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XXIX. Der Vicomte

Ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, klein an Wuchs, mager, dunkel und elegant, fast geckenhaft gekleidet, betrat das Detektivkontor.

Es war acht Uhr abends.

»Seit gestern abend hab' ich Sie gesucht, mein lieber Vicomte,« sagte Asbjörn Krag, »zum Teufel, wo haben Sie gesteckt?«

Der Vicomte ließ sich auf das harte Polizeisofa sinken, mit einer Miene, als ob er sich auf einen türkischen Diwan niederließe, während er mit Aufbietung seiner ganzen Energie ein Gähnen unterdrückte.

»Ich bin sehr müde,« sagte er.

Krag stellte sich vor ihn hin und blickte mit einem humoristischen Schimmer im Auge auf ihn herab.

»Ich fürchte, daß Sie Ihre Aufgabe zu ernst nehmen,« sagte er. »Wenn Sie so fortfahren, werden Sie es nicht mehr lange treiben können. Gestern nachmittag um sechs Uhr haben Sie Ihr Haus verlassen, und ich nehme an, daß Sie jetzt direkt aus dem Tanzpalast kommen.«

»Im Gegenteil, lieber Freund,« sagte der Vicomte, »ich komme direkt von zu Hause. Ich habe mich heut nachmittag um fünf Uhr schlafen gelegt, Sie können also selbst ausrechnen, daß ich zweieinhalb Stunden geschlafen habe. Ich bin wirklich sehr müde, werde aber bald ganz wach werden, besonders,« fügte er erschreckt hinzu, »wenn ich etwas zu tun bekomme.«

Hier ist es notwendig, einige Bemerkungen darüber einzuschieben, was der Mann, den Krag Vicomte nannte, für eine Aufgabe hatte.

Vielleicht war er Vicomte, vielleicht auch nicht. Auf dem Polizeiamt aber kannte man ihn nur unter diesem Namen. Er zeichnete sich durch Vornehmheit, mehr aber noch durch Leichtsinn aus, die Repräsentationsrechnungen, die er bei der Administration einlieferte, brachten den alten Kassierer zur Verzweiflung. Da er aber ein lustiger und liebenswürdiger Mensch war, mochten alle ihn gern leiden und behandelten ihn halb nachsichtig, halb humoristisch – wie man einen aufgeweckten und kecken Knaben behandelt. Gleichzeitig aber hatte man auch Respekt vor ihm, denn er war nicht nur leichtsinnig, sondern auch mutig und verschlagen. Mehrmals hatte er der Polizei große Dienste geleistet. Man verwandte ihn in solchen Fällen, wo es weniger auf Handfertigkeit, als auf ein geschmeidiges, elegantes Wesen ankam. In den Klubs, wo niemand ahnte, daß er zur Polizei gehörte, ging er wie ein selbstverständlicher Gast aus und ein, er trieb munter mit in dem Strom der Bohemewelt, wo man ihn für einen Bildhauer hielt, und in der Halbwelt war er auf Grund seiner guten Laune und seines flotten Auftretens der Liebling aller. Er hatte viele Namen: Bei der Polizei nannte man ihn den Vicomte, in den Künstlerkreisen wurde er schlecht und recht Pol genannt und dieser Name folgte ihm auch in die Tanzlokale und Nachtkabaretts, in den Klubs ging er unter dem Namen de Blondel. Es klingt paradox, stimmt aber trotzdem mit der Wirklichkeit überein, daß er für die, die ihn nur flüchtig kannten, kein Rätsel war. Im Klub ein junger Edelmann, in Bohemekreisen ein angehender Künstler mit Geld in der Tasche, im Tanzpalast ein junger Lebemann. Für die aber, die ihn näher kannten, war er ein Rätsel. Als heimlicher Polizeibeamter verdiente er gut und bekam reichliche Repräsentationsgelder, und trotzdem wußte man, daß sein Privatleben viel größere Summen verschlang, als seine Arbeit einbringen konnte.

Keller sagte einmal zu ihm:

»Mein lieber Vicomte, warum machen Sie sich solche Ungelegenheiten. Sie könnten doch sorglos von Ihrem eigenen Vermögen leben.«

Darauf antwortete der Vicomte:

»Sie ahnen nicht, wie furchtbar langweilig es ist, sich zu amüsieren.«

Mit einigem Recht konnte man darum annehmen, daß der Vicomte die Beschäftigung bei der Polizei gesucht hatte, um einige Stunden totzuschlagen. Seine besondere Lebensaufgabe schien zu sein, die Langeweile zu bewältigen und dabei hatte er die ganze Skala von Vergnügen und Zeitvertreib bereits durchlaufen, bis er zu dem Resultat gekommen war, daß das Vergnügen selbst ihm eine Quelle zum Lebensüberdruß war. Und darum hatte er andere Sensationen gesucht. Der Begriff Arbeit war ihm eine Zeitlang Sensation gewesen, bis er die äußerste Potenz derselben in der unberechenbaren, nervenaufreizenden Arbeit der Polizei gefunden hatte. Mit diesem Mann nun verhandelte Krag. Der Vicomte saß zusammengesunken in seinem Frühlingsüberzieher und wippte mit seinem blanken Lackstiefel auf und nieder, während er Krags Auseinandersetzungen lauschte. Seine Augen waren halb geschlossen, das Haar klebte ihm feucht an der Stirn; in diesem Augenblick, wo er halb zu schlafen schien, konnte man sehen, daß er trotz seiner Jugend von Lebensüberdruß verheert war.

