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XIII. 333

Der Tote saß in einem Lehnstuhl, als ob er sich hingesetzt hätte, um einen Augenblick zu ruhen. Auf seinem Gesicht aber lag ein Ausdruck von Schrecken. Der Priesterhut war ihm vom Kopf gefallen und lag auf der Erde. Die weiße Halskrause war zerknittert und abgerissen, – das einzige Zeichen, daß ein Gewaltakt begangen war. Von einer Wunde in der Brust rann Blut über seinen Anzug. An dem Ausdruck seines Gesichtes, das wie im Krampf verzerrt war, sah Krag sofort, daß der Tod schon eingetreten war. Er sagte:

»Der Messerstich hat seinen Tod sofort herbeigeführt.«

Keller zeigte auf den Kopf des Toten mit dem dunklen, graumelierten Haar.

»Der da war kein Priester,« sagte er.

»Nein, nicht mehr als Sie und ich,« antwortete Krag und beugte sich über den Ermordeten.

Krag war sehr ernst und seine Stimme bebte, als ob ein großes Unglück geschehen sei.

»Es ist sehr bedauerlich,« sagte er, »daß wir ihn gehen ließen, wer aber konnte ahnen, daß ein Mörder ihn erwartete. Dennoch fühle ich die Verantwortung.«

»Ja,« murmelte Keller, ebenso schuldbewußt wie sein Kollege, »ich fühle auch die Verantwortung. Mord ist eine ernste Sache, vielleicht hätten wir ihn durch mehr Vorsicht verhindern können.«

»Vielleicht,« gab Krag zu. »Was aber die moralische Verantwortung betrifft, so möchte ich sie doch nicht zu schwer nehmen. Vielleicht hat der, der dort sitzt, ebensoviel Schuld, wie der, der ihn ermordet hat. Was aber hält er da in der Hand?«

Ein Stück Papier sah zwischen den steifen Fingern des Toten hervor.

Asbjörn Krag löste es vorsichtig, glättete es aus und las halblaut etwas, was ihn im höchsten Grade in Erstaunen zu setzen schien.

Dann gab er Keller das Stück Papier und sagte:

»Hier haben Sie abermals eine Verbindung mit Arnold Singer. Kennen Sie die Handschrift?«

»Es ist Abbé Montroses Handschrift,« antwortete Keller.

»Seine richtige Handschrift, ja.«

»Aber du mein Gott, das ist ja ein Aktenstück, das der Polizei gehört. Das ist ja die Quittung über den Lohn des Gartenarbeiters Singer.«

Keller las halblaut, was auf dem Papier stand:

»Gartenarbeiter S. für sechs Arbeitstage dreißig Kronen ausgezahlt.«

»Das ist genau dasselbe Papier,« sagte Asbjörn Krag, »auf das der verhaftete Arnold Singer sich beruft, als Beweis für seine Unschuld. Dieses Blatt Papier gehörte bis vor wenigen Stunden der Polizei.«

»Ich habe es selbst in dem eisernen Schrank des Detektivkontors eingeschlossen, zusammen mit den anderen Papieren, die die Affäre des verschwundenen Abbé Montrose betreffen,« sagte Keller, »und jetzt finden wir es hier in diesem Hotel, in den Händen eines toten Mannes! Lieber Krag, sind wir denn allesamt verhext? Wie ist dieses Stück Papier aus den Geheimfächern der Polizei in den Besitz dieses stark berauschten Mannes gekommen, warum zerknittert er es in seiner Hand, als ob Leben und Tod von dem Besitz desselben abhinge, warum ist er ermordet worden und wer ist dieser Mann?«

»Und wer ist der Mörder?« fügte Krag ungeduldig hinzu. »Sagen Sie mal, lieber Freund, sind Sie bewaffnet?«

»Wie immer,« antwortete Keller und zog einen Revolver aus der Tasche.

