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XIV. Die Königsfamilie

Während die Türöffnung sich mit den erstaunten Gesichtern des Personals und der Gäste füllte, und der Wirt im Hintergrund erbittert über den engen Gang schimpfte, blieb Krag einen Augenblick stehen, um sich zu orientieren. Es handelte sich hier um einen Mord, trotzdem erschien ihm die Lage fast komisch, mit solch kinematographischer Geschwindigkeit war die Veränderung vor sich gegangen. Vor kaum zehn Minuten hatte Keller sich im Zimmer eingeschlossen, um einen Toten zu bewachen – und jetzt waren sowohl Detektiv wie der Tote verschwunden. Dort war der Stuhl, dort der Tisch, nichts war umgestellt, alles war wie vorher. Ein Kampf hatte nicht stattgefunden. Krag stand ganz stumm da und ließ einen Blick über die Wände schweifen, um in seiner Ratlosigkeit einen Ausweg zu suchen, aber er konnte zu seinem Trost nichts anderes finden, als ein Porträt der Königsfamilie des Landes, ein Porträt, das er auch bemerkt hatte, als er zuletzt mit Keller und dem Toten hier drinnen war.

Inzwischen war es dem Wirt geglückt, sich durch den engen Korridortunnel zu drängen. Er schaufelte die anderen Neugierigen zur Seite, füllte die Tür mit seiner roten und weißen Masse und das Schweigen mit seinem hörbaren Atemholen. Wenn er sprach, stieß er die Worte asthmatisch heraus, seine Meinung kam rasselnd wie aus einer Schleuse, von innerer Feuchtigkeit beschwert.

»Wo ist der Unglückliche?« fragte er.

»Dort im Stuhl hat er gesessen,« antwortete Krag, »jetzt aber ist er nicht mehr da. Einer meiner lebendigen Freunde war bei ihm, aber auch er ist fort – sie sind alle beide verschwunden, ich weiß nicht mehr aus noch ein.«

»Sind Sie sicher, daß es in diesem Zimmer war,« fragte das Morgengewölk.

»Ja, ganz sicher, es war Nummer 333.« Krag blickte sicherheitshalber auf die Tür. »Außerdem erkenne ich das Zimmer wieder, den Stuhl, den Tisch, die Königsfamilie und alles.«

»War die Tür verschlossen, als Sie kamen?« fragte der Wirt.

»Nein, sie war offen, als ich aber meinen Kollegen verließ, hörte ich deutlich, wie er sie von innen abschloß. Niemand anders als Keller kann sie geöffnet haben ... es ist ja Wahnsinn. Ich glaube, das ganze Hotel ist verhext. Sie haben ein höchst merkwürdiges Hotel, Verehrtester.«

»Es ist mein eigenes Haus,« stieß der Wirt gurgelnd hervor, »und ich darf es wohl einrichten, wie es mir paßt. Übrigens ist es nicht ausgeschlossen, daß ein anderer die Tür von drinnen geöffnet hat, Verehrtester.«

»Wer?«

»Der Herr, den Sie den Ermordeten zu nennen belieben.«

Krag schüttelte den Kopf.

»Sie meinen, daß er nicht ermordet war,« sagte der Detektiv, »das ist unmöglich. Die Wunde in der Brust, der lange Dolchstich, der offenbar durchs Herz gegangen war, seine erloschenen Augen und starren Hände, die bereits angefangen waren zu erkalten. Nein, mein Herr, solche Menschen stehen nicht mehr auf.«

Obgleich er es für sinnlos hielt, begab Krag sich trotzdem auf den Korridor und rief Kellers Namen mehrere Male laut. Seine Stimme schallte durchs ganze Haus. Aber es erfolgte keine Antwort. Überhaupt war jetzt im ganzen Hotel nichts anderes zu hören, als der leise sausende Laut der Zentralheizung.

Krag kehrte ins Zimmer zurück und setzte sich in den Stuhl des Toten. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Im Augenblick war er wirklich vollständig ratlos. Ihm war, als ob er aus einem Traum erwacht sei und in diesem Zustand halben Wachseins, Traum und Wirklichkeit miteinander vermengte – als ob der Mord und der Priesterrock und Keller und das ganze Mysterium dem Traum angehörte, und das leere Zimmer und der verwunderte Wirt einer keineswegs angenehmen Wirklichkeit.

Aber nein, er wußte ja, daß alles stattgefunden hatte. Im Augenblick erschien ihm die Lage allerdings rätselhaft, doch war er überzeugt, daß das Rätsel einen Schlüssel und eine Erklärung haben müsse, die vielleicht ungeheuer einfach waren, vielleicht gerade, weil sie so mystisch erschienen. Hier hat also der Tote gesessen, dachte er, in diesem Stuhl. Krag blickte auf die Erde. Blutspuren waren nicht da. Er untersuchte den Teppich näher. Nein. Wirklich nicht die geringste Blutspur. Dann aber fiel ihm ein, daß derartige tödliche Dolchstöße durchs Herz sehr wenig Blutung im Gefolge haben, oft nur einige Tropfen auf dem weißen Hemd.

Die Gäste draußen im Korridor begannen jetzt miteinander zu flüstern und die Sache fing an, einen Schein von Lächerlichkeit zu bekommen. Darum war es ausschließlich aus egoistischen Gründen, mit Rücksicht auf seine eigene Würde, daß Krag Sorge trug, daß die Neugierigen und Unbefugten fortgewiesen wurden. Während sie sich brummend entfernten, drängte ein Kellner aus dem Café sich zum Wirt durch und flüsterte ihm etwas zu. Der Wirt schien erstaunt und wandte sich gleich an Krag.

