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XXXVIII. Seine Eminenz.

Es war eine stille Nacht auf dem Polizeiamt. Im Wachtzimmer befanden sich mir wenige Polizeibeamte. Auf dem Wege zum Zellengefängnis blieb Asbjörn Krag auf dem dunklen Gang stehen und fragte einen der wachthabenden Schutzleute:

»Wie lange haben Sie Wache gehabt?«

»Von acht bis zwölf Uhr und von zwei bis jetzt.«

»Sie haben also Detektiv Keller hier vorbeigehen sehen?«

»Ja, mehrere Male. Er hat Arnold Singer lange Besuche abgestattet. Das letzte Mal verließ er ihn unmittelbar nachdem ich meine Wache wieder aufgenommen hatte. Da ging Keller hier vorbei und durch die Tür links hinaus.«

»Wie war er gekleidet?« fragte Krag.

»Gekleidet?« Der Schutzmann schien nickt zu verstehen ... »Er hatte seinen braunen Khakianzug an,« sagte er.

Der Schutzmann, den Krag zuerst in der Wachstube getroffen hatte, erzählte ihm, daß er ungefähr um ein Uhr nachts einige Worte mir Keller gewechselt habe. Keller war von seinen Besuchen bei Arnold Singer außerordentlich ergriffen gewesen. Er hatte dem Gefangenen seinen zweiten Besuch abgelegt und wollte wieder zu ihm, sobald der Kranke und Erschöpfte eine Stunde geruht habe. Keller hatte etwas von einzig dastehenden Enthüllungen, psychologischen Rätseln, seltsamen Verbrechertypen und dergleichen gesagt und war überhaupt sehr erregt gewesen.

Krag lauschte diesen Mitteilungen auf dem Weg zu Arnold Singers Zelle, ohne daß sie ihn sonderlich zu interessieren schienen. Er war ganz und gar von seinen eigenen Gedanken in Anspruch genommen. Die Leute aus der Wachmannschaft, die ihn begleiteten, hörten ihn halblaut zu sich selbst sagen:

»Ich hätte es doch vielleicht nicht wagen sollen ... wenn nur kein Unglück geschehen ist.«

Vor der Tür zu Arnold Singers Zelle blieben sie stehen.

Krag faßte den Türdrücker.

»Die Tür ist verschlossen,« sagte er.

Der Gefängniswärter lachte.

»Ja, natürlich ist sie verschlossen,« sagte er, »Sie können sich doch denken, daß Keller so sorgfältig gewesen ist, sie hinter sich zu verriegeln.«

»Schließen Sie auf,« sagte Krag.

Der Gefängniswärter rasselte mit den Schlüsseln.

»Der arme kranke Gefangene ist gewiß müde jetzt,« sagte er. »Könnten Sie nicht bis morgen warten?«

»Schließen Sie auf,« sagte Krag wieder.

Als die Tür geöffnet wurde und die Polizeibeamten die enge Zelle betraten, begegnete ihnen ein unerwarteter Anblick. In dem bleichen Morgenlicht, das durch das Fenster strömte, sahen sie einen halbentkleideten Mann wie tot auf dem Boden liegen.

Krag eilte auf ihn zu und beugte sich über ihn, während die anderen zurückwichen und wie versteinert stehenblieben.

Nach einer hastigen Untersuchung richtete Krag sich auf. Seine Augen blitzten befriedigt.

»Keine Gefahr,« sagte er, »es ist nur eine vorübergehende Bewußtlosigkeit. Holen Sie Wasser und Kognak.«

Während einer der Wärter nach dem Verlangten lief, beugten die anderen sich über den Bewußtlosen.

»Das ist ja Keller!« riefen sie wie aus einem Munde.

»Ja, gewiß ist es Keller,« antwortete Krag.

»Aber Keller hat vor mehr als zwei Stunden das Gefängnis verlassen.«

»Nein,« antwortete Krag, »er hat hier die ganze Zeit gelegen.«

»Aber ich hab' ihn ja mit eigenen Augen gesehen. Ich hab' ihn doch gegrüßt.«

»Im Halbdunkel des Korridors. Können Sie beschwören, daß es Keller war.«

»Der Khakianzug,« begann der andere.

»Begreifen Sie denn nicht,« sagte Krag, »daß es der Gefangene war, der fortging, Arnold Singer in Kellers Anzug?«

Der Mann, mit dem Krag zuerst gesprochen, griff in das Gespräch ein.

»Jetzt begreife ich, was Sie mit Vorsprung meinten,« sagte er. »Arnold Singer hat also zwei Stunden Vorsprung?« Krag nickte.

Der Mann zeigte auf den Bewußtlosen.

»Wußten Sie dies?« fragte er.

»Ich ahnte es,« antwortete Krag, »aber ich hoffte etwas anderes und ich fürchtete einen Augenblick das Schlimmste.«

Jetzt kam der Gefängniswärter mit dem Kognak.

Nach einigen Sekunden schlug Detektiv Keller die Augen auf. Das erste, was sein verstörter Blick traf, war Krags freundlich lächelndes Gesicht.

Plötzlich fuhr Keller in die Höhe.

»Greift ihn!« schrie er.

Krag legte ihm beruhigend die Hände auf die Schultern.

»Das hätten Sie vor zwei Stunden rufen sollen,« sagte er.

