alten Museum.
Im finstersten Winkel des Hauses, unten bei den Franzosen, hangt das Bildnis einer jungen blauäugigen Prinzessin aus dem 18. Jahrhundert. Man kann es kaum erkennen; übrigens sieht es sich ja niemand an.
Sie trägt eine weite Krinoline und auf dem Kopf eine polnische Mütze mit Feder, und sie lächelt so süß, wie die Prinzessinnen des 18. Jahrhunderts alle gelächelt haben. Das ist Amalie, die Tochter des sächsischen Kurfürsten, in Dresden geboren, die später Königin beider Sizilien und dann Königin von Spanien und Indien geworden ist.
Liebe junge, süße Dresdenerin Amalie, wieviel Diamantkronen hat sie getragen, in den strahlenden Ländern des Südens. Und doch, wenn man genau hinsieht und sich an das Dunkel gewöhnt: sehen diese Augen nicht so aus, als hätten sie eben geweint?
Bei Oberlicht würden wir das besser erkennen können. Aber mir ist es lieber so.