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XI. Gelehrsamkeil und Cocktails

Keller packte Rudolf so heftig am Rock, daß der unglückselige Kellner wie ein Betrunkener schwankte.

»Hören Sie, mein Bester,« sagte er, »hier scheint nicht nur das Hotel wahnsinnig zu sein, sondern auch die Dienerschaft. Oder sind Sie betrunken? Was wollen Sie uns eigentlich aufbinden?«

»Der Abbé,« stammelte Rudolf erschrocken, »ich versichere Sie, meine Herren, der Abbé in eigener Person.«

Krag zeigte ihm den zerrissenen und blutigen Priesterrock.

»Fort damit!« schrie der Kellner, »stopfen Sie ihn wieder hinter die Heizung, bedenken Sie, wenn die Abendsonne käme!« (Rudolf nannte seinen riesigen Prinzipal abwechselnd das Morgengewölk, das Unwetter und die Abendsonne – abgesehen von vielen anderen Namen.) »Übrigens,« fügte er etwas getroster hinzu, »er kommt nicht hierher, denn er kann sich nicht durch den Korridor drängen. Au!«

Es war Keller, der ihn in den Arm kniff.

»Recht so,« sagte Krag, »drücken Sie den Zappel-Philipp ordentlich, damit wir etwas aus ihm herausquetschen.«

An den Kellner gewandt, fuhr er fort:

»Sie haben uns eben erst gesagt, daß der Mann, der diesen Anzug hier zurückließ – daß der Mann, der sich Thomas Uri nannte, der Abbé war. Und jetzt kommen Sie mit einem anderen.«

»Nein, nein,« stammelte der Kellner. »Herr Thomas Uri ist dennoch nicht der Abbé gewesen. Dies ist der richtige.«

»Aber Sie kennen ihn ja gar nicht. Woher können Sie es mit solcher Bestimmtheit behaupten?«

»Weil er es selbst sagt,« antwortete Rudolf.

»Wo ist er?«

»Er wohnt auf Nummer 333, das ist gleich hier nebenan.«

»Ja, natürlich,« rief Keller erbittert, »da dieses Zimmer Nummer 6 ist, muß Nummer 333 natürlich gleich nebenan sein, ein verflucht bequem eingerichtetes Hotel, Verehrtester. Wie ist er hierher gekommen?«

»Keine Ahnung. Plötzlich sitzt er auf seinem Zimmer und bestellt Cocktails, Gloria morning fizz . Er ist in vollem Ornat mit einer goldenen Kette auf der Brust.«

»Cocktails,« murmelte Krag erstaunt.

»Abbé Montrose,« sagte Keller nicht weniger erstaunt, »der gelehrte Abbé Montrose an diesem Ort und mit Gloria morning ... Ich begreife wirklich nicht –«

»Sie vergessen,« sagte Krag, »daß wir vor zwei Alternativen stehen, die beide gleich rätselhaft sind: entweder ist Abbé Montrose von den Einbrechern ermordet, und in diesem Fall ist es unbegreiflich, warum sie seine Leiche mit sich genommen haben, oder er ist lebendig entführt worden, und in diesem Fall ist es ebenso unbegreiflich, wie die Entführung stattgefunden hat. Er muß ja bis zu einem gewissen Grade gutwillig mitgegangen sein, wie wäre es den Räubern sonst möglich gewesen, ihn über das Gartengitter zu befördern. Lassen Sie uns darum nicht gar zu verwundert sein, wenn die Sache eine unerwartete Wendung nimmt. Es erwarten uns sicher noch genug Überraschungen. Ich nehme an, daß der Abbé nichts dagegen hat,« sagte er zu Rudolf gewandt, »daß wir ihm unsere Aufwartung machen.«

Der Kellner schwitzte Angst.

