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»Mein lieber Keller,« sagte Krag, »warum erzählen Sie mir das jetzt? Wäre es nicht besser gewesen, Sie hätten damit gewartet, bis Sie seiner habhaft geworden wären? Ich fürchte, daß dieser Mann, ›das Gefängnisgesicht‹ wie Sie ihn nennen, eine wichtige Persönlichkeit ist. Ist er in diesem Augenblick über das Gartengitter gestiegen?«
»Beruhigen Sie sich,« antwortete Keller, indem er bitter auflachte und Krag zurückhielt, der auf dem Weg durch die Tür war, »es ist bereits zu spät, der Kerl ist in der Mayonnaise untergetaucht, ich habe aber Nummer 314 hinter ihm hergeschickt. 314 ist der beste Läufer der ganzen Schutzmannstruppe. Wir wollen hier auf Bescheid von ihm warten. Es hat fast den Anschein, als ob das Gefängnisgesicht besonderes Interesse für Sie hat, Krag. Er hat Sie bereits mehrmals in auffallender Weise im ›Vergoldeten Pfau‹ verfolgt, und jetzt scheint er Ihnen auch hier im Garten nachgespürt zu haben.«
Keller zeigte in den Garten hinaus.
»Als ich durch den südlichen Eingang in den Garten kam,« sagte er, »sah ich ihn dort zwischen den Bäumen stehen und ins Fenster spähen. Ich schlich mich so leise wie möglich heran, und war ihm schließlich so nahe, daß ich sein Gesicht deutlich erkennen konnte.«
Keller machte es sich in einem Stuhl bequem und fuhr fort:
»Ein seltsames Gesicht hatte dieser Mensch. Selten hab ich die Schrecken des Gefängnisses mit allem was sie umfassen, schlechte Luft, einengende Mauern, Einsamkeit und Erniedrigung, deutlicher in dem Gesicht eines Menschen ausgedrückt gesehen. Doch enthielt es auch noch etwas anderes, was zum Vorschein kam, während er stand und hier hereinstarrte, etwas unaussprechlich Rachgieriges, etwas intensiv Feindliches und Raublüsternes; es war so auffallend, daß ich unwillkürlich stutzte und einen Augenblick drauf und dran war, meine Geistesgegenwart zu verlieren. Da aber entdeckte er mich und rannte davon. Mit erstaunlicher, rein affenartiger Behendigkeit schwang er sich über das Gitter und verschwand im Mayonnaise-Viertel. Glücklicherweise war Schutzmann 314 in der Nähe, durch das Gitter gab ich ihm hastig Bescheid, so daß er ihm folgen konnte. Ich wäre auf alle Fälle zu spät gekommen. Jetzt aber ist Aussicht vorhanden, daß wir ihn noch fassen. Können Sie begreifen, weshalb er sich so sehr für Sie interessiert, Krag?«
»Nein. Ich erinnere mich nicht, daß ich je etwas mit ihm zu tun gehabt habe. Aber seine Anwesenheit hier im Garten erscheint mir sonderbar. Wir müssen nähere Erkundigungen über ihn einziehen.«
»Das ist auch meine Meinung,« sagte Keller.
Dr. Wide, der einsah, daß seine Gegenwart hier überflüssig war, zog sich mit einigen höflichen Phrasen zurück.
»Dr. Wide ist Abbé Montroses Freund und juristischer Beirat,« sagte Krag erklärend.
»Ah, ich verstehe,« antwortete Keller, »Sie meinen war?«
»Nein, Abbé Montrose lebt.«
»Beweislich?«
Krag reichte ihm den Brief, den Abbé Montrose an Dr. Wide geschrieben hatte. Keller las ihn genau durch und verharrte lange schweigend.
