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XXXV. Pol wird nüchtern.

Mit vorgebeugtem Kopf, das Haar in die Stirn hängend, wie eine heruntergerollte Gardine, schwankte der berauschte Pol aus dem Lokal. Er hatte ein Stelldichein mit Dora auf Nummer 32 verabredet. Erst hatte er mit ihr vereinbart, daß er sie mit einem Auto abholen und zu einem anderen Nachtlokal fahren wollte, wo sie ihre Zecherei fortsetzen konnten, plötzlich aber war sie anderer Meinung geworden und hatte ihm zugeflüstert: »Nummer 32, die Treppe links.« Vielleicht fand sie ihn zu betrunken und wollte lieber mit ihm in einem Zimmer allein sein. Das sah Dora indessen nicht ähnlich. Sie war selbst immer betrunken und hatte ihre Freude an betrunkenen Goldvögeln. Außerdem war ihre Sinnesänderung ganz plötzlich gekommen. Sollte sie ein Signal bekommen haben? Pol erinnerte sich des unangenehmen Menschen mit dem brutalen Gesicht und der Narbe auf der einen Backe, den klaren, kalt prüfenden Augen und der Zuhälterlocke in der Stirn. Wenn dieser Mann mit Dora in Verbindung stand, mußte man vorsichtig sein, dachte Pol und überzeugte sich, ob er seinen Revolver in der Tasche hatte. Ja, er war da. Während dieser Überlegungen war er die Treppe hinaufgestiegen.

Nun kann man mit Recht fragen, wie ein berauschter Mann wie Pol zu solchen Überlegungen imstande war. Aus allem, was an diesem denkwürdigen Abend geschah, geht indessen hervor, daß der Vicomte keineswegs so berauscht war, wie er gewissen anderen Personen gern einreden wollte.

Pol hatte bereits mehrmals unten in der Bar gesessen und mit den Mädchen gescherzt, noch nie aber hatte er seinen Fuß ins Hotel gesetzt. Darum setzten die seltsamen Dekorationen an den Wänden ihn auch höchlichst in Erstaunen. Das Restaurant war voll Unruhe gewesen, das Hotel war sehr still. Die engen, halbdunklen und teppichbelegten Korridore, die sich wie Katakomben kreuzten, atmeten eine eigene geheimnisvolle Stimmung. Er dachte an all die Menschen, die hier wohnten, Asiaten, Amerikaner und Europäer, Schwarze und Weiße aus dem bunten Gewimmel der Artistenwelt – und es ging ihm eine Ahnung auf, daß dieses Hotel mit seinen vielen Räumen die seltsamste Mystik beherbergte. Da hörte er, wie eine Filztür ganz in seiner Nähe vorsichtig geöffnet wurde, und da er sich beobachtet glaubte, verfiel er wieder in seinen fast sinnlos berauschten Zustand. Schleppenden Schrittes, gegen die Wände stoßend, wanderte er durch die Gänge und sah nach den Türnummern. Die unregelmäßige Ordnung der Zahlen verwirrte ihn so sehr, daß er einen Augenblick wirklich glaubte, daß er betrunken sei. Schließlich aber, durch einen reinen Zufall, fand er Nummer 32.

Pol hatte die Äußerungsformen der Trunkenheit in all ihren Nuancen studiert. Kein routinierter Schauspieler konnte einen Betrunkenen besser spielen als er. Auf gewisse Weise genoß er seine Rolle und steuerte sie mit all den Einzelteilen unfreiwilliger Komik aus, die der von Alkohol Belastete zum besten gibt. Hört nur, wie er gegen die Tür poltert. Erst rastend und fast unhörbar, als ob er die Entfernung falsch berechnet habe und die Tür kaum mit den Fingern berührte. Dann aber, als er richtig zugreifen wollte, zwei fürchterliche Stöße gegen die Tür, so daß sie in ihrem Schloß erzitterte. Dieses Manöver wiederholte er mehrmals, worauf er ohne eine Antwort abzuwarten, die Tür aufriß und ins Zimmer taumelte, während seine Hand wie festgeklebt am Türdrücker haften blieb. Darauf verwickelte er sich in das weitläufige Unternehmen, die Tür zu schließen, wobei er fast wieder auf den Korridor hinausgetaumelt wäre. Schließlich aber befand er sich glücklich im Zimmer, bei verschlossener Tür. Das Zimmer war leer. Pol blieb einige Augenblicke stehen und blickte sich musternd um. Er entdeckte sofort, daß das Bett in einem Alkoven stand und von einem Vorhang verdeckt war. Darum fuhr er in der Rolle des Betrunkenen fort und ließ sich in einen Lehnstuhl gleiten, wo er vornübergebeugt sitzen blieb. So vergingen mehrere Minuten.

Endlich ging der Vorhang auseinander, ein Mann trat hervor und stellte sich vor Pol aus.

Es war der Mann aus der Bar mit der schwarzen Stirnlocke.

Er stand eine Weile und betrachtete Pol.

Pol hob seinen schweren Kopf und sah ihn mit verschwommenen Augen an.

Da sagte der Fremde:

»Wie lange gedenken Sie diese Komödie zu spielen?«

»Wo ist Dora?« fragte Pol.