»Wie komme ich nur wieder aus dieser Patsche heraus,« sagte er, »ich kriege ein furchtbares Donnerwetter von der Abendröte. Wäre es nicht besser, wenn ich den Abbé hierher brächte?«

»Warum sollte das besser sein?«

»Der Abbé hat sich ausdrücklich alle Besuche auf seinem Zimmer verbeten. Er sagte aber, daß jemand in diesem Hotel nach ihm fragen würde. Nun könnte ich ja so tun, als ob ich nicht besser wüßte, als daß Sie dieser Jemand seien.«

Krag und Keller sahen sich an. Keller war unzufrieden, Asbjörn Krag aber sagte:

»Tun Sie, was Sie wollen, aber machen Sie schnell.«

Als Rudolf draußen war, stopfte Krag den zerrissenen Priesterrock wieder hinter das Gitter der Zentralheizung. Keller ging unruhig im Zimmer auf und ab.

»Glauben Sie wirklich,« sagte er, »daß diese neue Figur, die plötzlich auftaucht, der entschwundene Abbé ist?«

»In unserer Branche ist nichts unmöglich,« antwortete Krag. »Wir müssen damit rechnen, daß diese Tragödie sich nach und nach zu einer Komödie entwickelt.«

»Vielleicht hat der berühmte Abbé so viel in gelehrten Werken gelesen, daß er nicht mehr ganz richtig im Kopf ist,« sagte Keller, »sowas hat man schon früher gehört. Vielleicht liegt gar kein Einbruch vor, vielleicht hat der Abbé selbst, durch Studieren verrückt geworden, die ganze Komödie ins Werk gesetzt. Wenn der Wahnsinn erst mal von solchen gelehrten Herren Besitz ergreift, rumstiert er entsetzlich in ihren unnatürlich aufgeblasenen Köpfen.«

Krag zeigte auf den Heizkörper. »Und wo wollen Sie in solcher Komödie den Herrn Thomas Uri mit dem zerrissenen, blutbefleckten Priesterrock unterbringen?«

»Nein, nein, aber –«

»Und wie wollen Sie Arnold Singers Geld und die Photographie erklären?«

»Allerdings, aber –«

»Bisher haben Sie wie ein Löwe für die Annahme gekämpft, daß Arnold Singer zu den Verbrechern gehört, weil es in Ihren Kram paßte, kaum aber bekommen Sie eine neue Idee, so verbessert sich die Lage des armen Arnold Singer bedeutend. Es ist wahrlich nicht angenehm, in die Krallen der Polizei zu geraten, das Schicksal der armen Verdächtigen wird meistens den Hypothesen der Herren Detektive angepaßt.«

»Sie scherzen, lieber Freund,« antwortete Keller gereizt. »Aber zum Donnerwetter, es ist auch nicht leicht, diesen verfluchten Wirrwarr zu durchschauen.«

»Und wie wollen Sie den Lärm der vielen Stimmen nachts in der Bibliothek erklären und das Geräusch der vielen fliehenden Füße auf dem Rasen, das die Schutzleute hörten.«

Keller unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

»Still,« sagte er, »das scheint der Abbé zu sein.«

Rudolf führte ihn herein, blieb aber selbst in der Tür stehen.

»Herr Abbé,« sagte er, »diese beiden Herren bitten Sie um die Ehre einer Unterredung.«

Worauf er den Abbé sachte ins Zimmer schob und selbst durch die Tür verschwand. Er hatte offenbar Angst, in das Drama verwickelt zu werden.

Der Abbé blieb etwas unsicher mitten im Zimmer stehen. War er es wirklich? Weder Keller noch Krag kannten Abbé Montrose, und es existierte kein Bild von ihm. Dieser Mann aber, der vor ihnen stand, hatte wirklich ein priesterliches Aussehen. Die Tracht war bis aufs Letzte durchgeführt, von dem langen feierlichen Gewand mit der weißen Halskrause, bis zu dem kleinen runden Hut, den der Mann nach Sitte katholischer Priester auf dem Kopf behielt, außerdem lag etwas Priesterliches über seinem blassen, glattrasierten Gesicht, das augenblicklich allerdings etwas exaltiert aussah, und auf seiner Brust hing ganz richtig eine dünne blitzende Goldkette.

