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VI. Leuchtende Farben.

Asbjörn Krags plötzliche Bemerkung wirkte brutal, und dadurch erreichte er seine Absicht. Als sie das Wort Blut hörte, wurde Singers Frau wieder furchtbar erregt. Krag war über sie keinen Augenblick im Zweifel. Clary spielte keine Komödie, die Angst, die ihre fieberhafte Nervosität verriet und förmlich von ihrem bleichen Gesicht ausstrahlte, war nicht gekünstelt und berechnend. Ebenso sicher war, daß diese zwei Menschen, der Gartenarbeiter, der sich Singer nannte, und die junge Frau mit dem Kind auf dem Arm, sich liebten. Wo aber war das felsenfeste Vertrauen, womit eine Frau oder Geliebte den Anklagen begegnet, die gegen den Geliebten erhoben werden? Davon war hier keine Spur. Statt dessen legte sie eine ausgesprochene Unruhe an den Tag, einen Mangel an Zutrauen, der auffällig war. Es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, um festzustellen, daß in dieser jungen Ehe irgend etwas geschehen war, was das Zutrauen der Frau zum Mann untergraben hatte. Das alles erkannte Krag deutlich und er überlegte, wie er einen neuen Schreckensausbruch bei Clary hervorrufen könnte.

»Arnold,« sagte Clary unruhig flüsternd und trat mit dem Kind auf dem Arm zu ihrem Mann. Er legte seinen Arm wie schützend um ihre Taille. Sie bildeten eine Gruppe, die wie das Bild eines schönen jungen Eheglücks gewirkt hatte, wenn die Umgebung nicht so ungewöhnlich gewesen wäre: Das Geld, das auf den Tisch geschleudert war, der junge Verbrechersprößling Charlie in herausforderndem Trotz mitten im Zimmer und zwischen ihm und der Tür Detektiv Keller mit seinem ausgeprägten Polizeiäußeren, wachsam, hartherzig und lässig; ein Beamter, der verführerisch liebenswürdig gegen Dienstmädchen sein kann, wenn er etwas von ihnen wissen will; der unbarmherzig scherzend auftritt, wenn er einen Bankbetrüger auf der Dampferbrücke verhaftet; der eine Tür mit seiner runden gutmütigen Schulter eindrücken kann; der auf herzzerreißende Frauentränen mit einem Lächeln und einer schnoddrigen Bemerkung antwortet.

Das Wort ›Blut‹ war ausgesprochen, und es war, als ob die Luft für einen Augenblick im Zimmer erstarrte. In dieser Stille hörte man das Flüstern der sympathischen jungen Frau so deutlich wie ein Gebet in einer stillen Kapelle. »Arnold,« sagte sie, »sag' die Wahrheit, wenn du etwas weißt. Verschweige nichts.«

(O diese Weiber, dachte Krag, wie oft schaden sie ihren Männern und ihren Geliebten!)

Ihr Mann aber nahm es mit erstaunlicher Ruhe. Nichts in seinem Benehmen verriet Ärger darüber, daß sie mit ihrem Mißtrauen seine Lage verschlimmerte. Er antwortete ihr nur sehr ernst und eindringlich:

»Verlaß dich auf mich, Clary, hörst du, du darfst nicht an mir zweifeln.«

»Nein,« sagte sie weinend, »ich will nicht an dir zweifeln.«

Wenn sie sich auf ihn verließe, würde sie nicht weinen, dachte Krag.

Arnold Singer trat einige Schritte vor.

»Wer ist ermordet worden?« fragte er.

Keller antwortete:

»Sie sind ein Heuchler, mein Lieber, sagen Sie uns lieber die Wahrheit. Ist Abbé Montrose ermordet oder entführt worden?«

»Abbé Montrose,« murmelte Arnold, »der gute und gelehrte Abbé Montrose ...«

Es hatte den Anschein, als ob er beim Gedanken an den gottesfürchtigen und milden Prälaten gerührt würde.

