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Herr Heinig hat in seinem Buch »Hohenzollern« die Geschichte von Wilhelms II. Wetterfahne in Bellevue erzählt. Die Wetterfahne sollte nach dem Wunsch des Kaisers auf einem Baum befestigt werden; sie paßte aber nicht auf den Baum, deshalb wurde sie auf einem Gerüst hinter dem Baum angebracht; und zwar so geschickt, daß es aussah, als säße sie doch auf dem Baum. Mit dieser Lösung war der Landesvater, auf dessen Schultern so schwere Sorgen lasteten, zufrieden.
Vielleicht ebenso schön ist die Geschichte der Sonnenuhr von Bellevue. Und da sie niemand kennt, soll sie erzählt werden.
Allerdings weiß ich nicht genau, ob Wilhelm II. selbst mit dieser Sonnenuhr zu tun gehabt hat; aber die Sache spielt unter seiner Herrschaft, und sie sieht ganz so aus, als hätte er die Finger dabei gehabt.
Die Sonnenuhr von Bellevue besteht aus Sandstein und muß sehr alt sein; ihre Formen weisen auf das achtzehnte Jahrhundert zurück. Früher stand sie, wie sich das für Sonnenuhren gehört, auf einem freien Platz am Wege, also wo der Sonnenschein hinkam und wo der Spaziergänger sie besehn konnte.
Jeder, der nach Bellevue ging, trat an die Sonnenuhr heran, und wenn der Himmel klar war, konnte man an den steinernen Linien die Zeit ablesen; und dann wunderte man sich immer wieder darüber, daß die Sonne ebenso richtig geht wie die Taschenuhr.
So war das in den fernen Zeiten, als der erste Wilhelm sein mildes Zepter führte.
Aber da kam die neue Ära und mit ihr ein etwas strammerer Zug, sowie überhaupt ein Monarch mit gesteigertem Verantwortlichkeitsgefühl.
Das wäre ja noch schöner, wenn die Sonnenuhr da so öffentlich herumstehen sollte; wenn jeder Bürger oder vielleicht sogar ein Arbeiter, also ein vaterlandsloser Geselle, wenn, mit einem Wort, der Zivilist so ohne weiteres die Sonnenuhr ansehen könnte. Und es wurde beschlossen, die Besichtigung der Sonnenuhr fernerhin zu verhindern.
Das einfachste wäre nun gewesen, eine Tafel zu errichten mit der Aufschrift: Es ist verboten, die Sonnenuhr zu betrachten. Aber das wäre vielleicht nicht wirksam genug gewesen, und man fand etwas viel Besseres: man hob die ganze steinerne Sonnenuhr auf, beförderte sie in die Mitte eines Rasenstückes und stellte sie dort im Schatten eines Baumes auf.
Dadurch waren der unerlaubten Neugier des Publikums zwei Riegel vorgeschoben. Erstens darf in Deutschland niemand über den Rasen gehen, also konnte niemand an die Sonnenuhr heran. Zweitens aber, wenn doch ein Sozialist es wagen sollte, das Gras zu betreten, so nützte ihm auch das nicht viel, denn die Sonnenuhr befindet sich im tiefen Schatten und zeigt gar nichts mehr. So steht die Sonnenuhr von Bellevue auch heute noch unter dem Schatten des rauschenden Baumes und mahnt an eine Zeit, da das Volk mit heilsamer Strenge in Zucht gehalten wurde.