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XXXI. Kellers Papiere

»Gut, ich werde gehen,« antwortete Krag, »aber Sie werden erlauben, daß ich eine gewisse Neugierde verrate. Wann darf man das Resultat erwarten?«

»Das kommt darauf an,« antwortete Arnold Singer, »vielleicht in einer Stunde, vielleicht in zwei. Das beruht darauf, wie lange meine Kräfte reichen.«

»Es ist also ein langes Bekenntnis?«

»Ja,« antwortete Arnold Singer, »ich werde nichts verschweigen. Alles soll an den Tag, alles, vom ersten Tage an. Haben Sie Papier und Bleistift, Herr Keller? Das ist gut. Ich möchte, daß Sie das Ganze niederschreiben, damit nichts vergessen wird.«

»Gestatten Sie mir eine Frage,« sagte Krag. »Betrifft das Geständnis auch die Affäre Montrose?«

Arnold richtete seine Augen auf ihn.

»Was sonst?« fragte er.

»Werden wir erfahren, warum und wie Abbé Montrose verschwunden ist?«

»Sie werden erfahren,« antwortete Arnold, »wie Abbé Montrose ums Leben gekommen ist.«

»Er ist also tot?«

»Ja, unwiderruflich tot.«

Krag stand vor dem Gefangenen, breitbeinig, die Hände in den Seiten. Er blinzelte so seltsam mit den Augen, oder war es vielleicht nur sein Kneifer, der in der Sonne blitzte.

»Unwiderruflich tot,« wiederholte Krag, »Das ist ein seltsamer Ausdruck.«

»Wenn Sie wüßten, was ich weiß, würden Sie wahrscheinlich denselben Ausdruck gebrauchen.«

»Vielleicht, vielleicht,« sagte Krag.

Arnold schloß die Augen und wartete. Keller wartete auch fieberhaft, die Bleistiftspitze auf dem Papier.

Krag drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür.

»Sie schließen die Tür wohl hinter mir ab, Keller,« sagte er.

»Ja,« antwortete Keller.

»Vergessen Sie nicht, daß der Schlüssel dreimal umgedreht werden muß.«

»Ja, ich weiß,« antwortete Keller – und er fügte hinzu, als ob er Krags Gedanken gelesen hätte, »außerdem bin ich ja selbst hier.«

»Gut. Auf Wiedersehen, meine Herren.«

»Auf Wiedersehen,« antwortete Keller.

Arnold sagte nichts.

Als Krag auf den Gang hinausgegangen war, wartete er einen Augenblick, den Kopf nachdenklich gebeugt, als ob er noch einen Augenblick überlegte, bevor er einen wichtigen Entschluß zu fassen wagte. Darauf schritt er langsam durch den Gang. In der großen Halle, wo einige Gefängniswärter auf und ab gingen, blieb er stehen und sagte, indem er zu einer flackernden Gasflamme hinaufzeigte:

»Sie haben schlechte Beleuchtung hier des Abends.«

»Allerdings,« antwortete der eine Gefängniswärter und trat auf ihn zu, »aber wenn wir lesen oder schreiben wollen, gehen wir in die Wachtstube.«

»Warum nimmt der Gefangene auf Nummer 42 keine Nahrung zu sich?« fragte Krag.

»Er behauptet, daß er krank sei,« antwortete der Wärter. »Der Arzt ist heute bei ihm gewesen und hat gesagt, daß er sehr schwach sei. Er will morgen wieder nach ihm sehen.«

»Etwas Bestimmtes aber fehlt ihm nicht?«

»Nein, nichts Bestimmtes, allgemeine Schwäche sagt der Arzt. Unterernährung. Ich glaube, es ist von Zwangsernährung die Rede.«

»Ich werde mit dem Arzt sprechen,« murmelte Krag und ging weiter. Als Krag sein Kontor betrat, war er noch immer sehr nachdenklich. Er stand lange am Fenster und blickte über die Stadt, die jetzt in blauer Abenddämmerung dalag. Der Lärm der Straße war nicht mehr so stark, durch das Getöse hörte man ferne Kirchenglocken.

Plötzlich sagte Krag zu sich selbst – bestimmt, als ob er endlich einen Entschluß gefaßt habe:

»Ich wage es. Ich lasse es ihn tun.«

*

Etwas später am Abend ließ der Polizeichef Asbjörn Krag zu sich kommen.

Seine Exzellenz hatte den Polizeirapport über Georges' Verhaftung und Geständnis vor sich. Der hohe Herr war nicht besonders gut gelaunt.

»Dies ist eine elende Affäre,« sagte er. »Gott weiß, was die Zeitungen morgen sagen werden. Wir haben uns in der Sache Montrose festgerannt. Leider können wir nicht darauf rechnen, daß der Scharfsinn der Polizei morgen in der öffentlichen Meinung Triumphe feiert. Das Publikum ist verstört, die Zeitungen nervös und ausfallend. Man will etwas von Montrose wissen, von dem Mörder oder dem Opfer. Als ich gestern abend die Mitteilung von Georges' Verhaftung bekam, dachte ich wirklich, daß wir am Ziel seien.«

»Exzellenz wollten sich auf der Gesellschaft beim Minister darüber äußern,« bemerkte Krag.