»Achtung, Keller,« rief Asbjörn Krag von seinem Platz, »wenn jemand diesen Ton anschlägt, ist er nicht ungefährlich.«

Keller faßte Arnolds Hände.

»Keine Gewalttätigkeiten,« bat der Arbeiter. »Ich werde gutwillig mitgehen, und an meinem Anzug klebt kein Blut.«

Keller sah Charlie an.

»Was wollen wir mir dem machen?« fragte er nachdenklich.

»Er soll sich auf dem Polizeiamt melden,« sagte Krag, »vielleicht bekommen wir Verwendung für ihn.«

Das gefiel Charlie nickt. Er warf seinem Schwager einen haßerfüllten Blick zu.

»Eine schöne Suppe hast du mir eingebrockt,« sagte er und drohte ihm mit der Faust. »Mir ahnte ja etwas Schlimmes, als du mit dem Geld kamst. Hätte ich es dir nur gleich an den Kopf geworfen.«

Arnold ließ sich von dieser Beleidigung nicht aus seiner Ruhe bringen. Er antwortete nur:

»Die Gefängniszeit scheint dich feige und treulos gemacht zu haben. Das wird man vielleicht im Gefängnis. Führen Sie mich ab, meine Herren.«

Wieder wunderte Krag sich über seinen Ton. Er klang eher erstaunt und vorwurfsvoll, als eigentlich erregt. Es war, als ob Arnold die ganze Zeit über etwas nachdächte, was er nicht verstehen konnte. Und sein tragischer Ernst, der mit seiner frischen Männlichkeit wenig übereinstimmte, wirkte beklemmend. Das Ereignis schien für ihn einen schrecklichen Doppelsinn zu haben, in den er hineinblickte. So erschien es jedenfalls Krag.

Als er abgeführt wurde, erklang Clarys schmerzliches und verzweifeltes Weinen, es war, als ob ein Windhauch voll Entsetzen durch die Zimmer ginge und die freundliche Stimmung des Heims mit etwas unsagbar Düsterem vertauschte; als Arnold hinausgeführt wurde, kam das Unglück durch die offene Tür herein. Ohne der jungen Frau etwas Trostreiches sagen zu können, verließ Krag eilig mit den anderen das Zimmer – ihre Klage griff ihm ans Herz.

Bei dem Verhör auf dem Polizeiamt, das jetzt folgte, verstärkte sich noch der Eindruck, daß Arnold Singer sich mit Absicht in ein geheimnisvolles Dunkel einhüllte. Er ließ sich auf keine näheren Angaben ein, blieb nur bei dem einen, daß er Gärtner sei und die letzten Tage in Abbé Montroses Garten gearbeitet habe. Seine Absicht war nicht schwer zu durchschauen. Der einzige Beweis für seine Teilnahme am Verbrechen war die Photographie, die in dem Chaos der Bibliothek gefunden worden war und die er bei der Schlägerei wahrscheinlich aus der Tasche verloren hatte. Wenn es ihm nun gelang, einen glaubwürdigen Grund für die Anwesenheit dieser Photographie in der Bibliothek zu geben, hatte er Aussicht, den Beweis aus dem Weg zu räumen. Wenn er beweisen konnte, daß er wirklich dort gearbeitet hatte, würde er viel gewonnen haben.

Und Arnold Singer schien es tatsächlich für möglich zu halten, daß er es beweisen konnte.

Er sagte: »Ich habe die letzten vier Tage in Abbé Montroses Garten gearbeitet, und habe gestern Abend meinen Lohn für die Arbeit von Abbé Montrose selbst empfangen. Ich sah, daß der Abbé die Auszahlung auf einem Stück Papier notierte, das sich vielleicht noch in der Bibliothek befindet. Es war ein Betrag von dreißig Kronen.«

Dagegen weigerte er sich hartnäckig, nähere Aufschlüsse darüber zu geben, woher die tausend Kronen stammten, die er seinem Schwager in der Nacht gegeben hatte.

