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Im Gefängnis erfuhren sie ferner, daß Georges nach abgelaufener Strafzeit, vor ungefähr einem Monat entlassen worden war. Sein Betragen war während der Gefängniszeit nicht exemplarisch gewesen; ein paarmal hatte er Disziplinarstrafen bekommen, das letztemal wegen eines Meutereiversuches. Der Gefängnisprediger gab ihm das Zeugnis, daß er ein ungewöhnlich verschlossener, trotziger und streitbarer Mensch war. Der Aufenthalt im Gefängnis hatte keinen guten Einfluß auf ihn gehabt, schrieb der Prediger und fügte hinzu: »Vielleicht hat der Verlust der Freiheit auf diesen Mann, der von frühester Jugend an volle Freiheit auf allen Meeren der Welt genossen hatte, einen moralisch niederdrückenden Eindruck gehabt –«
Jetzt galt es, Georges' habhaft zu werden, und die Detektive gaben sich der Hoffnung bin, daß man ihn bald finden würde, denn da das Signalement überall ausgegeben war, konnte ein Mann mit solch ausgeprägtem Äußeren sich nicht lange verborgen halten.
Ein merkwürdiger Umstand bei dem letzten Mord war, daß die Detektive sich nicht klar darüber werden konnten, ob es sich um einen direkten Mord oder einen Mord aus Notwehr handelte.
Was hatte Georges außerdem damit bezweckt, als er Krag und Dr. Wide in Abbé Montroses Garten auflauerte?
Gab es irgendeinen Zusammenhang zwischen ihm, der Tragödie Montrose und der Ermordung des armen verrückten Professors? Was stützte die Annahme, daß er an diesen Affären teilhaftig war?
Einer von Strantz' Mördern gehörte zu der Besatzung des Schiffes »Eddystone«. Das Gefängnisgesicht war früher Steuermann an Bord dieses Schiffes gewesen.
Das Gefängnisgesicht war auf dem Korridor im »Vergoldeten Pfau« unmittelbar vor Strantz' Ermordung gesehen worden.
Alle diese Umstände, die sich aneinanderreihten, konnten unmöglich zufällig sein.
Ferner war er vor 314 geflüchtet ... (weil er ein schlechtes Gewissen hatte).
Jetzt kamen indessen die Widersprüche (so schlossen die Detektive). Hat Georges Charlie ermordet, weil er sich von der Polizei hart bedrängt fand und weil Charlie seine Flucht zum Husarenweg hinderte?
Oder – hatte Georges durch Zufall Charlie entdeckt und eine bestimmte Ursache gehabt, ihn niederzuschießen?
Die Detektive neigten letzterer Auffassung zu, obgleich Georges offenbar keinen Versuch gemacht hatte, den Ausgang durch das Haustor mit Gewalt zu erzwingen (das Hoftor war verschlossen, aber nicht verriegelt); er war geradewegs auf das geöffnete Fenster losgegangen. Charlie, der auf dem Sofa lag und las, konnte leicht vom Hof aus gesehen werden.
Hier fügte Asbjörn Krag, während sie darüber hin und her sprachen, folgende allgemeine Betrachtungen hinzu:
»Alles deutet darauf, daß Georges durch eine Reihe von Zufälligkeiten auf den Hof von Arnold Singer gelangt ist. Da er die ganze Zeit vom Schutzmann verfolgt wurde, hat er sich von Straße zu Straße und schließlich von Hinterhof zu Hinterhof geschlichen. Er kannte natürlich die Schleichwege durch das alte Viertel, das die Himmelsgasse vom Husarenweg trennt. Er wußte, daß er durch das Tor von Arnold Singers Haus auf den Husarenweg gelangen konnte. Als er aber auf den Hof kam, erblickte er durch das offene Fenster Charlie, der im Zimmer auf dem Sofa lag. Er vergißt seine eigene gefährliche Lage, vergißt, daß er sich durch das Tor retten kann, er wird von einer plötzlich auftauchenden, alles beherrschenden Idee erfaßt, daß er nämlich den Mann, der dort liegt, ermorden will. Und er führt seine Absicht aus, obgleich er weiß, daß der Schutzmann ihm auf den Fersen folgt. Daß er trotzdem entkommt, hat er dem Zufall, nicht seiner Geschicklichkeit zu danken. Warum hat er diesen Mord verübt?«
Keller, der in den Rapport des Gefängnispredigers und das Protokoll über Fingerabdrücke vertieft war, hatte Krag nur mit halbem Ohr zugehört.