»Er teilt mir mit,« sagte der Wirt, »daß das Zimmer Nummer 333, also dieses Zimmer, seit mehreren Tagen nicht besetzt gewesen ist. Was sagen Sie dazu, mein Herr. Meine Bücher lügen nicht. Dort aber kommt der Portier, Sie können ihn selbst fragen.«

Ein Mann in Livree, die Mütze in der Hand, zeigte sich.

»Das ist ausgezeichnet,« sagte Krag, »kommen Sie herein, auch Sie, Rudolf – und verschließen Sie die Tür. Jetzt befinde ich mich also Aug' in Aug' mit Menschen, die etwas in dieser Angelegenheit zu sagen wissen. Es ist ein förmliches Verhör. Noch vor wenigen Minuten hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß ich in dem Stuhl des Ermordeten sitzen würde, um Leute nach dem Verbleiben des Toten auszufragen. Denn verschwunden ist er, das ist sicher, sowohl er wie der Detektiv. Also,« fuhr Krag zum Portier gewandt fort, »Sie behaupten, daß dieses Zimmer seit mehreren Tagen nicht besetzt gewesen ist?«

Der Portier legte sein Buch auf den Tisch.

»Bitte, Sie können selbst sehen,« sagte er. »Das Zimmer hat in den letzten drei Tagen leer gestanden.«

»Gut. Aber was sagen Sie, Rudolf? Sind Sie nicht auch sicher, daß der Mann, den Sie Abbé Montrose nannten, sich vor einer Stunde in diesem Zimmer aufgehalten hat?«

Der Name Abbé Montrose machte einen starken Eindruck auf die Anwesenden. Alle hatten natürlich die aufsehenerregenden Artikel in den Zeitungen gelesen.

Das Morgengewölk ließ ein kräftiges Brummen vernehmen.

»Ja,« sagte Rudolf, »ich bin ganz sicher. Er klingelte und bestellte Cocktails, noch dazu Gloria morning fizz‹.

»Die Marke des verrückten Professors,« murmelte der Wirt.

Krag verstand nicht, wen er mit dem verrückten Professor meinte, und beschränkte sich bis auf weiteres darauf, diesen Namen in seinem Kopf festzuhalten.

»Wußten Sie denn,« setzte Krag das Verhör fort, »wußten Sie denn, Rudolf, daß dieser Mann in Zimmer Nummer 333 wohnte?«

»Nein.«

»Ist es möglich, daß der Mann ins Hotel kommen und auf dieses Zimmer gelangen konnte, ohne daß jemand ihn gesehen hat?«

»Das kann schon sein,« antwortete der Portier. »Wir haben die Gäste, die ein- und ausgehen, nicht immer unter Kontrolle.«

»Und Sie servierten ihm die Cocktails?«

Die Frage war abermals an Rudolf gerichtet und er antwortete:

»Natürlich. Und er hat sie auch gleich getrunken.«

»Und darauf brachten Sie ihn auf unsere Aufforderung nach Nummer 6.«

»Ja.«

»Oh, diese verfluchten Nummern. Man stelle sich vor, 6 liegt in unmittelbarer Nähe von 333.«

»Es ist mein eigenes Haus,« brummte der Wirt. Krag unterbrach ihn.

»Und dann?« fragte er Rudolf.

»Dann geschah nichts weiter, bis Sie angestürzt kamen und sagten, daß ein Mensch auf 333 ermordet worden sei.«

Krag hörte kaum auf das, was Rudolf antwortete. Endlich schien der Detektiv einen Leitfaden gefunden zu haben. Er stand anscheinend mit dem Zimmer in Verbindung, denn die verwunderten Zuschauer sahen, wie er seine Blicke über den Fußboden schweifen ließ und hörten ihn murmeln: »Kein Gepäck ... kein Gepäck ...«

»Nein, Gepäck hatte er nicht,« schob Rudolf ein.

Worauf Krag mit zerstreuter Miene seinen Blick über die Wände schweifen ließ und vor sich hin murmelte: »Die Königsfamilie ... die Königsfamilie ...«

Plötzlich sprang er vom Stuhl auf, riß die Tür auf, war mit einem Satz über den schmalen Korridor und öffnete mit einem Krach die Tür zum gegenüberliegenden Zimmer. Er zeigte hinein und rief:

»Die Königsfamilie! Großer Gott, die Königsfamilie!«

Auch in diesem Zimmer hing die Königsfamilie an der Wand.

Darauf rief er alle Anwesenden auf den Korridor hinaus, schloß die Tür zu Nummer 333 und zeigte ihnen die Nummer. Alle standen und starrten die Nummer blöde an und hatten keine Ahnung, was er meinte. Krag aber griff sich mit den Händen an den Kopf und stieß ein jammerndes Ah – Ah! aus, wie jemand, der eine große Dummheit im Kartenspiel begangen hat und es selbst entdeckt.

Darauf zeigte er auf sein eigenes Zimmer Nummer 6 und berechnete offenbar die Entfernung zwischen den beiden Zimmern Nummern 6 und 333. Darauf zeigte er auf das Zimmer neben Nummer 333, das die Nummer 66 trug und fragte:

»Ist dieses Zimmer besetzt?«

»Nein,« antwortete der Portier, »auch dies Zimmer ist frei.«

Er wollte die Tür zu Nummer 66 öffnen, sie war aber verschlossen.

»Keller!« rief Krag, »Keller! Keller!«

Keine Antwort.

»Bringt ein Brecheisen herbei!« schrie er, »und sofort!«

Seine Stimme drückte Angst aus.


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