»Wenn ich Sie recht verstehe,« sagte er, »so soll ich Dora ›Pfau‹ aufsuchen. Hu, ich kenne sie, sie trinkt wie ein Schwamm und kreischt so verflucht.«

»Darein müssen Sie sich finden.«

»Das werde ich auch. Haben Sie übrigens nicht bemerkt, daß alle verbrecherischen Frauen Dora heißen? Warum heißen sie nicht Cäcilia? Ich wage zu behaupten, daß Eltern, die ihr Kind Dora nennen, damit eine furchtbare Verantwortung übernehmen. Wenn ich jemals eine Tochter bekomme, werde ich sie Cäcilia nennen. Damit habe ich getan, was in menschlicher Macht steht, um sie vor der Verbrecherbahn zu retten.

Ich soll also heute abend Dora die Kur machen. Gott, wie wird sie entzückt sein! Erst aber werde ich ins Grand Hotel gehen und mir ein Soupé zu Gemüte führen, Champagner, einen alten Kognak zum Kaffee, einen Whisky oder zwei, um Mut und Kraft zu bekommen. Darauf werde ich zu Dora eilen!«

»Denken Sie nicht ans Geld dabei.«

Pol hob müde die Augen.

»Dazu werde ich wahrscheinlich keine Zeit haben. Dora wird mir genug zu denken geben. Ans Geld pflegt übrigens Dora zu denken.«

»Vergessen Sie aber nicht, daß ihr Freund, der Märchendichter, ein großer und gefährlicher Verbrecher ist, dessen wir habhaft werden müssen. Durch Dora.«

Pol war offenbar bereits in seine Berechnungen vertieft. Halb zu sich selbst sagte er:

»Ich nehme an, daß Hans Christian nicht im Lokal ist. Die wirklichen Freunde der Mädchen pflegen bei den abendlichen Belustigungen nicht zugegen zu sein. Er schwebt im Hintergrund. Hin und wieder hört man seine Stimme im Hause, wie ein drohendes Gemurmel hinter der Wand. Ich stelle mich, als ob ich berauscht wäre, stark berauscht, obgleich es etwas anstrengend ist. Dann mit Dora nach Hause, Champagner nehmen wir mit. Geschlossenes Automobil, nein, besser offenes, bravo. Dann schlafe ich auf dem Sofa ein und Dora befühlt mich versuchsweise. Ich springe auf und schlage einen furchtbaren Lärm, drohende, grobe Männerstimme hinter der Wand. Ich ergebe mich nicht, gieße Dora Champagner über den Kopf, Dora schreit. Die Tür wird aufgerissen und der Märchendichter stürmt herein. Ich spiele die Rolle eines sinnlos Betrunkenen, werde die Treppe hinuntergeworfen und gelange auf die Straße hinaus, wo ich einige Schutzleute über den Haufen zu rennen versuche, die mich verhaften. Ich aber zeige erbittert auf eine falsche Hausnummer, während Dora und ihr Märchendichter hinter der Gardine stehen und sich totlachen. Eine halbe Stunde später werde ich ins Polizeiamt gebracht, wo ich plötzlich nüchtern werde und zu Ihnen sage: Lieber Krag, die Adresse ist Pelikanstraße 32. Versuchsweise.«

Krag klopfte ihm ermunternd die Schulter.

»Recht so,« sagte er, »Sie können Ihre Sache am Schnürchen.«

»A-b-e-r,« murmelte Pol und senkte nachdenklich den Kopf, »es wäre ja auch möglich, daß Dora sich in mich verliebt, das wäre nicht – bravo.«

Plötzlich erhob er sich.

»Jedenfalls werde ich mich kopfüber in die Affäre stürzen. Sagen Sie mir nur auf alle Fälle das eine: Sind Sie in der Nähe?«

»Möglicherweise,« antwortete Krag.

»Hiermit empfehle ich mich.«

Da aber geschah es, daß Keller ins Zimmer gestürzt kam und die unerwartete Mitteilung machte, daß der Gefangene Arnold Singer den Wunsch geäußert habe, ihm ein Bekenntnis abzulegen.


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