Jetzt blickte er auf.
»Ich habe mir immer vorgestellt,« sagte er, »daß ein Wahnsinniger mit Mordmanie genau auf solche Weise auftritt.«
»Ein Wahnsinniger,« murmelte Krag, »damit würde ja die Annahme, daß Georges an der Tragödie Montrose beteiligt ist, fortfallen. Außerdem ist es ein alter Aberglaube, daß Wahnsinnige mit Mordmanie auf solche Weise auftreten. Wenn es Georges Absicht oder – wenn Sie lieber wollen – sein Instinkt gewesen ist, des Mordes wegen zu töten, dann wäre es wahrscheinlicher gewesen, daß er mit dem Revolver in der Hand dem Schutzmann entgegengetreten wäre, der ihn verfolgte. Nein, ich glaube bestimmt, daß Georges die ganze Zeit bei vollem Verstand gewesen ist. Anfangs ist es nur seine Absicht gewesen, dem Schutzmann zu entkommen; dann aber, als er den Hinterhof von Arnold Singers Haus erreichte, hat er durch das offene Fenster Charlie gesehen – und von einer momentanen Eingebung getrieben, hat er gehandelt.«
»Welche Eingebung?« fragte Keller.
»Die Eingebung, die einen Menschen ergreift, wenn er sieht, daß er endlich am Ziel ist.«
»Meinen Sie, daß Charlie das Ziel war?«
»Charlie zu ermorden war Georges Ziel.«
»Warum hat er ihn dann nicht früher getötet?«
»Weil er ihn früher noch nicht gefunden hatte.«
»Meinen Sie, daß er sich in unserer Nähe herumgeschlichen hat, weil er glaubte, Charlie in unserer Gesellschaft zu finden?«
Darauf antwortete Krag nicht. Er zuckte nur die Achseln – eine Geste, die bedeuten kann, daß man nichts weiß und daß man sehr viel weiß.
»Warum aber mußte Charlie sterben?«
Dieselbe vielsagende oder nichtssagende Geste.
»Es ist sonderbar,« fuhr Keller fort, »während wir uns mit der ursprünglichen Affäre beschäftigen, mit Abbé Montroses rätselhaftem Verschwinden, dringt das eine unerwartete Ereignis nach dem andern auf uns ein. Kaum aber sind die Ereignisse eingetroffen, so zeigt es sich, daß sie allesamt miteinander in Verbindung stehen, daß sie sich ineinander flechten, wie die Blätter in einem Kranz. Was aber mag es zu bedeuten haben, daß wir nichts von dem, was kommen wird, ahnen, und daß Mordtat und Mordtat unerwartet über uns hereinbricht? Das bedeutet nichts anderes, lieber Krag, als daß wir noch vollkommen im Dunkeln tappen. Und in dieser verflucht hoffnungslosen Situation greifen wir in der Verzweiflung nach den sinnlosesten Lösungen. Wissen Sie, was ich in dem Augenblick dachte, als ich die Spuren von den Fingern des Mörders auf Charlies Hemd sah?«
»Sie dachten einen Augenblick,« antwortete Krag, »daß es die Spuren von Abbé Montroses Finger seien.«
»Ja,« gestand Keller und blickte auf. Seine Stimme klang erregt, er konnte kein Wort mehr hervorbringen. Der Gedanke allein ließ sein Blut erstarren.
Kurz darauf sagte er leise:
»Sie lachen.«
Krag wurde wieder ernst. Er fuhr zusammen, als ob er aus tiefen Grübeleien geweckt worden sei.