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Krag hatte richtig gerechnet. Er wußte, daß sein unerwartetes Eintreten so verblüffend auf die Gesellschaft wirken würde, daß er die wenigen Sekunden, die er nötig hatte, gewinnen würde. Auch hatte er mit Pols Geistesgegenwart gerechnet. Und er hatte sich alles in allem nicht geirrt. Kaum war er durch die Tür gekommen, als er schon mit erhobenem Revolver vor Bussi stand. Bussi wich zum Tisch zurück, um sich Pols Revolver zu bemächtigen. Pol aber hatte ihn bereits an sich genommen und hielt damit Harry im Schach. Die beiden Verbrecher hatten die teuren Sekunden verloren, und die beiden Detektive waren ihnen jetzt überlegen. Nichtsdestoweniger aber war die Lage gefährlich und sie konnte leicht kritisch werden, wenn die Verbrecher zu einer Verzweiflungstat griffen. Bussis Augen flackerten hierhin und dorthin nach einem Ausweg.
»Ich habe mit Ihnen zu reden,« sagte Krag. »Tun Sie nichts Unüberlegtes, denn bei der geringsten Bewegung schieße ich. Wir sind auch nicht allein.«
»Hallo,« rief er plötzlich laut, »sind Sie draußen, Keller?«
»Ja,« antwortete eine grobe Männerstimme vom Korridor, »wir sind vier Mann stark.«
»Und unterm Fenster?«
»Auch vier,« antwortete die Stimme, »alle Wege sind gesperrt.«
Da entschlüpfte Bussi ein Fluch.
»Sie sehen also ein,« sagte Krag, »daß jeder Widerstand vergeblich ist. Hände hoch, meine Herren, so ist's recht! Und werfen Sie den Totschläger fort, Freundchen, für den haben Sie keine Verwendung mehr. So ist's schön. Jetzt kommen Sie an die Reihe, Pol, seien Sie so freundlich und untersuchen Sie die Taschen der Herren. Ich denke, wir werden dort einige hübsche Sachen finden. Ein Revolver, sieh mal einer an, noch einer, hm, Sie sind ja fürchterlich bewaffnet, mein lieber Bussi. Und wie steht's mit Harry? Wieder ein Revolver! Und ein Dolch, pfui, das ist eine barbarische Waffe, lieber Freund, eine, wenn ich mich so ausdrücken darf, unfreundliche Waffe, die indessen den Vorzug hat, lautlos zu sein. Indessen ziehe ich doch die Fäuste vor. Recht so, legen Sie alles dort auf die Kommode, Pol, es ist ja ein ganzes Arsenal, und nehmen Sie jetzt aus meiner linken Rocktasche ein Paar hübsche Armspangen, die ich mitgebracht habe. Ganz recht, in dieser Tasche. Sie wissen sicher, wie man solche Dinger anwendet, Pol. Ja, knack, ausgezeichnet; und dann der andere, knack, knack, ja, dieses Schloß geht etwas schwer. Danke. Jetzt sind die beiden hübsch geschmückt. Und wenn ich die Herren nun bitten dürfte Platz zu nehmen. Sehen Sie nicht so wütend und hinterhältig aus, Bussi, nehmen Sie Platz! sage ich.
Ich bin ein höflicher, aber auch ein sehr bestimmter Mann.«
Zögernd nahmen die beiden Verbrecher Platz. Wie sie dort mit gefesselten Händen saßen, sahen sie trotzig und düster aus.
Krag senkte den Revolver.
»Es war aber auch Zeit,« sagte er, »mein Arm ist ganz steif geworden.«
Pol nahm den Totschläger von der Erde auf und ließ ihn prüfend durch die Luft sausen.
»Der hatte es auf mich abgesehen,« sagte der Vicomte lachend, »ich aber hab' ihn genarrt.«
Harry blickte ihn boshaft und verstohlen an. Pol schwang den Totschläger vor seiner Nase.
»Möchten Sie vielleicht eine Feder in der Hand halten?« fragte er. »Man schlägt ja keinen Menschen, der eine Feder in der Hand hält, war es nicht so?«
Krag las den Brief, den Pol gerade geschrieben hatte.