Auch der Beweggrund zu dieser seiner Weigerung war leicht zu durchschauen: Er wollte Zeit gewinnen, um vielleicht einen Ausweg zu finden, womit er diesen Umstand ebenfalls erklären konnte.

Dies alles überzeugte Keller davon, daß Arnold Singer ein ungewöhnlich schlauer Verbrecher sein müsse. Asbjörn Krag zweifelte ebenfalls nicht an der Verschlagenheit des Mannes, doch war da etwas in dem überlegenen Auftreten des Arbeiters, das ihn unsicher machte.

Der Tag verging damit, Bestätigung für die knappgefaßten Aufklärungen, die man von Singer erkalten hatte, zu finden. Außerdem hatte Detektiv Keller seine liebe Not, etwas über das frühere Leben des Verhafteten zu erfahren.

Singer hatte sich auch auf diesem Punkt in geheimnisvolles Dunkel eingehüllt. Glücklicherweise aber war Keller hier nickt allein auf den Arbeiter angewiesen. Er konnte sich vor allen Dingen an die Frau halten, die nicht imstande war, in ihrem Unglück irgend etwas zu verbergen. Außerdem hatte er den Schwager Charlie, der eifrig bemüht war, der Polizei zur Hand zu geben, weil er darauf brannte, die Polizei von seiner eigenen Unschuld zu überzeugen.

Diese Nachforschungen brachten dem eifrigen Keller sonderbare Resultate. Und während er noch damit beschäftigt war, kamen die Zeitungen mit ihren Berichten. Die Zeitungen stellten die Frechheit des Verbrechers fest. Sie konnten mitteilen, daß die ganze Kasse geplündert war und ein mörderischer Überfall stattgefunden hatte. Alle Zeitungen waren sich darin einig, daß Abbé Montrose ermordet und seine Leiche zu irgendeinem Zweck fortgeschafft worden war. Ferner waren die Zeitungen sich darin einig, daß die Polizei jetzt ernstlich zwischen den Mysterien des berüchtigten Mayonnaise-Viertels aufräumen müsse. Zum Schluß konnte man noch mitteilen, daß der bekannte und in der ganzen Welt berühmte Detektiv Asbjörn Krag an den Nachforschungen teilnähme.

So stand die Sache, als Krag und Keller sich am Nachmittag im Kontor der Detektiv-Abteilung trafen.

Man hatte Abbé Montroses Notiz über die 30 Kronen, die er an den Arbeiter Singer ausgezahlt hatte, gefunden. Also bis auf weiteres waren die Angaben des Verhafteten richtig. »Vorläufig«, sagte Keller, »müssen wir über eine Hauptperson und zwei Nebenpersonen Näheres feststellen. Etwas habe ich schon von ihnen erfahren: Sehen Sie her, hier habe ich die Sache aufgezeichnet. Es ist eine merkwürdige Geschichte.«

Keller hatte das Ganze schematisch geordnet.

Er las vor:

  1. Arnold Singer, Gärtner.
  2. Clary Whist-Singer, seine Frau.
  3. Charlie Whist, sein Schwager, kürzlich aus dem Gefängnis entlassen.

Krag saß dabei und spielte mit dem Halstuch, das man in der geplünderten Bibliothek gefunden hatte, das Halstuch in den ›leuchtenden spanischen Farben‹, in rot und gelb.

»Sie können noch einen Punkt hinzufügen,« sagte er, »nämlich:

IV. H. Ch. Andersen.«

Keller bemerkte: »Mich dünkt, diesen Namen habe ich schon mal gehört.«

»Sehr wahrscheinlich,« antwortete Krag, »denn es ist der Name des berühmten Dichters, der das Märchen von ›dem häßlichen grauen Entlein‹ geschrieben hat.«


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