»Je mehr ich über die Sache nachdenke,« sagte er schließlich, »desto verwickelter wird sie. Und dieser Brief bringt weiß Gott nicht mehr Klarheit. Noch eine andere Mitteilung hab ich heute bekommen, die mich ebenfalls verwirrt. Ich bin hergekommen, um mit Ihnen darüber zu sprechen, Krag. Erinnern Sie sich der Quittung über den ausgezahlten Arbeitslohn, der wir solch große Bedeutung beigemessen haben?«
»Die aus dem Archiv der Polizei gestohlen worden ist?«
»Als ich die Sache heute vormittag näher untersuchen wollte,« fuhr Keller fort, »fand ich zu meinem größten Erstaunen die Quittung im Archiv genau an derselben Stelle, wo wir sie hingelegt hatten. Die Quittung ist demnach überhaupt nicht gestohlen worden, dagegen hat Abbé Montrose zwei gleichartige ausgeschrieben. Hier sehen Sie sie beide.«
Krag nahm die beiden Notizen und verglich sie. Nachdem er eine Weile überlegt hatte, sagte er:
»Wir haben vergessen, daß der Name des verrückten Professors Strantz auch mit S. anfängt, ebenso wie Singer. Beide arbeiteten in Montroses Garten. Es ist anzunehmen, daß sie ihren Wochenlohn am selben Tage bekommen haben. Wie alle Gelehrten, ist wahrscheinlich auch Abbé Montrose ein sehr unpraktischer Mann gewesen, der keine Bücher führte, sondern seine Ausgaben auf lose Papierlappen schrieb. Der verrückte Professor mag durch irgendein Mißverständnis seine Quittung mitgenommen haben, während die Singers in der Bibliothek liegen geblieben ist. Das dünkt mich, ist eine ganz natürliche und einfache Lösung.«
Keller lachte aufgeräumt.
»Ich wünschte, Krag,« sagte er, »daß all die anderen verfluchten Widersprüche in dieser Sache ebenso leicht zu lösen wären.«
»Je verwickelter eine Sache ist,« sagte Krag, »desto einfacher pflegt die Lösung zu sein. Wenn man nur erst den richtigen Faden gefunden hat, geht alles wie geschmiert.«
So saßen die beiden Polizeibeamten eine lange Weile und sprachen miteinander, der eine beklagte sich über die Undurchdringlichkeit der Sache und der andere beklagte sich über die Undurchdringlichkeit der Sache, ihre Art zu sprechen aber verriet, daß ihre Gedanken die ganze Zeit irgendwo anders waren. Während sie sprachen, blickten sie zerstreut aneinander vorbei und ihre Augen schweiften suchend in den Garten hinaus. Hin und wieder fiel eine Bemerkung, die Zeugnis davon ablegte, daß sie beide das Dunkel zu durchdringen versuchten und daß jeder auf seine Weise nach dem Faden suchte, der sie ans Ziel führen konnte. Bisweilen begegneten sie sich in ihren Gedankengängen. Einmal sagte der eine laut:
»Daß er lebt, macht die Sache nicht klarer.«
Der andere antwortete:
»Nein, denn der Brief kann mehrere Tage alt sein.«
Und der erste wiederum:
»Darum kann er doch tot sein.«
Diese anscheinend widersprechenden Worte zeigten, daß ihre Gedanken denselben Punkt umkreisten. Beide dachten: Der Brief kann in einer bestimmten Absicht geschrieben und dem Abbé eventuell vor der Plünderung oder dem Mord abgepreßt sein. Wie dem aber auch war, die Sache blieb in dasselbe Dunkel gehüllt.
Ein heftiger Windstoß führte eine Woge von Wohlgeruch durch die offene Tür. Schließlich sagte Keller und durch seine Stimme klang Mißmut:
»Wissen Sie noch, Krag, gleich nach dem Ereignis standen wir auch hier und starrten in den Garten hinaus. Ich hatte dabei das Gefühl, lieber Krag, daß Sie nach dem Geheimnis ausblickten und erwarteten, daß es zwischen den Bäumen des Gartens plötzlich hervortreten würde. Jetzt sind die Kronen der Bäume mächtiger geworden, hören Sie nur, wie sie im Winde rauschen. Sagen sie Ihnen jetzt mehr? Mir nicht. Und wissen wir mehr als das vorige Mal? Dies und das haben wir erfahren, das Geheimnis aber ist nur noch undurchdringlicher geworden. Ich glaube kaum, daß es Zweck hat, daß wir in diesem Garten und unter diesen Bäumen nach der Lösung suchen.«
Krag antwortete:
»Vielleicht sind wir weiter gekommen als wir glauben, aber wir haben Pech gehabt. Gestern, als wir mit dem verrückten Professor sprachen, standen wir dicht vor der Lösung. Erinnern Sie sich nicht mehr, wie er sagte: Ich weiß, wo alles liegt. Hinter diesen Worten verbirgt sich des Rätsels Lösung. Dann aber trat der Tod zwischen ihn und uns.«
»Der Tod kam, um ihn daran zu hindern zuviel auszuplaudern,« antwortete Krag, »und wenn die Sache erst klar ist, zeigt sie vielleicht ein noch schrecklicheres Gesicht, als wir bisher angenommen haben. Hallo, was ist da?«
Keller erhob sich neugierig. Ein Mann kam durch den Garten angelaufen.