Asbjörn Krag hatte sofort festgestellt, daß der Abbé bei seinem Eintritt erstaunt war über die Personen, denen er gegenüberstand.

Er kennt also die, die ihn sprechen wollen, dachte Krag, und wundert sich, daß er es mit zwei anderen zu tun hat.

Er schob ihm einen Stuhl hin und forderte ihn auf, Platz zu nehmen.

Der Abbé setzte sich zögernd.

Krag hatte den Stuhl so gestellt, daß das Licht voll auf das Gesicht des Abbés fiel. Fast eine Minute lang betrachtete Krag dieses Gesicht aufmerksam. Auch Keller sagte nichts; in schweren diplomatischen Situationen überließ er immer Krag die Initiative. Keller hatte Nerven von Guttapercha, keiner konnte so wie er, vollkommen unberührt dasitzen und abwartend seinen Schnurrbart drehen. Es genügte ihm, daß er ein fast unmerkliches pfiffiges Lächeln um Asbjörn Krags Lippen spielen sah, alles andere wartete er ruhig ab. Merkwürdigerweise schien das peinliche Schweigen auch den Abbé nicht im geringsten zu berühren.

Plötzlich sagte Krag:

»Nach dem Vorgefallenen ist es uns eine besondere Freude, Sie wiederzusehen, Herr Abbé.«

Der Abbé neigte würdig sein Haupt.

»Es ist ein Glück, daß ein so ausgezeichneter Vertreter der Wissenschaft abermals geruht, sich zu erkennen zu geben.«

Der Abbé beugte von neuem das Haupt – wenn möglich noch würdiger.

»Wünschen Sie Whisky oder Cocktail?«

Keller konnte sich kaum das Lachen verbeißen.

Der Abbé dagegen schien die Wahl Asbjörn Krag überlassen zu wollen, denn er neigte nur von neuem das Haupt.

Krag klingelte und richtete Rudolf seine Bestellung aus. Bei dieser Bestellung riß Keller die Augen auf, Rudolf aber schien befriedigt, daß die Gesellschaft sich so gut vertrug.

Während man auf die Getränke wartete, fragte der Abbé:

»Ist heute Donnerstag?«

»Ja,« antwortete Krag (obgleich Montag war), »es ist Donnerstag abend, zehn Uhr.«

Der Abbé kniff die Augen zusammen, als ob er tief nachdenke, die Donnerstag-Angelegenheit schien ein ungewöhnliches schweres Problem für ihn zu bedeuten. Darauf sagte er sehr langsam und deutlich eine lateinische Phrase, die etwa bedeutete: Wem Gott Kinder schenkt, dem gibt er auch Sorgen. Worauf er tief aufseufzte.

Plötzlich blickte er auf und schien verwundert über die Gesellschaft, in der er sich befand.

Keller flüsterte Krag leise zu:

»Ich glaube, ich bekomme doch Recht, es ist ein typischer Fall.«

Laut fragte er:

»Ist es nicht schwer, so gelehrt zu sein?«

Der Abbé heftete seine Augen auf ihn, sagte aber nichts.

»Ich meine,« fuhr Keller etwas verwirrt fort, »wenn man so über alle Maßen gelehrt ist, kommt es vor, daß man hier oben im Kopf ... ich meine ...«

Der Abbé wandte sich von ihm ab, als ob er in den hohen Regionen, in denen er lebte, nicht erfaßte, was dieser Alltagsmensch meinte, dagegen verbeugte er sich formell in die Richtung, wo Krag saß und schien erst jetzt in seinem Gedankengang dort angelangt zu sein, wo die anderen schon vor mehreren Minuten waren.

»Danke, Cocktail,« sagte er.

Von der Tür hörte man jetzt ein lautes klirrendes Geräusch.


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