»Das ist ja eine Einladung,« sagte er, »ich danke Ihnen, meine Herren, doch ziehe ich es vor, solche Wirte wie Sie, mit einem unangemeldeten Besuch zu überraschen. Im übrigen durchschaue ich Ihre Absicht, meine Herren, und bin sehr traurig über den Verfall der edlen Gastfreundschaft, denn ich brauche wohl nicht weiter zu erwähnen, was meiner wartete? Vermutlich ein Batonschlag, sobald ich ins Zimmer getreten wäre. Vielleicht noch etwas Schlimmeres. Ich fing wohl an, den Herren etwas beschwerlich zu werden? Sie hatten entdeckt, daß ich Ihnen auf der Spur war und darum galt es, mich unschädlich zu machen. Ich muß gestehen, Sie handeln rasch und rücksichtslos. Als es vor einigen Tagen galt, einen anderen beschwerlichen Mann aus dem Wege zu räumen, nämlich Strantz, den verrückten Professor, da wurde auch er prompt ins Jenseits befördert. Gerade vor unserer Nase, aber so etwas wiederholt sich nicht, meine Herren. Das Ereignis lehrte uns Vorsicht. Sie haben auch andere Sünden auf Ihrem Gewissen, Sie haben eine lange und schlimme Rechnung, die auf ihren Abschluß wartet, wir hatten Ihre Spur aber eine Zeitlang verloren. Im übrigen ist es klug, hin und wieder zu verschwinden. Wie gefiel es Ihnen an Bord des Schoners ›Eddystone‹, Bussi, gut, nicht wahr? Ein andermal aber hinterlassen Sie kein Halstuch in bunten spanischen Farben, das ist ein zu gutes Erkennungszeichen. Und jetzt kommen wir zur Hauptsache. Ja, Sie haben sich auch für die hübsche kleine Affäre in Abbé Montroses Garten zu verantworten.«
»Der verfluchte Priester,« brummte Bussi, »der hat uns alles verdorben.«
»Wo ist er?« fragte Pol.
Bussi antwortete nicht.
»Wonach haben Sie gefragt,« bemerkte Krag.
»Er muß doch wissen, wo der Priester ist,« antwortete Pol.
»Wenn ich das wüßte,« sagte Bussi, »hätte ich ihm schon längst den Hals umgedreht.«
»Eine nette Gesellschaft,« murmelte Krag. »Gut, daß wir sie jetzt dingfest gemacht haben.«
Krag trat ans Fenster und blickte hinaus.
»Sehr richtig,« sagte er wie zu sich selbst, »dies hier ist ein vortrefflicher Raum. Durch die Tür herein, durch das Fenster hinaus, oder umgekehrt. Ich glaube, ich werde die Polizei veranlassen müssen, dieses Hotel zu schließen. Das Morgengewölk ist zu alt und zu dick, um seine Gäste im Zaum zu halten. Es geht nicht an, daß wir solche Verbrecherhöhle mitten in der Stadt haben.«
Krag ging durchs Zimmer und öffnete die Tür.
»Wo bleiben nur unsere Leute,« sagte er.
Der Korridor draußen war leer. Bussi brummte einige undeutliche aber wütende Worte zwischen den Zähnen.
Krag schloß die Tür wieder und lachte.
»Draußen ist kein Mensch,« sagte er, »und unterm Fenster auch nicht. Ich bin nämlich ein vortrefflicher Bauchredner und es ist nicht das erste Mal, daß mein Talent mir aus der Klemme geholfen hat. Man wird sozusagen zahlreicher dadurch, wenn man allein ist.«
Krag blieb vor dem gefesselten Verbrecher stehen und sagte:
»Geben Sie zu, daß das Märchen zu Ende ist, mein lieber H. C. Andersen.« Der Verbrecher zuckte zusammen.
»Ja, Sie sind erkannt,« fuhr Krag in seinem liebenswürdigen Geschwätz fort, indem er Wasser in die Waschkumme goß, um die Spuren des alten Lebemannes abzuwaschen. »Im übrigen hat es ja nichts zu sagen, ob Sie dänischer Abstammung sind. Ich denke mir, daß Ihre Eltern durch diesen Namen die großen Hoffnungen ausdrücken wollten, die sie auf Sie setzten. Sie sollen auch hoch steigen, mein lieber H. C. Andersen, mit dem Beinamen Bussi. Ich verspreche Ihnen, daß Sie hoch steigen sollen. Sie sollen aber auch tief fallen. Wie tief ist der Fall eigentlich? Sechs Fuß, habe ich mir sagen lassen ... Ab, es ist wohltuend, die Maske loszuwerden. Ich liebe es nicht, solch alte verlebte Herren zu spielen, doch war ich dazu gezwungen. Die Mädchen betrachteten mich mit Abscheu, auch Dora. Arme Dora, der jetzt für einige Zeit das Lachen vergangen sein wird. Ich hoffe indessen, daß sie sich als eine verhältnismäßig unschuldige Mitarbeiterin erweist. Ihre unnatürliche Heiterkeit hat etwas recht Ansprechendes. Jetzt höre ich an den schweren Schritten auf der Treppe, daß unsere Leute kommen, Pol. Hiermit übergebe ich Ihnen das Oberkommando. Sorgen Sie dafür, daß unsere Gäste ein gesundes, aber sicheres Logis bekommen, leben Sie wohl, meine Herren, wir sehen uns in einem anderen und größeren Saal wieder.«
... Es war vier Uhr nachts geworden, bevor Krag zum Wachtzimmer der Detektivabteilung zurückkehrte. Er fragte nach Keller.
»Keller ist vor zwei Stunden fortgegangen,« antwortete einer der anwesenden Polizeibeamten, »und ist noch nicht zurückgekehrt.«
»Also zwei Stunden Vorsprung,« sagte Krag.
Der Polizeibeamte stutzte.
»Was meinen Sie damit!« rief er aus.
»Ich meine nur,« antwortete Krag, »daß das Mysterium Montrose nicht mehr existiert, das Rätsel ist gelöst. Kommen Sie, folgen Sie mir zu Arnold Singers Zelle.«