Seine Exzellenz schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.

»Ich habe mich darüber geäußert,« sagte er.

Asbjörn Krag verstand, daß der Polizeichef den Mund zu voll genommen und den hohen Herrschaften mitgeteilt hatte, daß das Geheimnis bereits aufgeklärt sei. Krag hatte Mitleid mit ihm.

»Noch ist seit dem Verschwinden des Abbés keine Woche vergangen und bereits haben wir einen Mörder gefaßt. Ich verspreche Ihnen, bevor die Woche zu Ende ist, werden wir auch die anderen haben.«

»Sie meinen also, daß es mehrere sind?«

Krag zuckte die Achseln.

»Wenn wir das mit Bestimmtheit wüßten, Exzellenz,« sagte er, »dann wären wir am Ziel.«

Der Polizeichef erhob sich und schritt nervös im Zimmer auf und nieder. In der Hand zerknitterte er ein Kuvert.

»Im Grunde ist Georges ein ganz wertloser Fang gewesen,« sagte er.

»Ganz und gar nicht,« antwortete der Detektiv. »Erstens ist es stets eine Befriedigung, wenn ein Mörder gefaßt wird, und zweitens hat sein Geständnis Licht über einen Teil der Angelegenheit geworfen, insofern, als wir jetzt wissen, daß Charlies Tod nicht mit Abbé Montroses Verschwinden in Verbindung steht.«

»Die anderen und gefährlicheren Mörder aber gehen noch immer frei umher. Ich will Ihnen etwas sagen, wenn ein neues Unglück, ein neues Verbrechen geschieht, dann ist meine Stellung unhaltbar.«

»Die öffentliche Meinung ist ein ungeduldiges und grimmiges Tier,« antwortete Krag. »Ich hoffe aber zuversichtlich, daß kein neues Unglück dieses Tier reizt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Arbeit der Polizei in dieser Sache ist nicht ungefährlich,« antwortete Krag – und er war jetzt ebenso nachdenklich und ernst, wie vor einigen Minuten, als er in seinem Zimmer die seltsamen Worte äußerte: »Ich wage es ... ich lasse es ihn tun ...«

Der Polizeichef sah ihn an, bemerkte seinen Ernst und änderte seinen Ton. Er reichte ihm den Brief, den er in der Hand hielt.

»Hier ist ein Brief von dem katholischen Bischof,« sagte er. »Er hat eine Mitteilung für uns.«

Der Brief von dem Bischof lautete folgendermaßen:

»Anläßlich des rätselhaften Verschwindens meines Freundes und Glaubensgenossen Abbé Montrose, ist mir eingefallen, daß ich eine Aufklärung geben könnte, die vielleicht den Nachforschungen dienlich sein kann. Abbé Montrose hat mir an dem Abend vor dem nächtlichen Drama einen Brief geschrieben, dieser Brief bezieht sich allerdings nicht auf die traurigen Ereignisse, die damals nahe bevorstanden, vielleicht aber ist er dennoch von Bedeutung. Ich bin morgen um zwölf Uhr anzutreffen.«

»Was halten Sie davon?« fragte Seine Exzellenz.

»Sie wissen,« antwortete Krag, »daß wir in den letzten Tagen Hunderte von Mitteilungen bekommen haben, von Personen, die meinen, daß sie uns wichtige Aufklärungen geben können. Einige von ihnen waren von Freunden des Abbés. Keine aber hat uns im geringsten auf die Spur führen können. Aber natürlich wollen wir auch hören, was der Bischof zu sagen hat. Ich werde selbst zu ihm gehen.«

Nachdem Krag den Polizeichef verlassen hatte, wartete er noch eine halbe Stunde auf seinem Kontor.

Endlich kam Keller. Er hatte beide Hände voll von beschriebenen Papieren.

Ohne abzuwarten, was Keller zu berichten hatte, zog Krag ihn ans Licht und betrachtete ihn aufmerksam.

»Es stimmt,« sagte er, »Sie sind verlegen und verwirrt. Gestehen Sie, daß es ein Bekenntnis war, wie Sie es nicht erwartet hatten.«

Keller blätterte in seinen Aufzeichnungen, das Papier raschelte, als ob seine Hände bebten.

»Ein ganz entsetzliches Geständnis,« murmelte er.

»Ich komme gerade vom Polizeichef,« sagte Krag. »Er ist ungeduldig, weil nichts geschieht. Ich hätte ihn glücklich machen können, wenn ich ihm erzählt hätte, daß Arnold Singer im Begriff sei, sein Geständnis abzulegen. Ich tat es aber nicht. Habe ich richtig gehandelt?«

»Ich weiß wirklich nicht,« antwortete Keller unsicher, »ich weiß wirklich nicht – – – Soviel aber weiß ich, daß dies die seltsamste Mordgeschichte ist, die ich je in meiner Praxis erlebt habe –«

»Also eine Mordgeschichte?«

»Ja,« antwortete Keller und breitete die Papiere vor sich aus.


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