*

Einige Stunden später, als das Leben auf dem Polizeiamt in vollem Gange war, konnten Schutzleute, die zufällig das Zimmer der Detektive passierten, einen großen Lärm auf Krags Kontor hören.

Es war Keller, der dort drinnen tobte. Krag versuchte ihn zu beruhigen, aber es war nicht möglich.

Erst erging Keller sich in furchtbaren Selbstvorwürfen, die mit Flüchen und Ausdrücken wie Idiot, Rindvieh, Schafskopf und dergleichen gespickt waren.

Da er damit nur sein eigenes Verhalten zu charakterisieren versuchte, beschränkte Krag sich darauf, hin und wieder ein zaghaft widersprechendes »Na, na« einzuschieben.

Schließlich ergriff Keller einen Haufen beschriebener Papiere, die auf dem Tisch lagen, zerriß sie in viele tausend Stücke und warf sie in den Kohlenkasten.

»Pfui Teufel,« sagte er, »da liegt die ganze Literatur. Natürlich war es die seltsame Darstellung des Mannes, die mich betrog. Stellen Sie sich vor, daß ich wirklich ins Netz gegangen, daß ich auf dieses ganze Geschwätz über Psychologie und dergleichen hereingefallen bin, womit ein anständiger Detektiv sich überhaupt nicht befassen sollte. Jetzt begreife ich auch, weshalb es immer an positiven Aufklärungen in dem Bekenntnis fehlte. Er konnte überhaupt keine Aufklärungen geben.«

»Nein,« antwortete Krag, »denn er hat gar kein Verbrechen begangen. Seine Absicht war, Sie in dem charakteristischen gelben Khakianzug hin- und herzuschicken, damit alle glauben sollten, daß Sie es seien, als er selbst nach dem dritten oder vierten Male ganz ruhig in Ihrem Kostüm durch den Raum marschierte. Dank der Dunkelheit glückte es ihm auch. Es war eine glänzende Köpenickiade.«

Keller faßte sich an den Hals.

»Und der Kerl war stark.«

»Und kannte den Griff,« sagte Krag, »er ist Anatom. Er wußte, was dazu gehört, einen Menschen bewußtlos zu machen.«

»Und ich glaubte nicht anders, als daß er ein schwacher und kranker Mensch sei, halb tot vom freiwilligen Hungern.«

»Er ist ans Fasten gewöhnt,« antwortete Krag.

*

Um zehn Uhr am selben Vormittag wurde Krag in Bischof de Marnys Arbeitskabinen vorgelassen. Es war ein großer vornehm ausgestatteter Raum mit alten Möbeln, Lithographien und Büchern. Die Vormittagssonne fiel sommerwarm und strahlend durch die offene Balkontür. Es war eigentlich der erste richtige Sommertag. Unter den Fenstern rauschten die voll entfalteten Bäume des Parkes im Winde, der von Duft gesättigt war. Durch die durchsichtige und helle Luft glänzten die vielen vergoldeten Kirchtürme der Stadt.

Der diskrete, auf lautlosen Sohlen gebende Diener hatte Asbjörn Krag in dem großen Zimmer allein gelassen. Während er wartete, empfand er deutlich den Frieden und die Harmonie, die innerhalb dieser Wände ruhten. Alles atmete Stille und aristokratische Zurückgezogenheit, nichts schien hier der eiligen und nervösen Gegenwart anzugehören. Der Bücherschrank war voll von Büchern in dunklen und soliden Einbänden. Der riesige Mahagonischreibtisch stand auf seinen schweren Füßen, als ob er dort für ewige Zeiten hingepflanzt sei. Aus den grauen und einförmigen Lithographien der Wände blickten vergangene Jahrhunderte auf den Besucher herab. Das einzige, was den Ernst erhellte, war eine Schale mit Frühlingsblumen vor dem Platz Seiner Eminenz. Seine Eminenz ließ auf sich warten.

Krag benutzte die Wartezeit, um die Büchertitel zu studieren.

Es war hauptsächlich wissenschaftliche Literatur. Besonders fiel ihm ein Buch auf, das den Titel trug: Verbrechertypen bei Shakespeare. Von Armand Montrose. Während er noch in diesem Buch blätterte, trat Seine Eminenz ein.

Bischof de Marny war noch kein alter Mann. Krag hatte ihn noch nie gesehen, fand aber, daß der Bischof etwas an sich hatte, was an dieses Arbeitszimmer erinnerte. Etwas Zurückgezogenes, Vornehmes, Altmodisches, mit jenem Zusatz von unbeschreiblich freundlicher und menschlicher Nachsicht, wie man sie häufig bei wirklich hervorragenden Geistlichen findet.

»Wie ich sehe,« sagte Seine Eminenz, »halten Sie ein Buch in der Hand, das mein unglücklicher Freund Abbé Montrose geschrieben hat. Er gehört eigentlich mehr der Wissenschaft als der Kirche an. Ich sage es mit Bedauern, obgleich ich mit Grund annehmen kann, daß er in diesen Tagen gerade seine Wahl getroffen und die Wissenschaft gewählt hat. Wir haben heute den vierundzwanzigsten. Wären nicht all diese unheimlichen Dinge eingetroffen, hätte ich ihn heute um diese Zeit erwarten können.«

»Er kommt,« sagte Krag.


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