»Ich denke an den Mörder,« fuhr Krag fort, »erinnern Sie sich des Mannes mit dem gefängnisbleichen Gesicht, der so unheimlich vor einem Augenblick auftauchte?«

»Sie haben recht. Ein anderer war nicht auf dem Korridor zu sehen und der Mord muß im Laufe der letzten zehn Minuten begangen worden sein.«

Keller wollte läuten, Krag aber hielt ihn davon zurück. Er zeigte ihm, daß der Klingelapparat, der an dem Türpfosten entlang lief, in halber Zimmerhöhe durchschnitten war.

»Hu,« sagte Keller. »Einem so überlegten Mord steht man selten gegenüber. Was meinen Sie, daß wir jetzt tun sollen?«

»Ich schlage vor, daß Sie hier bleiben. Bewaffnet sind Sie ja. Außerdem glaube ich nicht, daß wir etwas zu befürchten haben. Betrachten Sie den Toten dort, ich glaube, daß alles, was geschehen sollte, bereits geschehen ist. Inzwischen gehe ich in die Bar hinunter und alarmiere das Hotel. Ich werde auch einige Schutzleute von der Straße herbeirufen. Das Beste ist, daß wir das Hotel bis auf weiteres schließen, es muß vom Keller bis zum Dach durchsucht werden.«

»Sind Sie selbst bewaffnet?« fragte Keller.

»Ja,« antwortete Krag. »Ich fühle mich auch nicht sicher in dem langen Korridor. Ich rate Ihnen, die Tür abzuschließen, wenn ich fort bin. Ich werde ein deutliches Signal geben, wenn ich zurückkehre. In der Zwischenzeit können Sie das Zimmer gründlich durchsuchen, ich bin sicher, daß es hier verschiedene Spuren gibt. Dieses Stück Papier stecke ich bis auf weiteres in die Tasche. Zum zweiten Mal soll es der Polizei nicht verlorengehen.«

Damit ging Krag hinaus und von draußen hörte er, wie Keller die Tür verschloß. Auf dem langen Korridor war niemand zu sehen, und er hörte nichts weiter, als gedämpfte Töne von einem Streichorchester.

Krag begriff, daß es die Musik sei, die unten im Café begonnen hatte, und er folgte der Richtung der Töne. Es galt, denselben Weg zurückzufinden, den sie gekommen waren, treppauf und treppab, nach rechts und nach links, wie in einem Labyrinth; dennoch fand er den Weg ohne größere Schwierigkeiten. Die fast lautlose Wanderung auf den dicken Teppichen, der halb dunkle schmale Tunnel, die phantastischen und verzerrten Dekorationen an den Wänden mit Tieraugen und seltsamen Vogelschwingen – das alles im Verein mit dem Bewußtsein, daß ein ermordeter Mensch sich in einem der Zimmer befand, lösten eine seltsame Stimmung in Krag aus, ein Gefühl von Unwirklichkeit und Grauen, das ihm neu war.

Vorm Eingang zum Café stieß er auf Rudolf und faßte ihn am Arm.

»Ich werde Sie nicht verraten,« sagte er, »und Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, aber es hat sich etwas Ungewöhnliches im Hotel zugetragen. Der Herr auf Nummer 333 ist vor zehn Minuten ermordet worden.«

»O Himmel, der Abbé.«

»Seien Sie nicht so theatralisch,« sagte Krag, »sondern folgen Sie mir und seien Sie mir behilflich.«

Krag betrat hastig das Café, nicht wie ein Mensch, der eine schreckensvolle Nachricht zu überbringen hat, sondern wie ein Mann, der plötzlich in einer gefährlichen Stunde auftaucht und mit Recht das Kommando übernimmt. Alles wurde gleich auf ihn aufmerksam. Es waren jetzt mehr Gäste gekommen, fast alle Taburetts vor der Bar waren besetzt, die Schöne auf dem linken Flügel hatte ihre Häkelarbeit beiseite gelegt und sich dazu herabgelassen, ein Gläschen mit ihrem Verehrer, dem jungen Herrn mit der goldenen Kette am Fußgelenk, zu trinken. Das Morgengewölk war verhältnismäßig stark beschäftigt, indem er Cocktails mischte. Krag ging auf ihn zu.