»Machen Sie Schluß,« antwortete der Fremde. »Sie sind ja nicht im geringsten betrunken. Ich habe Sie den ganzen Abend beobachtet.«

»Ich will eine Flasche trockenen Champagner haben. Und dann will ich eine Flasche süßen Champagner haben. Ha, ich habe Tausende gewonnen ... mehrere Tausende, bravo.«

Der Fremde ging zur Tür und verschloß sie.

Pol erhob sich hastig und stand schwankend zwischen Stuhl und Tisch. Er versuchte sich an der Tischecke festzuhalten, was indessen nur zur Folge hatte, daß eine Blumenvase umfiel.

»Was sind Sie für ein Frechdachs?« fragte Pol. »Sind Sie vielleicht mit Dora verheiratet, wie?«

Worauf er wieder in den Stuhl sank und die Tischdecke mit sich zog.

Der Fremde faßte wieder vor ihm Posten.

»Wir haben sehr wenig Zeit,« sagte er.

»Wir,« rief Pol, wie mit einem Schimmer von Vernunft, »wir! Scheren Sie sich meinetwegen zum Teufel, ich habe reichlich Zeit. Ich brauche nicht vor 1924 in meinem Kontor zu sein.«

Die lange Jahreszahl verursachte ihm Schwierigkeiten, schließlich aber glückte es ihm doch, sie hervorzustammeln.

»Es ist wirklich schade um Ihr Talent,« sagte der Fremde und lachte höhnisch, »Sie hätten Schauspieler werden sollen. Vielleicht wäre es Ihnen sogar geglückt, auch mich zu täuschen, wenn ich Sie nicht bereits seit mehreren Stunden beobachtet hätte. Jetzt kann es genug sein.«

So leicht aber ließ Pol sich nicht schrecken. Er redete weiter dummes Zeug von Dora und Champagner.

Da rief der Fremde:

»Harry!«

Hinter dem Bettvorhang kam eine neue Gestalt hervor, ein untersetzter, seemännisch gekleideter Mann, der einen Gummiknüppel in der Hand hielt.

»Da sehen Sie meinen Freund Harry,« sagte der Fremde fast freundlich. »Beachten Sie, was er in der Hand hält, und beachten Sie seine kräftigen Arme. Können Sie sehen, daß der Totschläger Appetit auf Sie hat, er wedelt bereits mit dem Schwanz. Hallo, nein, lassen Sie Ihre Hand von der Tasche! Noch eine Bewegung und es ist aus mit Ihnen. Nimm ihm das kleine Ding ab, Harry. Sieh mal einer an, eine hübsche, kleine Waffe, D Coll-Modell 1910, ein Polizeirevolver, dachte ich mir's doch. Wir wollen jetzt ein ernstes Wort miteinander reden, es ist die höchste Zeit. Wir müssen nämlich eine sehr wichtige Angelegenheit verhandeln, mein Lieber.«

Pol richtete sich auf.

»Nehmen Sie Platz,« sagte er, »ich liebe es nicht, mit stehenden Personen zu sprechen, wenn ich selbst sitze.«

»Gut, das ist ein anderer Ton,« sagte der Fremde und ließ sich Pol gegenüber am Tisch nieder. Er spielte wie scherzend mit Pols Revolver, und Pol hielt den Blick auf seine Finger gerichtet. Der Fremde schien seine Gedanken zu erraten.

»Nein,« sagte er, »nein, Sie haben nichts zu befürchten. Wir spielen nicht mit solch geräuschvollen Dingen. Weshalb sollten wir die frohen Menschen dort unten in ihrem Vergnügen stören? Dagegen dürfen Sie meinen Freund Harry mit dem Totschläger nicht vergessen. Wie Sie vielleicht die Güte haben zu bemerken, steht er neben Ihnen. Er wartet nur auf einen Wink von mir. Es kommt nur auf Sie an, ob ich ihm diesen Wink geben soll.«

»Wo haben Sie solch gebildete Sprache gelernt, Tobbi?« fragte Pol.

»Ich heiße nicht Tobbi.«

»Na, dann meinetwegen Tommi oder irgendein anderer Name vom Hafen. Sie sind sicher einmal Fahrstuhljunge oder dergleichen gewesen und man hat Sie verabschiedet, weil die Taschen der Reisenden nicht sicher vor Ihren Fingern waren.«

»Harry,« sagte der Fremde sanft, »lieber Harry –«

Pol lachte.

»Sie haben mich nicht hierher gelockt, um mich gleich totzuschlagen,« sagte er. »Ich nehme an, daß ich meine Sinne beisammen behalten werde, bis ich erfahren habe, was Sie von mir wünschen. Jetzt, meine Herren Schurken, bitte ich Sie, sich zu beeilen, denn ich habe nicht die Absicht, es in der Zwischenzeit an Schimpfworten fehlen zu lassen.«

»Was wir wünschen, läßt sich mit wenig Worten sagen,« sagte der Fremde, »wir wollen, daß Sie einen Brief schreiben.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Das ist undenkbar,« antwortete der andere lachend. »Sie werden diesen Brief schreiben.«

Pol beobachtete seinen Gesichtsausdruck und mußte im stillen zugeben, daß er vielleicht dazu gezwungen werden würde.


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