»Ich bin Detektiv,« sagte er, »hier ist meine Legitimation. Vor einigen Minuten ist in Ihrem Hotel ein Mord begangen worden. Der Ermordete sitzt noch in seinem Stuhl auf Nummer 333.«

Als das Morgengewölk diese Mitteilung bekam, hielt er gerade ein Glas unter dem Selter-Siphon. Eine Sekunde floß das Selterwasser über und schäumte über die Glasplatte, was bei den vier Schönen in den kostbaren Kleidern und ihren Bewunderern fast ebensoviel Schreck hervorrief, wie die Mitteilung von dem Mord. Die Damen sprangen von ihren Stühlen auf und der junge Herr mit der goldenen Kette glitt auf die Erde herab. Das Morgengewölk aber schloß hastig den Hahn des Siphons, und Krag mußte zugeben, daß es das einzige Anzeichen war, womit der Wirt seine Fassungslosigkeit verriet. Er murmelte etwas, was Krag indes nicht verstand und als er fragte, wiederholte der Fleischberg, wenn auch undeutlich:

»Es sind fünfzehn Jahre her.«

»Nein, es ist eben geschehen,« antwortete Krag, »vor kaum einer Viertelstunde.«

»Es sind fünfzehn Jahre her,« wiederholte der Wirt unbeirrt, »fünfzehn Jahre her, seit ein Mord in meinem Hotel begangen ist. Darum weiß ich, wie man sich in solcher Lage benimmt.«

Es strengte ihn anscheinend sehr an, so viel auf einmal zu sagen. Er atmete schwer.

»Die Küchentür,« fauchte er und heftete seine verschwommenen Augen auf den zitternden Rudolf, indem er ein: Hrup! ausstieß, wie ein Elefant, der rasend wird. Rudolf eilte durch eine Tür hinter dem riesigen Büfett, und Krag hörte ihn mit kreischender Stimme rufen, daß die Küchentür geschlossen werden solle.

Krag protestierte nicht gegen diese Maßnahme, obgleich er an ihrem Nutzen zweifelte, denn es war bereits so viel Zeit verflossen, daß der Mörder schon längst das Hotel verlassen hatte. Es gehörten viele Leute dazu, um das Etablissement vom Keller bis zum Dach zu durchsuchen. Darum öffnete er die Tür zur Straße, um Hilfe herbeizurufen. Die Luft in der Bar war erstickend heiß gewesen, von Weinatem und Parfüms gesättigt, darum empfand er die Luft von draußen frisch und feucht. Säuerlich wie die Luft auf einem Kirchhof, dachte Krag, in einer seltsamen Ideenverbindung mit dem Toten. Der mannigfache Lärm der Straße schlug über seinem Kopf zusammen, und der verdichtete Verkehr zog an ihm vorbei, ein stolzer, donnernder Chor. Im Laternenschein zwischen den wimmelnden Menschen, Pferden und Wagen glänzten einige Schutzmannshelme. Krag setzte seine Polizeiflöte an den Mund und ließ ein gellendes Pfeifen hören. In der Volksmenge entstand Bewegung.

Nachdem er die herbeieilenden Schutzleute angewiesen hatte, die Türen zu bewachen, eilte Krag von einigen Schutzleuten gefolgt, nach Nummer 333 zurück.

Auf der Schwelle des Zimmers blieb Krag wie festgewachsen stehen, indem er nicht übel Lust verspürte, seinem Erstaunen in einem lauten Schrei Luft zu machen.

Das Zimmer war leer. Weder der Ermordete noch Keller waren da.

Ganz hinten aus dem Korridor aber erklang ein Stöhnen.

Es war das Morgengewölk, der Wirt, der sich bemühte, durch den Gang zu kommen, wobei er mit seinem unermeßlichen Korpus immer wieder in dem engen Korridor festsaß.

Krag machte einen hastigen Überschlag. Mehr als sieben bis acht Minuten konnten nicht vergangen sein, seit er Keller mitsamt dem Toten in diesem Zimmer verlassen hatte.

Und jetzt war das Zimmer leer.

Krag ahnte nicht, daß sich im selben Augenblick ein Drama an einem ganz anderen Ort abspielte und daß Detektiv Keller in diesem Drama die bedauernswerte Hauptperson war.


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